Читать книгу Der Dynamitkönig Alfred Nobel - Rune Pär Olofsson - Страница 6
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Оглавление»Mama, wir sind doch nicht arm?«
Die Brüder hatten ihn mit leichtem Spott erinnert, daß er, kaum ein bißchen zu Verstand gekommen, ständig dieselbe Frage gestellt hatte.
Er entsann sich nicht, was Mutter geantwortet hatte, vermutlich hatte sie ihn beruhigt: Nein, arm waren sie nicht! Und sicher, er hatte ein Dach über dem Kopf und bekam jeden Tag satt zu essen. Das war mehr, als manch anderes Kind in Stockholm besaß. Er wußte noch, wie er sich mit einem flauen Gefühl im Bauch und scheinbar nichts sehendem Blick an die Hauswand gedrückt hatte, wenn das zerlumpte Wolfsrudel der Bettelkinder die Norrlandsgatan entlangzog. Einige barfuß – obwohl das in dem Morast auf dem Kopfsteinpflaster kaum zu sehen war. In dem Abfall, dem jahrealten Laub und dem Pferdemist versanken die Kinder bis weit über die Knöchel. Bei diesen Begegnungen fühlte er Erleichterung über seine armselige Kleidung. Ein schneller Blick sagte den jagenden Wolfsjungen, daß es sich kaum lohnen würde, ihm die Fetzen herunterzureißen.
Pferdemist? Vielleicht trog ihn die Erinnerung. Er hatte gesehen, wie seine eigene Mutter die noch dampfenden Kugeln geborgen und in eine alte Zeitung gepackt hatte – sie schien immer ein zerlesenes Wochenblatt bei sich zu haben, wenn sie unterwegs war. Alfred schämte sich, doch Mutter sah froh aus, als hätte sie einen Schatz gefunden.
»Darüber werden sich die Blumen freuen!«
Als er später hörte, wozu Pferdemist sonst noch verwendet werden konnte, hielt er seine Mutter für habgierig – sie, die doch nicht ›arm‹ war. Denn es wurde behauptet, die Allerärmsten, die in den Winternächten nicht wußten, wohin, sammelten diesen Pferdedung, um sich damit zuzudecken.
»Mutter, sind wir arm?«
Aus dem abgebrannten Haus im Viertel der Tabakspinner hatte die Familie Nobel in eine kleine Wohnung in der Norrlandsgatan ziehen müssen. Zuerst nach Nummer neun, doch an die Zeit hatte er keine Erinnerung! Vielleicht war er selbst nie dort gewesen. Um so besser erinnerte er sich an die dunkle Wohnung im Hinterhaus der Norrlandsgatan elf. Von den Großeltern hatte die mittellose Familie das Notwendigste an Möbeln und Hausrat ausleihen dürfen. Großvater Ahlsell war Kämmerer und galt als wohlhabend. Immanuel lieh so viel Geld, wie er nur konnte, vom Schwiegervater und den Brüdern der Frau – Alfred wußte, daß der Vater noch vor wenigen Jahren Schulden bei der Familie hatte. Dennoch konnten diese kleinen Anleihen sein Geschäft nicht retten. Schon ehe Alfred geboren wurde, hatte der Vater Konkurs anmelden müssen.
Zu Alfreds frühesten Erinnerungen zählten fordernde Stimmen in der Diele. Stimmen, die immer lauter und drohender wurden, und als obligato zu diesen grollenden Bässen war Immanuels demütiges Bitten zu hören. Vater malte glänzende Gebilde aus Hoffnungen und Versprechungen: Eine Erfindung war aussichtsreich, ein angemeldetes Patent würde hundert – ja tausendfachen Ertrag bringen, wenn nur ...
