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Mutters resolutes Gesicht war verschlossen, und sie arbeitete mit entschieden gerunzelter Stirn. Alfred erkannte diese Züge wieder: Das war seine tüchtige Mutter, ganz von den Dingen in Anspruch genommen, die sie beschäftigten. Doch ihr Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck, den er früher nicht an ihr wahrgenommen hatte. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt, ihre Züge nicht glätten können. Es tat weh, sie so zu sehen. Unvermittelt dachte er an die Zeit vor fast dreißig Jahren. Mutters Leben hatte sich im Kreis bewegt – wie konnte man ihn anders als böse bezeichnen?

So, endlich hatte sie alles beisammen, was der Kunde begehrte. Ein rasches Lächeln folgte ihm ein Stück auf den Weg. Dann erlosch es ebenso rasch, und den Kopf ein wenig geneigt, so als höre sie schlecht und müsse ihr Ohr dem wartenden Kunden zuwenden, blickte sie fragend zu Alfred hinüber.

Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe sie erfaßte, wen sie da sah. Im Nu war sie um den Ladentisch herumgeeilt, die bekümmerten Falten waren einem strahlenden Lächeln gewichen. Sie betrachtete ihn genau, ehe sie die Arme öffnete und ihn fest an ihre Brust drückte: »Oh, Alfred, lieber ...! Wie mager du bist«, konnte sie nicht an sich halten, als ihre Hände fühlten, wie dünn er war.

Auch er spürte, daß sie magerer geworden war, wagte jedoch nicht, etwas zu sagen. Statt dessen flüsterte er in ihr Haar: »Mutter duftet genausogut wie früher – von dem Duft konnte ich nie genug bekommen!«

Zahllose ›daß du wieder hier bist‹ und ›wie schön, Mutter wiederzusehen‹; neue Umarmungen, noch ein Kunde. Letzten Endes saßen sie jeder auf einem Stuhl im Laden und sahen sich aneinander satt. Wie er sie vermißt hatte!

»Warum ziehst du nicht auch hierher«, fragte sie, gleichsam als Antwort auf seinen stummen Aufschrei.

»Damit auch ich von Mutters Gemüse lebe?« entfuhr es ihm.

»Oh, hier gibt es keinen Grund zum Klagen«, entgegnete sie verstimmt. »Ich brauche Arbeit und muß mich bewegen. Und da ich nun Svea helfen konnte, als sie krank geworden war ... Ja, Svea kennst du ja nicht; ihr gehört der Laden. Oh, jetzt kommt wieder ein Kunde! Wir reden heute abend weiter.«

»Heute abend bin ich wieder auf dem Weg nach Petersburg ...«

Sie sah an seiner Miene, daß etwas geschehen war.

»Warte hier – ich bin gleich zurück!«

Dann erfuhr sie also, warum er so überstürzt ›von zu Hause‹ floh.

»Jaa«, seufzte sie, »daß ihr beide nie an einem Strang ziehen könnt! Im übrigen ist es überhaupt nicht schwierig, mit Väterchen auszukommen, weißt du. Und er hat ganze sechstausend, glaube ich, waren es, erhalten, um etwas für die Regierung zu konstruieren – ich erinnere mich nicht genau, was es war ... Also eigentlich ist er wirklich guter Stimmung! Zumindest verglichen mit der letzten Zeit in Petersburg, als alles so schwierig war.«

Andriette verstummte. Alfred sah, daß es ihr nicht länger gelang, die verbindliche und alles überspielende Maske aufrechtzuerhalten. Also unterließ er es, weiter über Immanuels Unverschämtheit zu klagen, und erzählte ihr von den geglückten Versuchen, die er und seine Brüder durchgeführt hatten. Mutter konnte es brauchen, zur Abwechslung etwas Gutes – und Glaubwürdiges – zu hören!

»Ludwig war so aus dem Häuschen über unsere Resultate, daß er seine Reise nach Finnland verschob. Die anderen mußten so lange ohne ihn in die Sommerfrische.«

Andriette lächelte und beglückwünschte ihn. Doch es schien, als glaubte sie ihm nicht ganz. War auch sie von all den gescheiterten Plänen Immanuels gezeichnet und nicht mehr imstande zu hoffen?

Dann wurde ihr Gesicht ernst, und sie legte ihre Hand auf die seine.

