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Als er dann bei Kaffee und einem Croissant saß, überlegte er, was er mit den Patentanwälten machen sollte. Nein! Er wollte nicht anfangen, all diese Formalitätskrämer zu mästen, ehe er einen einzigen Reichstaler an seinem Sprengöl verdient hatte. So lange er selbst konnte und die Postverbindung funktionierte, gedachte er seine Patentgesuche eigenhändig aufzusetzen. Vermutlich schrieb er ein ebenso gutes Französisch wie die Herren Armengaud. Und entschieden besser englisch und deutsch.

Es war mehr als dreizehn Jahre her, daß er mit Marie hier im Café gesessen hatte.

Mit dem ganzen Hunger und Appetit eines Siebzehnjährigen war er hier in dieser kulturellen Hauptstadt Europas angekommen. Doch war die Stadt nicht nur ihrer Kultur wegen bekannt! Seine Mutter hatte ihn vor dem ›Sündenpfuhl‹ Paris gewarnt, und das in so verlockenden Tönen, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Sünde zu probieren. Die ersten ungeschickten geschlechtlichen Kontakte zu Hause in Petersburg hatten ihn nicht gerade mit himmlischem Glück erfüllt. Sein Geruchsorgan war empfindlicher als seine übrigen Sinne – und es fiel ihm schwer, die Abneigung der Russinnen gegen Seife zu verstehen! Er redete lieber mit ihnen, als daß er mit ihnen schlief. Die gebildeten Russinnen seiner Umgebung waren in erster Linie Freundinnen. Klug und sich ihres menschlichen Wertes bewußt, sobald sie sich vergewissert hatten, daß er sie nicht als Gegenstand seiner Lust betrachtete: Vielleicht hatte er mit russischen Frauen sogar mehr fruchtbare Gespräche geführt als mit russischen Männern ... Soweit sie in ihrer übertriebenen Emanzipation nicht gänzlich übergeschnappt waren!

Schon am Gare du Nord war Alfred gewieften Männern begegnet, die ihm Vorschläge ›pour les amusements‹ machten. Im Hotel, in dem er die erste Nacht verbrachte, wurde er unterrichtet, es ständen Mädchen zur Verfügung, wenn er es nur wünsche. Die Witzzeitung ›Sourire‹ enthielt leicht zu entziffernde Annoncen über ›künstlerische Visionen‹ – und verstand man den Text nicht gleich, leisteten Illustrationen gute Dienste ...

Bevor er aus dem Hotel in das Zimmer zog, das er hatte mieten können, bot ihm der Nachtportier hartnäckig einen Hurenkatalog zum Kauf an: Nur die Adresse sei herauszusuchen, hinzugehen – und zu sehen, ob das Mädchen dem Geschmack entspreche.

Nun gut – es war vielleicht lustig, einen solchen Katalog zu besitzen: Also kaufte er einen.

An einem einsamen Abend hatte er genügend Mut beisammen, um eine der Adressen aufzusuchen, zu der er zu finden glaubte. Vorsichtigerweise hatte er einen Ort ausgewählt, der hinreichend weit von seiner eigenen Adresse entfernt lag – er wollte jegliche spätere Komplikation vermeiden, falls der Besuch nicht gut verlaufen sollte. Auch dann, wenn er gut verlief.

Sicherheitshalber stärkte er sich mit einigen Gläsern Absinth, ehe er verschämt den Türklopfer bediente. Zu spät erkannte er, daß er in einem Bordell gelandet war. In seiner Einfalt hatte er sich vorgestellt, die Adresse gehöre einer einzelnen Frau. Das, wovor ihm gegraut hatte, nämlich, daß die Hure ihm nicht gefallen könnte, war plötzlich kein Problem mehr; hier konnte er zwischen so vielen wählen, daß er wohl weder sich noch die Frau in Verlegenheit brachte. Andererseits war das Wort ›Bordell‹ allzu belastet für sein unschuldiges Gemüt, und er schämte sich doppelt, weil jetzt so viele Frauen seine Schwäche miterleben konnten. Bei einer einzigen Frau wäre es nicht dasselbe gewesen.

