Читать книгу Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner - Страница 20
Kreuzwege
ОглавлениеHelfer gegen unerwünschte Seelenlasten finden sich an einer »Wegkreuzung« wie in der Sage von Herakles, in der dem in einsamer Gegend Zaudernden zwei Frauen begegnen: Die erste, aufgedonnerte, verspricht Lust und Genuss, tut jedoch auf Befragen kund, dass ihre Freunde sie Glückseligkeit, ihre Feinde hingegen Liederlichkeit nennen; die zweite, die Tugend, will keine Genüsse vorspiegeln, sondern lehrt, dass nichts Gutes ohne Arbeit und Mühe gewährt wird: Wolle man von seinen Freunden geliebt werden, müsse man diesen nützlich werden, wolle man vom Staat geehrt werden, müsse man ihm Dienste leisten; wolle man ernten, so müsse man säen, wolle man seinen Körper in der Gewalt haben, so müsse man ihn abhärten etc.43 Herakles wählt bekanntlich den zweiten Weg und wird nach vielen Herausforderungen der Held, von dem wir heute noch sprechen.
Die Wahl des Lebensweges stellt sich immer und jedem Menschen, auch wenn er sich dessen gar nicht bewusst sein mag, und gipfelt in der Frage: Was für eine Frau – was für ein Mann – will ich sein?
Der mühevolle, unattraktive Weg wäre der der schonungslosen Selbsterforschung: Wer bin ich derzeit, wie bin ich so geworden und wer möchte ich werden? Üblicherweise führt dieser Rückzug auf sich selbst in Exerzitien oder in eine Langzeitpsychoanalyse.
Der verführerische, schöne Weg hingegen verspricht Allmacht gegen die Ohnmachtsgefühle, dass man eben nicht so toll ist, wie man möchte, und nicht den sozialen Erfolg erzielt, von dem man sich Beglückung erwartet. Dieser Weg ist gesäumt von Trainern und Coaches, die je nachdem Techniken zur Erlangung von Durchsetzungsstärke, Finanzerfolg, Liebesglück oder einfach nur Macht versprechen.
»Heute, vor allem nach dem Niedergang sogenannter sozialistischer und kommunistischer Gesellschaften, feiert ›das Menschenrecht des Privateigentums‹ neue Triumphe, der ›egoistische Mensch‹ ist zum Regelfall geworden«, schreibt die Psychologin Ursula Nuber (* 1954). »Doch nun trennt nicht mehr nur der Besitz an Privateigentum den Menschen vom Menschen; von äußerer Herrschaft weitgehend befreit, klagt der moderne Mittelschicht-Mensch sein Recht auf ein ›gutes Leben‹ ein, auf ein Leben, in dem seinen Bedürfnissen erste Priorität eingeräumt wird – und die Bedürfnisse anderer zweitrangig werden. Was früher ein Privileg der oberen Schichten war – ein Wohlstand in Freiheit von äußeren Zwängen – ist nun für eine breite Masse erreichbar. Und das macht die besondere Qualität des modernen Egoismus aus: seine massenhafte Verbreitung (Hervorhebung im Original).«44 Allerdings sehe ich in dieser Vision vom guten Leben auch wiederum einen »äußeren Zwang« – denn die Macht der medialen Vorbilder und die Neidkonkurrenz gegenüber den Nächsten verführt wieder dazu, sein noch unentwickeltes Selbst mit Hab und Gut wie mit Krücken zu stützen. Wer sich selbst nicht mag, wie er oder sie ist, sucht nach Tarnkleidung und leider oft halb- oder illegalen Wegen, sich mehr anzueignen, als der Verdienst der eigenen Hände oder Gedanken finanzieren kann.