Читать книгу Gern hab ich Sie bedient - Rudolf Nährig - Страница 9
Wie man dem Gast auch dann dient, wenn er nicht da ist
ОглавлениеEs war mir nie genug, dem Gast nur vor Ort, also im Restaurant, dienen zu können, ich wollte dieses Dienen auch noch während seiner Abwesenheit zelebrieren. Hierzu habe ich mir einige Tricks und Methoden erdacht. Wenn ich in Erfahrung gebracht hatte, wann der Gast Geburtstag, Hochzeitstag, »Kennenlerntag« oder irgendein anderes Fest feierte, nahm ich diesen Termin zum Anlass, ihm einen Brief mit Grußkarte ins Haus zu schicken. Das war eine gute Möglichkeit, ihm Hotel, Restaurant und mich in Erinnerung zu bringen.
Hierbei waren mir einige kleine Pfiffigkeiten von Nutzen. Wenn der kleine Enkel Geburtstag hatte, war es vorteilig, den Gruß der Großmutter zu schicken. Die Großmutter reicht den Glückwunsch dann an Tochter oder Sohn weiter, über die die Grußpost wiederum an den eigentlichen Jubilar gelangt. Somit habe ich mit einem Schlag drei Fliegen – ich meine Generationen – erwischt und viele Familienmitglieder zugleich mehr oder weniger erfreut. Diese erzählen dann ganz stolz ihren Freunden, dass sie aus dem feinen Hotel Vier Jahreszeiten eine besondere Geburtstagspost bekommen haben. Ein guter Multiplikator. Wir alle wissen, die beste und effektivste Werbung ist die Mundpropaganda: die Werbung, die nichts kostet. (Leider machen im umgekehrten Fall auch Beschwerden und andere nachteilige Meldungen auf diesem Weg nicht minder schnell und effektiv die Runde.)
Die Grüße sollten zwei bis drei Tage vor dem Festtag ankommen, damit der Gast die Möglichkeit hat, sich für den Gruß zu bedanken – zum Beispiel in Form eines Besuches. Natürlich werden meine Karten mit einer richtigen Feder geschrieben: der Gruß mit einer einen dreiviertel Millimeter breiten Feder und das Briefkuvert mit anderthalb Millimeter Federbreite. Die Tinte darf nicht zu dünn sein, sonst franst die Schrift aus. Montblanc ist für Schreibwerkzeug und Zubehör ein guter Hersteller. Auch ein zufälliger Tintenpatzer macht sich auf Briefpapier immer gut. Selbst die Krickelkrakel-Schrift des Federkiels hat etwas anheimelnd Nostalgisches, wie aus vergangener Zeit.
Eine hinreißende Hamburgerin versicherte mir, ich hätte »die schönste Schrift eines Wiener Oberkellners in Hamburg«. Könnte stimmen. Zur Weihnachtszeit schenkte sie mir einen Füllhalter. Gefasst mit aus Silber getriebenen Arabesken. Wunderschön. Er hatte nur einen Nachteil – es fehlte das Innenleben. Er schrieb nicht. Meine Reklamation war erfolgreich. Ich bekam einen anderen Füllhalter. Ebenso schön. Mit Innenleben und benutzbar. Nun liegen die beiden guten und sicherlich sehr wertvollen Schreibgeräte zu Hause auf meinem Schreibtisch brach. Ich schreibe ja doch nur mit Bandzugfeder und Federstiel.
Eine große Hamburger Zeitung berichtete einmal über die Besonderheit der handgeschriebenen Briefe, die nur der Oberkellner des Luxushotels Vier Jahreszeiten schreibe. Jeder Gast, der solch einen Brief erhalte, »sei jemand« in der Stadt. Einige Tage später kam ein Vorstandsmitglied des Zeitungsverlags in den Jahreszeiten-Grill und bedankte sich für den erhaltenen Hochzeitstagsgruß mit dem Zusatz: »Jetzt weiß ich, dass auch ich zur auserwählten, elitären Hamburger Gesellschaft gehöre.«
Bei Hochzeitstagen oder wenn der Geburtstag der Gemahlin ansteht, schreibe ich immer an den Mann, mit der Bitte, seiner charmanten Frau meine besten Glückwünsche zu bestellen. Das ist vornehm! Oder: »Am Soundsovielten haben Sie mit Ihrer hinreißenden Gattin Hochzeitstag. Das will ich nicht vergessen.« In Klammern: »Sie hoffentlich auch nicht.« Oder: »Herr Bergauer, am 27. Mai haben Sie Ihre Frau kennengelernt, dazu meine besten Glückwünsche.« Herr Bergauer schrieb mir postwendend zurück: »Herr Nährig, ich danke für Ihre Glückwünsche, aber Sie irren. Am 27. Mai habe ich meine Frau zum ersten Mal getroffen, kennengelernt habe ich sie bis heute nicht.« Das gibt’s auch.