»Alfred versuch, dich wieder mit Vater auszusöhnen. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihr zerstritten bleibt! Sprich mit Emil – auf ihn hört Vater, und er ist gescheit genug, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen, wenn er gar zu töricht reagiert hat. Später, wenn die Ergebnisse deinen Erwartungen entsprechen, dann komm her und arbeite mit Vater und Emil an ihrer Verwirklichung! Wir könnten es brauchen, alle – du auch ...«

»Ich kann nicht stillschweigend Vaters ehrenrührige Beschuldigungen hinnehmen«, antwortete er kühl und verfluchte seinen Stolz.

»Das sollst du auch nicht! Immanuel kann ein Hitzkopf sein, aber er ist nicht verbohrt. Bald wird er einsehen, daß er unrecht hat – wenn du ihm nur etwas Zeit läßt. – Aber putze ihn ruhig erst ein wenig herunter. Obwohl – es ist wohl das beste, wenn du mit Emil redest und ihm all deine Ergebnisse zeigst.« »Wie soll ich an Emil herankommen, ehe ich fahre!«

»Habe ich das noch nicht gesagt? Emil kommt her – ja, in ungefähr einer Stunde. Ich habe ihm Mohrrüben versprochen.« »Hat Emil sich Kaninchen angeschafft?«

Mutters junges silbriges Lachen perlte plötzlich auf ihre traurigen Hackfrüchte nieder; ein seltenes und ersehntes Lachen, auch von ihr nunmehr.

»Nein, das Kaninchen ist er selbst! Er ißt die Mohrrüben roh und behauptet, sein Körpermotor sei noch nie so gut gelaufen wie mit diesem Brennstoff.«

»Ein kluger junger Mann!« Alfred lachte ebenfalls aus purer Freude über Mutters Heiterkeit, und er fühlte Sympathie für den Bruder. Zwischen Emil und ihm war ein Altersunterschied von zehn Jahren. Die zehn wichtigsten Jahre waren während Alfreds hektischster Zeit verflogen: Reisen, Arbeit und – wie merkwürdig es auch klingen mochte – Krankheit und hartnäckige Versuche, die Gesundheit zurückzuerlangen. Oder sollte er sagen, Versuche, der Krankheit Widerstand zu leisten? Er fühlte sich wie ein Holländer. Immer bedroht vom Hunger des Meeres nach Land. Solange Mutter noch in Rußland gewesen war, wachte sie über ihn und beeilte sich, die Dämme zu verstärken, sobald sie es ihr notwendig erschien. Heute war es wohl leider so, daß er die Dämme verfallen ließ. Während er sich vor sich selbst herausredete, nicht all das trockene Land zu benötigen, das die anderen für unabdinglich hielten ...

Der kleine und später dann der junge Emil hatte all das besessen, was Alfred gefehlt hatte: gute Gesundheit und viel Humor. Alfred war zuweilen eifersüchtig auf Emil gewesen und hatte das Gefühl, Emil verachte schon frühzeitig das ›Theater‹, das um Alfred gemacht wurde. Darin war er wohl das kindliche Echo des Vaters, der immer eine eiserne Gesundheit besessen hatte und nie begriff, warum andere nicht ebenso gesund waren wie er selbst! Dennoch war die relative Ruhe, zu der Alfred gezwungen war, Emil in seinen frühen Lebensjahren zugute gekommen. Alfred war stets zugegen, wenn Emil etwas fragen wollte. Alfred ›wußte Bescheid‹, wenn Emil zu viel anderes vorgehabt und nicht richtig zugehört hatte, um die Schularbeiten erledigen zu können. Vielleicht hatte Alfred damals dazu beigetragen, daß auch Emil sich besonders für die Chemie interessierte? Die ernste Wissenschaft war in Emils Gesellschaft zum Vergnügen geworden – und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben hatte Alfred ›gespielt‹!

Die vergangenen drei Jahre hatten sie brieflich Kontakt gehalten. Ein sporadischer, aber sachlicher Austausch. Emil war auf ein Problem gestoßen, bei dessen Lösung er Hilfe brauchte. Und Alfred hatte geantwortet, sachlich. Der Emil, den Alfred als Kind und jungen Burschen gekannt hatte, war in einer Umgebung aufgewachsen, die sich von Alfreds eigener Kinderwelt gänzlich unterschied. Während sich Alfred für immer durch die entbehrungsreichen Jahre in Stockholm gezeichnet fühlte, kostete Emil das reiche Leben in Petersburg mit einer Selbstverständlichkeit aus, die Alfred erschreckte und verärgerte. Die älteren Brüder scherten sich nicht um das, was Emil tat, doch Alfred sah es als seine Aufgabe an, Emil ›zu erziehen‹, sobald er dazu Gelegenheit hatte. Emil schalt ihn einen verdrossenen Moralisten! Die beiden verhielten sich zueinander wie eine Kathode zur anderen. Doch konnte Alfred ihm niemals über längere Zeit böse sein. Und Emil hatte bald alle Rüffel vergessen und war eitel Sonnenschein, wenn sie sich wieder begegneten.