Der aufgeregte Diskant sank in dem Meer der Geräusche: »Ich habe nur gerade jetzt kein Geld ...«
Eines Tages, als Alfred vier Jahre alt war, verschwand Immanuel. Die Mutter überbrachte Grüße von ihm, ehe sie zu dem Milchladen eilte, in dem sie arbeitete: »Vater ist nach Finnland gefahren. Er hat dort ein besseres Auskommen.«
Er wußte weder, wo Finnland lag, noch, was ›Auskommen‹ bedeutete. ›Besser‹ war ein Wort, das gut roch. Wie die Pfefferkuchen zu Weihnachten bei Großmutter. Aber, warum hatte der Vater keine Zeit gehabt, ihn zu umarmen und adieu zu sagen?
Nicht lange danach fühlte er sich erleichtert, daß Vater in Finnland war. Zwar sehnte er sich nach Immanuels starken Armen, und es war auch immer aufregend gewesen, ihn von seinen Abenteuern auf See erzählen zu hören, davon, wie er mit knapper Not vor dem Ertrinken im Atlantik oder vor dem Verkauf als Sklave an den König des Glücklichen Arabien errettet worden war – wo er im Harem der Königin als Eunuch hatte dienen sollen. Vater war ein fröhlich prustender, stämmiger Kerl – wenn er guter Stimmung war. Doch in jenen Jahren war er das immer seltener. Oder immer kürzere Zeit. Jäh kochte sein hitziges Gemüt über und schäumte siedendheiß über alles und alle hinweg: Die Brandblasen schmerzten noch lange.
Nicht immer half es, sich in Mamas Röcken zu verstecken. Nicht immer auch waren ihre Röcke in der Nähe. Mutter arbeitete im Geschäft, und Vater war tagsüber oft zu Hause. Warum, konnte Alfred schwer begreifen; andere Väter waren selten oder nie zu Hause, außer wenn sie schliefen.
Als er erwachsen war, verstand Alfred natürlich, warum der Vater oft so launenhaft gewesen war. Immanuel Nobel zu heißen konnte nicht immer leicht gewesen sein: verschuldet über beide Ohren und praktisch ohne Arbeit. Zwar hatte er auch in der Norrlandsgatan elf ›gearbeitet‹! In der Küche experimentiert, zur stillen Verzweiflung Andriettes. Hatte Patentgesuche geschrieben, schöne, kolorierte Modelle gezeichnet, Aquarelle mit unendlicher Sorgfalt gemalt, damit das Patentamt und die Herren der Regierung wirklich richtig verstehen konnten, wie er sich das Ganze gedacht hatte und wie genial seine Ideen waren. So! Endlich war er mit dem Resultat zufrieden! Er zeigte und erklärte es allen, die gerade anwesend waren, auch Alfred, der nichts begriff. Ließ seine Zeichnungen, Berechnungen und Entwürfe zu Boden fallen und schwenkte den Kleinen durch die Luft. Das Lachen dröhnte in den Ohren und kitzelte im Bauch: Vater war guter Laune! Wenn er doch aber aufhören wollte, Alfred in so schwindelnde Höhen emporzuwirbeln – es konnte ja noch ein Unglück geschehen!
Das Patentamt und die Herren der Regierung begriffen vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls stimmten ihre Gedanken nicht mit den ökonomischen Bedürfnissen und der wechselnden Gemütslage Immanuels überein. Schweden war außerdem ein armes Land und konnte sich eine so teure Erfindung wie die von Immanuel Nobel nicht leisten, jedenfalls jetzt noch nicht.
Also zog Immanuel es vor, nach dem reichen Finnland auszuwandern. Wenigstens verstand Alfred es so; wenn es jemandem besser gehen sollte, mußte das doch in einem Land sein, in dem die Leute nachts nicht unter Pferdedung zu kriechen brauchten.
Ein, zwei Jahre später wußte Alfred, daß der Vater in Rußland und an einem Ort weilte, der Petersburg hieß. Dort würde es ihm noch besser gehen als in Finnland!