Doch noch mehr geschämt hätte er sich, wenn er jetzt umgekehrt und davongegangen wäre. Er haßte den Gedanken an das Hohngelächter, das ihm die Treppe hinab gefolgt wäre. Und er glaubte, genug französisch zu können, um die Worte zu verstehen, die dann mit dem Gelächter hinabgerollt wären. Also ließ er sich in den schummrigen Salon mit den schwellenden Sofas führen. Ein schwerer Duft nach Parfüm und Puder lag über dem Etablissement. ›Madame‹ führte ihn liebenswürdig herum, mit einem festen Griff um seinen Bizeps; bereits das war Grund genug, um keinen Fluchtversuch zu wagen. Ja, er verstand: Das also war es, was ›Madame‹ zur Zeit auf Lager hatte! Heimlich betrachtete er ein junges Mädchen, das ihm sehr gefiel – sie glich jemandem, den er einmal gemocht hatte ... Doch dann verließ ihn der Mut. Er erinnerte sich, daß er klein und häßlich war – und fast in Panik wies er auf ein ›Mädchen‹. Nicht besonders jung, eher das Gegenteil, auch nicht besonders hübsch, eher unschön. Die Frau hatte scharfe Züge und sah verlebt aus.

›Madame‹ ließ einen Ausruf der Verwunderung hören, und auch die Miene des Mädchens zeigte, daß sie nicht damit gerechnet hatte, von ihm als erste gewählt zu werden.

Das, was dann geschah, wollte er am liebsten vergessen. Doch Lucie roch gut, und sie war sauber – überall, sollte sich bald zeigen. Aus Dankbarkeit, daß ein so junger Mann gerade sie erwählt hatte, tat sie ihr Allerbestes. Und das war nicht wenig ...

Unter ihren Händen vergaß er jede Besinnung und Vernunft, nachdem die erste Verblüffung gewichen war. Als die festgesetzte Zeit abgelaufen war, ›abonnierte‹ er sie für den Rest der Nacht. Und sie ließ Champagner und wer weiß was heraufbringen, bis er betrunken war und in ihrem Bett einschlief.

Es dauerte bis weit in den Vormittag, ehe ›Madame‹ wieder Leben in ihn brachte, wenigstens so viel, daß er begriff, wo er war. Beschämt und mit schwerem Kopf zog er sich an und schwankte nach Hause in sein Mietzimmer. So etwas wollte er nie wieder tun!

Doch als es Abend wurde, sah er Lucies lockendes Fleisch vor sich und erinnerte sich ihrer wohligen Künste. Daß sie nicht jung war, eher eine reife Frau im Alter seiner Mutter – ja, so war es wohl – und daß sie eigentlich häßlich war, schien ihm eher ein Vorzug. Jedenfalls wurde ihre Verlockung dadurch nicht geringer.

So stand er also wieder mit dem Türklopfer in der Hand.

›Madame‹ schüttelte den Kopf und drohte mit dem Finger, trotzdem sah sie nicht gerade böse aus. Alfred war gut bei Kasse und hatte in der vorangegangenen Nacht für die Dienste des Etablissements anständig bezahlt – auch wenn man vielleicht noch etwas fordern konnte, weil er so lange geschlafen hatte ... Doch Lucie war beschäftigt. Er mußte eine andere nehmen. Nein, Lucie würde die ganze Nacht nicht zur Verfügung stehen! Lucie hatte ihre freie Nacht, wenn er es unbedingt wissen wollte.

Er hörte doch, daß ›Madame‹ log! Wutentbrannt stürzte er zu Lucies Zimmer und riß die Tür auf.

Weder Lucie noch der Mann, mit dem sie auf so bekannte Weise herumturnte, hörten ihn. Versteinert stand er eine Zeitlang auf der Schwelle und sah die Übung mit an. Was hatte er anderes erwarten können?

Ein kräftiger Nordafrikaner jagte ihn unsanft aus dem Haus, obwohl er versicherte, selbst gehen zu können – ja gehen zu wollen.

Wie dämlich durfte man eigentlich sein, selbst mit siebzehn! Er sann über diese betrübliche Zahl nach, während er sich auf dem Heimweg auch an diesem Abend sinnlos betrank.

An dem reuevollen Morgen darauf beschloß er, nie wieder so maßlos zu trinken, nie wieder Liebe für Geld zu kaufen!

Das ›sündige Paris‹ hatte seine Verlockung verloren.