Erst jetzt begann Alfred einzusehen, daß die Umstellung von Petersburg nach Heleneborg in Stockholm für Emil furchtbar gewesen sein mußte. Doch hatte er nicht ein Wort darüber in seinen Briefen verloren ...

Der Zwanzigjährige, den Alfred gleich wiedersehen sollte, war ein Fremder für ihn. Ja, eigentlich hatten sie sich lange, bevor die Katastrophe über die Nobels in Rußland hereingebrochen war, aus den Augen verloren. »Sprich mit Emil«, hatte Mutter gesagt, und es hatte wie eine Zauberformel geklungen. Doch – was wußte er über Emils Bereitschaft, Vater wieder ›zur Vernunft zu bringen‹? Emil, der immer als Vaters Goldsohn galt und ihm freiwillig ins Exil gefolgt war ... Denn ein Exil mußte es für Emil ja gewesen sein: geboren und aufgewachsen in dem kosmopolitischen Petersburg und russisch sprechend wie ein Einheimischer.

Höchstwahrscheinlich unterstützte er Immanuel!

Alfred war so in seine Erinnerungen und düsteren Vorahnungen versunken, daß er erst begriff, daß Mutter etwas gefragt hatte, als sie fortfuhr: »Oder wie?«

»Entschuldigung – ich ...«

»Du hast wohl den ganzen Tag nichts zu essen bekommen, denke ich mir – so entkräftet, wie du wirkst. Väterchen ist natürlich nicht auf den Gedanken gekommen, dich danach zu fragen.«

»Ich kann ja eine Mohrrübe essen, zusammen mit Emil. Ich bin kein so großer Esser.«

»Nein. Das bist du nie gewesen. Und jetzt, wo niemand nach dir sieht, ist es sicher schlimmer als je zuvor!«

Er stand auf und blickte die Regale entlang. »Mir liegt die schwere russische Küche ja nicht besonders«, erwiderte er unbestimmt. »Doch, Bohnen«, sagte er, indem er auf einen Sack wies, »Bohnen sind schnell zubereitet und reichen ein paar Tage. Und kürzlich habe ich einen großen Stör aus der Newa heraufgesprengt. Den habe ich nicht einmal aufessen können, ehe ich hierherfuhr.«

»Einen Stör!« Es war zu hören, daß Mutter ihm nicht glaubte. »Nun ja«, fuhr sie fort, »nicht einmal ich war ein besonderer Freund der ›schweren russischen Küche‹, wie du sie nennst. Doch mir fehlt der Borschtsch und die saure Sahne! Ich habe versucht, sie hier zu Hause nachzumachen, aber es wird nichts richtiges daraus ...«

Er bemerkte, daß sie vor ›zu Hause‹ gezögert hatte. Was war zu Hause für den, der sechzehn Jahre lang ein großes Haus in Petersburg geführt hatte! Er war nahe daran, eine Frage zu stellen, die er, soviel begriff er, nicht stellen durfte, als die Türglocke anschlug und ein junger, schlanker Mann eintrat.

Emil blieb direkt an der Tür stehen und schaute Alfred an. Und Alfred fand Gefallen an dem, was seine Augen sahen: ein Gesicht mit scharfem, wachem und dennoch freundlichem Blick – der Mund, oft mehr mit dem eines Mädchens verglichen, hatte noch immer seine typische Zeichnung, war jedoch bestimmter geworden. Seine jungen Züge versuchte Emil durch einen Backenbart älter wirken zu lassen, der bis zum Kinn hinabreichte, die Kinnspitze aber frei ließ.

Dann verzog sich der Mund zu dem gewinnenden Emilschen Lächeln. Rasch war er zu Mutter getreten und küßte sie auf die Wangen, während er eine Hand zu Alfred hinüberstreckte. Sogleich umarmten die Brüder einander; Alfred war bei zärtlichen Gesten stets verlegen, doch dieses Mal umarmte auch er den Bruder und freute sich über dessen sichtbare Zeichen der Freude.