Die Herren fanden es zumeist amüsant, diese Schreiben zu bekommen, und haben Freunden und Bekannten mit Schmunzeln davon erzählt. Den einen oder anderen habe ich auch wirklich vorm Vergessen des Hochzeitstages oder Ähnlichem bewahrt. Noch einmal: Unbezahlte Werbung ist immer die beste. Dennoch war dieser Reklame-Nebeneffekt meiner Schreiben nie mein vorrangiger Gedanke. Jedes Wort, jeden Satz habe ich immer mit Herz, Freude und ehrlicher Zuwendung geschrieben. Der Großteil der Empfänger hat dies auch gespürt. Einige haben sich sogar schriftlich bedankt. Das hat wiederum mich sehr erfreut.
Meine Trauerbriefe waren besonders innig. Nie habe ich ein Wort geschrieben, das ich nicht auch so meinte. Meine Anteilnahme am Tode des oder der Verstorbenen war und ist immer echt. Ich konnte auch nur dann salbungsvolle Briefe schreiben, wenn ich die Familie schon lange und gut kannte, sie vor allem aber auch mochte. Dann floss all mein Kummer in die Worte. Diese Schreiben wurden von den Hinterbliebenen in aller Regel als sehr trostspendend empfunden. Oft erzählten mir die hinterbliebenen Ehefrauen, die ja gewöhnlich ausdauernder sind als die Männer, dass sie meine Briefe mehrmals gelesen und aus ihnen Beruhigung, Kraft und Trost geschöpft hätten. Und das freut mich. Mein fester Glaube: »Wenn der Herr eine Tür zuschlägt, dann macht er ein Fester auf.« Mehr zu wollen wäre vermessen.
Meine Religiosität spielt bei alledem sicher eine große Rolle. Ich bin mit ganzem Herzen Katholik, und wenn ich eine Woche nicht in der Kirche war, knurrt mir die Seele. Albrecht Goes, ein schwäbischer Theologe, er übrigens Protestant, schrieb einmal in seinen Briefen: »Das Schlimmste wäre für mich, den Glauben zu verlieren. Ich hätte keinen Boden mehr unter den Füßen.« Wie recht hat er!
In den letzten Jahren ging ich am liebsten nachmittags in die Kirche, wenn kaum Besucher da sind. In meine Kirche, den Mariendom in der Danziger Straße. Ich liebe die Stille dort. Eine Stille, die man hören kann. Am Nachmittag ist die Kirche meist leer. Manchmal verirrt sich eine trostsuchende Seele dorthin. Touristen kommen kaum. Dafür ist der Dom als Bauwerk nicht interessant genug. Es gibt zu wenig zu sehen, nicht genug »Sehenswürdiges«. Stattdessen aber eine Menge Unsichtbares. Dieser stille, weihevolle Ort bringt die Seele wieder ins Lot. Konzentriert die Gedanken auf das Wesentliche. Wäscht Seele und Geist wieder rein. Manchmal sah ich auch den einen oder anderen meiner Gäste, zum Beispiel einen Banker, ganz in sich versunken mit gefalteten Händen auf den harten Holzbänken knien. Mein erster Gedanke war unwillkürlich: »Na, was hast du denn wieder angestellt, dass du um Gnade flehst?«
Oftmals sagten Gästen zu mir: »Herr Nährig, Sie wissen von den Leuten so viel und Sie kennen alle.« Meine Antwort: »Möglich, aber das ist nicht immer angenehm für mich.«
All die vielen Geschichten.