Im Augenblick war es jedenfalls schön, daß er nicht mehr in der Norrlandsgatan elf wohnte – es war ruhiger so. Auch wenn es etwas langweiliger und einsamer geworden war. Robert, der ja vier Jahre älter als Alfred war, verschwand seit langem zur Schule. Ein paar Jahre darauf verschwand auch Ludwig dorthin. Sie kamen nach Schulschluß zwar wieder nach Hause, doch oft gingen sie auch zur Großmutter, wo sie eine ordentliche Mahlzeit bekamen. Alfred war also meist allein zu Hause, und ihm gefiel das immer besser so. Einige wenige Male durfte er die Mutter ins Geschäft begleiten, in dem sie arbeitete. Doch fand er es dort sehr langweilig, besonders weil er nicht nach Hause gehen konnte, wann er wollte – Mutter mochte es nicht, wenn er allein draußen auf der Straße war. Manchmal ging auch er zur Großmutter, aber dort fehlten ihm seine eigenen ›Werkzeuge‹ – er nannte sie nie Spielsachen – und schon bald sehnte er sich zu ihnen nach Hause zurück. Viele der Werkzeuge gehörten dem Vater, er hatte sie zurückgelassen. Bei Großmutter gab es kein Werkzeug. Nur Essen in gewaltigen Mengen, das, so fand sie, er, der arme magere Junge, brauchte, um etwas kräftiger zu werden. Und er aß brav alles auf und bekam Bauchschmerzen von der ungewohnt schweren Kost – ohne daß der Berg, den Großmutter ihm auflud, in seiner erschreckenden Masse abzunehmen schien.
Er konnte sich nicht an einen Teddy in seinem Vaterhaus erinnern. Doch Bären sollte er begegnen, lange Zeit nachdem Immanuel weggefahren war, um es einmal besser zu haben. Sie kamen in der Dämmerung, wenn Mutter zu Hause war, und fragten nach der Adresse ihres Gatten. Zuweilen warfen sie Alfred, der draußen auf der Vortreppe saß, eine Grobheit über den Vater an den Kopf, nachdem sie herausgefunden hatten, daß Immanuel wirklich nicht zu Hause, ja nicht einmal mehr im Lande war. Böse Worte, deren Absicht Alfred verstand, deren Inhalt jedoch erst Jahre später.
Ja, er mußte erst sieben Jahre alt und Schüler der Apologetenschule der Jakobsgemeinde werden, ehe er die volle, schwere Bedeutung des Wortes Konkurs erfaßte. Erst dann begriff er auch, daß sein Vater nicht einfach nach Finnland gefahren war: Er war heimlich vor seinen Bären geflohen.
Seine Schulkameraden waren es, die ihn in diese dunklen und schrecklichen Dinge einweihten. Konkurs roch wie Schwindsucht; er hielt den Atem an, wenn er das Wort hörte oder es nur dachte – er steckte sich sonst womöglich an. Die ›Apologetenschule‹ war etwas, wohin, soviel er wußte, nur er selbst ging. Schwer auszusprechen und noch schwerer zu verstehen. Und sein ganzes Leben lang sollte sich ihm der Magen verkrampfen bei diesem furchteinflößenden Wort. Zweiundachtzig Jungen waren sie in der Klasse, und achtzig von ihnen fürchtete er. Nicht daß sie ihn geschlagen hätten – er hatte zwei ältere Brüder an der Schule, und das war Sicherheit genug. Doch fürchtete er sich vor dem, was sie über Vater wissen konnten oder zu wissen vorgaben, der Konkurs gemacht hatte und außer Landes gegangen war. Sonst hätte man ihn in das Schuldgefängnis gesteckt!
Alfred wagte es nie, die Mutter nach diesem Schuldgefängnis zu fragen. Nicht weil er Angst hatte, sie könne böse werden, das wurde sie niemals. Sondern, damit sie ihn nicht belügen mußte – oder, noch schlimmer, damit sie nicht die Wahrheit zu sagen brauchte.
Auf verschlungenen Wegen fand er heraus, daß seine Schulkameraden nicht gelogen hatten: Immanuels Gläubiger hatten ihm tatsächlich mit dem Schuldgefängnis gedroht. Was das war, wußte in Stockholm jedes Kind – von den 85 000 Einwohnern der Stadt waren 13 000 auf die Armenpflege angewiesen. Er hatte diese Angaben selbst in Stockholms Dagblad bei Großvater und Großmutter zu Hause gelesen und rechnete sich aus, daß es mehr als elf Prozent Arme gab.