Emil machte sich los, doch ließ er die Hände an Alfreds Taille liegen.

»Mutter hat sicher schon gesagt, daß du vom Fleisch gefallen bist und nicht ordentlich zu essen scheinst, also das erspare ich mir!«

Alfred verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Emils offensichtliche Wiedersehensfreude brachte ihn auf eine Idee:

»Hej, Lime!« sagte er.

»Hej, Derfla!«

Es war sicher zehn Jahre her, daß sie sich mit diesen ›umgekehrten‹ Vornamen begrüßt hatten – und mit einemmal verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen um diese zehn Jahre. Und jetzt fühlte Alfred auch, daß er ›mit Emil würde reden können‹!

Emil rückwärts gelesen wurde entweder zu einem englischen Wort und konnte Vogelleim, Kalk oder Linde oder auch eine Art Zitrone bedeuten – ganz nach Wunsch und Bedarf. Oder es wurde französisch zu einer Feile. War Alfred in Stimmung, den zärtlichen Beschützer hervorzukehren, machte er eine Art Diminutiv aus dem erfundenen Namen und nannte Emil ›Limaille‹ – Feilspan.

»Alfred, rückwärts gelesen, klingt wie ein Asengott, den es nicht gibt«, scherzte Emil. Und Alfred dachte an Ve und Höner und begriff, daß derjenige, dessen Name nichts bedeutete, wirklich dümmer sein mußte als seine Brüder! Als Emil deutsch zu lernen begann, kam er darauf, daß Alfred ›Der Fla‹ heißen konnte – was es zwar auch nicht gab, doch was man eventuell als Kurzform von ›flau‹ durchgehen lassen konnte, was schwach, matt, schlapp, träge bedeutete. Eine Auslegung, die Alfred jedoch gar zu böswillig fand, und deshalb blieb es bei Derfla ohne Bedeutung.

Während die Brüder einander wieder näher gekommen waren, hatte Andriette in dem Gelaß hinter dem Laden eine kleine Mahlzeit für sie zurechtgezaubert. Oh, so etwas konnten nur Mütter! Sie stürzten sich wie ausgehungerte Wölfe auf die Leckerbissen und priesen sie in allen Tonarten. Kalte Hähnchenkeulen ...!

Alfred nagte verwundert an seiner Keule: Hier redeten sie mit vollem Mund über alles zwischen Himmel und Erde, als wären sie immer zusammen und stets die vertrautesten Freunde gewesen. Keine Erinnerungen an Rivalitäten um Vaters oder Mutters Gunst verdunkelten den Himmel. Petersburg lag plötzlich unendlich fern. Und Emil und er waren Gleichaltrige.

Dann betraten Kunden den Laden, und schließlich mußte Alfred vom Berg Tabor herabsteigen und von seiner mißglückten Mission bei Vater Immanuel berichten.

»Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagte Emil. »Und was für ein Glück, daß ich zuerst zu Mutter gekommen bin, statt vergebens den langen Weg nach Heleneborg zu stiefeln! Ich war gestern das letzte Mal dort und habe da deinen Brief mit den neuesten Resultaten gelesen. Ich gratuliere dir herzlich! Das sieht doch wie ein Durchbruch aus nach all den vergeblichen Jahren.«

»Danke Emil – das wärmt das Herz!«

Emil hob abwehrend die Hand. »Ich bin ja ein Novize im Vergleich zu dir. Doch wenn du gestattest, habe ich da eine Idee, wie der Nitrierungsprozeß verbessert werden und vor allem effektiver gemacht werden könnte. Es wäre mir deshalb eine Ehre und ein Vergnügen, wenn ich mit dir zusammenarbeiten dürfte.«

»Noch hast du doch ein paar Jahre auf der Hochschule ...?«

»Ja, doch die Sommer über habe ich frei – und dann sind da ja noch die Sonntage und die Nächte! Außerdem gibt es in Heleneborg ein geeignetes Hofgebäude, das wir als Laboratorium mieten könnten. Vaters Schuppen reicht ja auf die Dauer nicht aus.«

Alfreds Miene verfinsterte sich.