Es dauerte deshalb recht lange, bis er das Mädchen in seinem eigenen Alter, das bei Professor Pelouze als Laboratoriumsgehilfin arbeitete, wirklich sah. Er hatte bemerkt, daß sie gern versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erwecken: Marie hieß sie! Aha ... Und sie war die Tochter eines der Laboranten; sie wollte selbst Chemikerin werden und im Herbst am Collége de France anfangen! Ach ja ...?

Ein Gefühl begann aus der Tundra seiner Sinne zu sprießen. Still verliebte er sich in ihre zarte Verliebtheit – und sie sich in die seine. Stundenlang saßen sie in diesem Café und hielten sich verschämt unter dem Tisch bei den Händen. Während sie über alles sprachen, worüber man sprechen konnte, oder sich schweigend in die Augen blickten. Auch Marie duftete gut! Doch diese Entdeckung lag weit von aller fleischlichen Begierde entfernt. Die einzige körperliche Nähe, die er wagte oder die sie begehrte, waren die keuschen Küsse, die sie im Bois de Boulogne austauschten. Obwohl dort wollte sie eigentlich nicht spazierengehen! Der Boulognewald war ein wirklicher Liebeswald: Die vorbeischaukelnden Wagen beherbergten oft sich heimlich liebende Paare, die Lichtungen konnten solche Paare mitten in ihrem schamlosen Tun zeigen.

Marie und er schmiedeten Pläne. Er würde in Paris bleiben und als akademischer Lehrer ein Auskommen finden. Sie würde ihre Studien zu Ende bringen. Dann würden sie heiraten!

Er wurde zu ihr nach Hause gebeten, um die Eltern kennenzulernen. Dem Vater war er ja bereits bei Pelouze begegnet. Anfangs hatte er dieses Zusammentreffen mit Maries Eltern gefürchtet: Wenn sie nun von einem solchen Schwiegersohn wie ihm, dem Alfred aus Rußland, nichts wissen wollten! Doch Maries Wahl schien sie ganz und gar nicht in Verlegenheit zu bringen. Statt dessen schienen sie geschmeichelt: Sie hatten vom ihm durch Professor Zinin gehört, sie wußten, daß er aus einer der angesehensten und vermögendsten Familien Petersburgs stammte. Es schien ein deutliches Plus zu sein, daß er nicht selbst Russe war – und daß er französisch beinahe besser beherrschte als sie! Und daß er sich in der zeitgenössischen schönen Literatur auskannte!

Dann war Alfred für einige Tage in die Normandie gereist. Er wollte so gern Rouen und die anderen Städte und Orte der Normandie sehen, die mit dem Reich der skandinavischen Wikinger hier oben verbunden waren. Wenn man sich vorstellte, daß Vilhelm der Eroberer von England aus diesem Wikingergeschlecht stammte ...

Als er nach Paris zurückkehrte, erhielt er die schwarze Trauernachricht. Marie war ganz plötzlich an der Cholera erkrankt, ihr Leben nicht zu retten gewesen. Sie war tot und schon begraben.

Maries Mutter sprach mit ihm durch die geschlossene Tür: Wegen der Ansteckungsgefahr waren Maries Angehörige isoliert worden, und er konnte sie nicht treffen.

Ja, derart war sein eigenes Erlebnis in dem ›romantischen‹ Paris! Ein tränenseliger Roman, den niemand zu Ende lesen würde ... Er hatte versucht, in einem seiner Jugendgedichte von Marie und seiner Liebe zu ihr zu erzählen. Das war genug – und er schrieb eigentlich auch keine Gedichte mehr. Auch verliebt hatte er sich kein zweites Mal ...

Was war die Uhr? Oh, schon so spät – höchste Zeit zur Crédit Mobilier zurückzukehren und sein Urteil zu empfangen. Würde es das gleiche Todesurteil sein wie das vergangene Mal? Gab es in dem Fall irgendeinen Grund für ihn, nach Stockholm zurückzukehren?

Konnte er dann nicht ebensogut der Marie seiner Jugendzeit folgen ...?

Bei der Crédit Mobilier war man eitel Sonnenschein: Alfred Nobel würde seinen Kredit von 100 000 Franc erhalten – nicht einen Franc versuchte man herunterzuhandeln.

»Monsieur Nobel, Sie sind uns herzlich willkommen, wenn wir Ihnen wieder einmal zu Diensten sein können!«

Er dankte, verbeugte sich und unterschrieb die Revers; jetzt konnte er doch noch den Nachtzug erreichen!

Der Dynamitkönig Alfred Nobel

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