Da half das Wissen nicht viel, daß selbst Bellman im Schuldgefängnis gesessen hatte ...
»Mama, wir sind doch nicht arm?«
Als die schweren Worte einen Sinn bekamen, konnte Mutter durchaus versichern, daß sie wirklich nicht arm seien. Jetzt nicht mehr! Also sind sie es gewesen? Nun ja, doch vom Vater in Petersburg kamen immer aufmunterndere Berichte. Es ging ihm immer besser dort in Rußland. Er verdiente viel Geld, und der Zar schätzte ihn als seinen Freund. Bald würden sie alle zu ihm fahren und bei ihm bleiben können – sie würden wieder eine richtige Familie werden!
Alfred versuchte nie, sich mit den neuen Erfolgsnachrichten vom Vater gegen den ständigen Klatsch zur Wehr zu setzen. Er traute ihnen ganz einfach nicht. Bestimmt waren sie arm, wenn ihr Vater hatte fliehen müssen, um nicht im Schuldgefängnis zu landen! Und wenn er jetzt so viel Geld verdiente, wie er behauptete: Warum mußte Mutter sich dann noch immer in ihrem kleinen Geschäft plagen und sich mit dem so viel Mühe machenden Gemüse und der schweren Milch abschleppen? Und warum wurde jedes Kleidungsstück stets aufs neue gewendet, erst die Innenseite nach außen und dann wieder andersherum? Warum mußte er Robert helfen, auf der Straße Zündhölzer zu verkaufen? Warum wohnten sie in einer engen Behausung auf dem Hinterhof, während ihre Verwandten in großen Wohnungen zur Straße hinaus lebten und ein Sommerhaus auf Dalarö besaßen?
Alfred haßte die Schule, doch das Lernen liebte er. Im ersten Schuljahr zog er sich ganz in sich zurück und gab sich selbst das Versprechen, so fleißig und gelehrig zu sein, daß er nie arm zu sein brauchte – soweit das von ihm abhing. Nach seinem ersten Zeugnis zu urteilen, sah es vielversprechend aus. Für die Auffassungsgabe erhielt er die Note A – nur noch zwei andere in der Klasse hatten eine so hohe Note. Ebenso gute Zensuren erhielt er für Fleiß und Betragen – obwohl die Betragenszensur im nächsten Halbjahr auf B hinunterrutschte (das lag an dem einen Mal, dem einzigen, da er seinen Vater in Schutz genommen hatte).
In einer Schule gab es viele wunderbare Dinge. Solche wie die Weltkarte. Darauf konnte er St. Petersburg ausfindig machen. Dort entdeckte er auch, daß Vater die ganze Zeit über in Rußland gewesen war, obwohl man zuerst gesagt hatte, er sei in Finnland – doch war dieses Land ja einfach ein Teil Rußlands! Tatsächlich gab es auch einige Schulkameraden, die er mochte und die ihn niemals hänselten, weil er arm war. Sie würde er nie vergessen, obwohl er nur ein einziges Jahr mit ihnen in der Schule war. Lange Zeit später traf er sie wieder, und er wußte da, daß man sich auf sie verlassen konnte.
Andriette ... Alfred hatte Mutter immer geliebt. Das taten seine Brüder auch, und alles andere wäre verwunderlich gewesen, so klug, tüchtig und schlagfertig wie sie war. Mutter hatte sich als Puffer zwischen Vater und sie gestellt, und ihre besondere Sorge hatte wohl Alfred gegolten, solange er der Kleinste war. Doch auch nach Emils Geburt, der doch zehn Jahre jünger war als Alfred, schien ihm, er wäre Andriettes Liebling. Das fanden seine älteren Brüder übrigens auch – und das war weniger angenehm! Obwohl er der Meinung war, sie seien ungerecht und hätten sich jedenfalls über nichts zu beklagen. Er selbst fand jetzt auch zuweilen, daß Emil Immanuels Liebling war, und darin stimmten die anderen Brüder mit ihm überein.