»So, wie es jetzt steht, kann ich mit Vater nicht zusammenarbeiten, ich hoffe, du verstehst das!«

»Ich denke, ich kann ihm klarmachen, daß er unrecht hat, Alfred. Laß mir nur ein wenig Zeit! Ich glaube, Vater ist in erster Linie enttäuscht, daß ihm deine Lösung nicht selbst eingefallen ist, die ja so selbstverständlich erscheint mit dem Fazit in der Hand. Im Moment verschließt er die Augen davor, da er nach einem ganz anderen Prinzip als du arbeitet und eigensinnig hofft, daß seine Mischung zu einem günstigeren Resultat führen könnte, trotz aller früheren Rückschläge. Vater ist halsstarrig, das ist wahr, doch sucht er verzweifelt nach einem Halt – und ist es so verwunderlich, daß er nach all seinen Mißerfolgen ein bißchen durchgedreht ist?«

»Nein, aber ...«, murmelte Alfred und legte die Hand auf einen Riß im Rock; daß Mutter ihn noch nicht bemerkt hatte? Andriette hatte mit halbem Ohr zugehört, und ab und zu hatte sie in den Laden gehen müssen, um Kunden zu bedienen. Ein Wort, das die Söhne genannt hatten, war ›Nitrierungsprozeß‹.

Ihr Weg an der Seite Immanuels war von Konkursen, Akkorden und Prozessen begleitet gewesen. Gott weiß, wie das alles hieß, aber aufreibend und kostspielig war es gewesen. Mitunter hatte es alles gekostet, was sie besessen hatten.

Als sie so an ihrem Ladentisch stand, ging ihr das schreckliche Wort Prozeß nicht mehr aus dem Kopf. Wie die große Glocke von St.Katarina bei den ewigen Begräbnissen. War Alfred etwa dort in Petersburg in irgendeinen Rechtsstreit verwickelt? Hatte er vielleicht nichts gesagt, weil er sie nicht beunruhigen wollte? Und murmelten Emil und er deshalb so gedämpft von diesem Prozeß?

Die Unruhe brachte sie so durcheinander, daß sie weit überhöhte Preise nannte. Ein Glück, daß der Kunde reagiert und gefragt hatte, weshalb plötzlich alles doppelt so teuer sei! Unter tausend beschämten Entschuldigungen gab sie das Geld zurück und dachte zugleich: Noch einmal will ich nicht ein unwissendes Frauenzimmer bleiben, während die Männer brummeln und zischeln, so als gingen ihre Prozesse mich nichts an! Und noch hatte sie es nicht erlebt, daß einer ihrer Angehörigen einen einzigen dieser verdammten Prozesse gewonnen hätte ...

Sobald sie konnte, eilte sie zu Alfred und Emil hinein. Holte tief Luft und sagte so bestimmt, wie sie vermochte: »Jetzt müßt ihr mir erzählen, worum es bei diesem Prozeß geht!«

Sie schauten erst sie, dann einander verständnislos an, bis Andriette die Gesprächsfetzen, die sie aufgeschnappt hatte, zusammenfügte. Das Lachen, das hätte befreiend sein müssen, gab ihr das Gefühl, einfältig und dumm zu sein.

»Ach so, ›der Nitrierungsprozeß‹! Mutter, damit meinen wir einfach die Methode für die Herstellung von Nitroglyzerin. Wir geben Glyzerin zu einer Mischung von Schwefelsäure und Salpetersäure, aber es gibt viele Probleme mit ...«

Da war Andriette bereits zurück in den Laden geflohen.

Das Lachen war verstummt, doch dauerte es ein Weilchen, bis die Brüder wieder zum Thema ihres ernsten Gespräches zurückfanden.

Emil legte seine Hand auf Alfreds Hand. »Selbstverständlich sollst du an Vater schreiben und ihn wissen lassen, was du denkst. Ich bin überzeugt, er wird dir recht geben und seine unüberlegten Worte bedauern. Ich glaube, ich kann ganz gut mit ihm umgehen – und er ist ja nicht dumm, was man auch sonst über ihn sagen mag! Erreichen wir, daß wir hier in Stockholm zusammenarbeiten können, ist er ja auch nicht nur eine Last: Du weißt besser als ich, was für eine konstruktive Phantasie er besitzt. Wenn er nur gute Mitarbeiter hat. Doch ich muß, Gott sei’s geklagt, zugeben, daß ich nicht gerade Zeit hatte, mich mit seinen Projekten zu beschäftigen – und auch nicht immer das Geniale daran erfaßt habe ...

Der Dynamitkönig Alfred Nobel

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