Nun ja, das war es ja eigentlich nicht, was ihn jetzt beschäftigte: Eher waren es die Gründe, warum er seine Mutter liebte und verehrte. Und diese Gründe wurden immer deutlicher, je älter er wurde und je mehr er von ihrem einsamen Stockholmer Leben verstand, als Vater auf der Flucht vor dem Schuldgefängnis war. Auch schon, als er noch ganz klein war, kam ihm beim Spielen mit seinen Cousins und anderen Kindern sogenannter besserer Leute der Gedanke, daß seine Mutter etwas Ungewöhnliches tat – ungewöhnlich, außer für Arme und Arbeiterfrauen. Mutter mußte die ganze Woche aus dem Haus gehen, um Mann und Kinder zu versorgen!
Am Tonfall der anderen Kinder hörte er, daß sie seine Mutter dafür ein wenig verachteten. Eigenartigerweise war er selbst nie in diese Falle getappt. Falls er nun nicht im Nachhinein seine Erinnerungen verschönte und sich edleren Sinnes darstellte, als er gewesen war.
Nein, er glaubte sich nicht falsch zu erinnern. Anfangs hatte Mutter in demselben Haus gearbeitet, in dem sie wohnten, in der Filiale der Molkereigesellschaft Audumbla. Schon sehr zeitig hatte er gewußt, was auf dem Schild über dem Laden stand. Audumbla wurde zur Zauberformel, die man murmeln und flüstern konnte. Audumbla bedeutete: Ich sehne mich danach, daß Mutter nach Hause kommt. Und vor allem wurde Audumbla zum Symbolwort, nachdem Mutter den Kindern erklärt hatte, was es mit dem merkwürdigen Namen auf sich hatte.
Audumbla – oder Audhumla – war die Urkuh in der nordischen Göttersage. Als das Eis von Niflheim schmolz, entstand daraus eine gewaltige Kuh. Ihr Bauch erhob sich über die Hügel und Berge wie ein riesengroßes Federbett oder eine runde Haufenwolke. Ihre Beine wurden zu Säulen in den vier Ecken des Weltraums. Aus dem Euter dieser gewaltigen Kuh strömten vier Flüsse voller Milch – und die Milch nährte den Riesen Ymir.
Wenn Audumbla selbst Nahrung benötigte, leckte sie an den Eiskontinenten rundumher, und sie bemerkte, daß sie salzig schmeckten, und das gefiel ihr. Zugleich brachte die Kuh durch ihr Lecken etwas zutage – ja, was war das nur?
Gegen Abend des ersten Tages hatte ihre Zunge das Haar eines Mannes freigelegt. Den ganzen nächsten Tag schnüffelte und schleckte sie, bis der Kopf des Mannes erschien. Am dritten Tag hatte sie die ganze Männergestalt freigeleckt.
Die Götter nannten ihn Buri: Sie betrachteten ihn als ihren Stammvater, herrlich anzusehen und groß und mächtig.
Zu gegebener Zeit bekam Buri einen Sohn, den er Bör nannte. Bör nahm Bestla zur Frau, die Tochter des Riesen Böltorn. Bör und Bestla bekamen drei Söhne: Odin, Vili und Ve. Manche Vorväter der Riesen und Götter waren böse auf Grund des Giftes, das aus Niflheim heraufgedrungen war. Andere waren gut.
Buri war gut.
Alfred schwankte lange zwischen Audumbla und Bestla: Welche von ihnen stellte seine Mutter dar? Audumbla, Andriette, Alfred – alle drei Namen begannen mit A, also lag das am nächsten, und es war auch am verlockendsten. Zugleich war er selbst einer von drei Brüdern, und Odin, Vili und Ve hatten aus dem Körper des toten Riesen Ymir das ganze Universum gebaut und die Welt errichtet. Sie erschufen Neues, erfanden Dinge – genau wie Immanuel es tat und wie Alfred es sich erträumte vor all den Werkzeugen, Winkelhaken und Winkelmessern des Vaters. Roberts Namen enthielt einen der Vokale von Odin, doch dann wurde es schon schwieriger ...
Anfangs verkörperte das Schild der Audumbla – Gesellschaft allein Mutter Andriette. Die Milch, die Nahrung, die schnuppernde und schleckende Fürsorge. Manchmal zog er die Schultern hoch vor Schreck, wenn ihr Mund und ihre Zunge seinem Haaransatz allzu nahe kamen: Was für ein Ungeheuer konnte sie wohl aus ihm herausschnüffeln! War es Buri, mochte es ja noch angehen – Buri war gut ...
Später machte er aus Audumbla und Bestla eine Figur und ließ diese Doppelmutter zu Odins, Vilis und Ves Mutter werden. Das war wohl zu der Zeit, als er die Fortsetzung der Göttersage hörte und dahinterkam, daß Ve auch Hoenir genannt wurde. Ve war ein schrecklicher und schöner Name, und er fand, er passe am besten zu ihm. Hoenir klang albern, und außerdem war es ein bißchen peinlich, daß Hoenir für dümmer gehalten wurde als seine Brüder. Andererseits war Hoenir groß und schön. Alfred fühlte sich klein und häßlich und hoffte, die Göttersage möge sich an ihm bewahrheiten – auch zu dem Preis, daß er der am wenigsten Begabte der Gebrüder Nobel wäre!
Die Hauptsache war ohnehin, daß er zusammen mit seinen beiden Brüdern die Welt erschaffen konnte.
Was schließlich von der Audumbla – Erzählung und den Erinnerungen an die Zeit der Norrlandsgatan in Stockholm übrigblieb, war seine Bewunderung für Mutter Andriette und seine Liebe zu ihr. Es war ihr Verdienst, daß seine Brüder und er überlebt hatten! Und sich nicht zu den wirklich Armen rechnen mußten.
Man zählte das Jahr 1842, und es war Herbst. Immanuels Familie war auf dem Weg nach St. Petersburg. Der Paß war genau an Alfreds neuntem Geburtstag ausgestellt. Noch auf dem Schiff, das die Newa hinauffuhr, mißtraute Alfred den Berichten seines Vaters, die in den vielen Briefen aus Petersburg gestanden hatten. Als er den freudestrahlenden Immanuel auf dem Anlegesteg erblickte, faßte er Mutter ganz fest ums Handgelenk. Wenn das, was Vater geschrieben hatte, nicht die Wahrheit war, hatte vor allem sie es auszubaden!
Er verschwand gänzlich in der kraftvollen Umarmung seines glücklichen Vaters, wagte jedoch noch nicht, auch ihn zu umarmen. Nicht eher, als bis er in dem schönen Wagen hinter den prächtigen Pferden saß und hörte, daß beides Vater Immanuel und niemandem anderen gehörte. Nicht eher, als bis er das hübsche, einstöckige Haus – es war nicht sonderlich groß, doch verglichen mit der Hinterhofbehausung in Stockholm geradezu ein Schloß – vom Keller bis zum Dach besichtigt und Vater hatte versichern hören, es sei sein eigen und nicht einmal gemietet oder geliehen. Nicht eher, als bis er durch die lärmerfüllte Werkstatt gegangen war und die vielen Arbeiter gesehen und von dem schwedischen Werkmeister Immanuels die Bestätigung erhalten hatte, daß sein Vater der Besitzer all dieser Dinge war. Nicht eher konnte er aufatmen. Ludwig schien überhaupt nicht mißtrauisch zu sein. Er hatte all die Jahre felsenfest Vaters Versicherungen geglaubt, es werde ihnen bald besser gehen. Für Ludwig war es selbstverständlich, daß Vater jetzt ein reicher Mann war!
Robert war nicht mitgekommen. Nach dreieinhalb Jahren Schule war er der Ansicht gewesen, er könne, was er brauche, und hatte gebettelt, zur See gehen zu dürfen. Seit einem Jahr war er Schiffsjunge auf einem Südamerikaschiff.