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Noch immer, bald dreißig Jahre danach, gebe ich irgendwo in mir Vater die Schuld für all das Unheil, das uns in den Jahren um meine Geburt herum und auch später ereilt hatte. Das meine Mutter in ständige Unruhe vor dem morgigen Tag versetzte. Das sie zwang, jahrelang mit ihren drei minderjährigen Söhnen allein zu leben, fern von dem Gatten und dem Vater der Kinder.

Ich weiß, es ist ungerecht! Versuche doch wenigstens, einmal alles von einer anderen Warte zu sehen, Alfred Bernhard!

Und, was sehe ich dann? Zuerst etwas, vor dem ich am liebsten die Augen verschließen möchte: mein eigenes Unvermögen, Mutters Unruhe zu lindern. Wenn der arme Kleine doch wenigstens wie andere Kinder gewesen wäre! Doch ich war schwächlich. Meine Lungen ließen nicht zu, daß ich mit den anderen spielte und herumtobte. Also konnte ich nur zusehen oder mußte im Hause bleiben. Ich war nicht geschaffen, um die Nässe in unserer kleinen Wohnung oder die rauhe Kälte der langen Winter zu ertragen. »Survival on the fittest« – wenn die Welt der Menschen ebensoviel Weisheit besessen hätte, wie sie Darwin allen anderen Lebewesen zuschreibt, gäbe es mich heute nicht. Meine ganze Existenz ist eine einzige Verhöhnung der Darwinschen These! Wenn mich eine kluge und verständige Hebamme schon in der Wiege erstickt hätte, wäre meiner Mutter viel Kummer und mir das quälende Gefühl erspart geblieben, eine Last zu sein. Der Name des Gottes Ve wäre wahrhaftig passend für mich gewesen ...

Sieh an! Da hatte ich die Absicht, alles anders, mit Vaters Augen, zu sehen – und ruckzuck bin ich wieder, wo ich war, und wühle in meinem eigenen, ach so tragischen Schicksal!

Die unglücklichen Umstände hatten einen Ehemann und Vater von drei Kindern gezwungen, einsam und allein im fremden Land, fern von den Seinen zu leben. Voller Ungewißheit, ob er sie jemals würde ernähren können.

So war es auch – und vor allem so!

In reiferem Alter habe ich mir ein wenig Einblick in Vaters Leben nach dem Konkurs verschafft. Habe versucht herauszufinden, was er damals tat. Welche Projekte er im Kopf oder in den Händen hatte.

Gegen meinen Willen war ich beeindruckt von dem, was ich fand.

Mit großem Geschick und technischer Kühnheit war Vater innerhalb kürzester Zeit zu einem der ersten Baumeister Stockholms aufgerückt. Er hatte sich einen Namen gemacht, beispielsweise als er das Ronsche Haus oben in Söder umbaute, ein neues Fundament legte – ohne daß auch nur einer im Haus davon wußte, als er da sprengte und mauerte.

Dann begann das Unheil. Doch war es ja nicht Vaters Schuld, daß Knaperstad von einem gewaltsamen Brand verschlungen wurde. Oder daß seine in vieler Hinsicht genialen Erfindungen nie patentiert wurden oder in größerem Umfang erprobt werden konnten, weil das Kapital fehlte, um aus der Idee eine Industrie zu machen. Und man konnte es ja auch nicht Vater anlasten, daß der Schwimmkasten beim Brückenbau in Skurö sank oder daß die drei Schleppkähne mit Baumaterial untergingen oder daß das Petersensche Haus an der Munkbron einen so schlechten Untergrund hatte, daß Vater gezwungen war, beinahe einen ganzen Flügel mit eigenem Geld neu zu errichten.

Doch, für letzteres war Vater vielleicht verantwortlich. Aber soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gab es in ganz Stockholm keinen Baumeister, der hätte voraussehen können, was dann geschah.

Alles richtig – so weit!

Schwieriger zu begreifen ist, daß Vater nach dem Konkurs den Beruf, den er doch wirklich beherrschte, an den Nagel hing. Mit dem Können und den Erfahrungen, die er als ›mechanicus‹ und Konstrukteur besaß, hätte es ihm doch ein Leichtes sein müssen, die Firma wiederaufzubauen. Vielleicht fand er, sein Ruf habe einen solchen Knacks bekommen, daß er an einen Neuanfang nicht zu glauben wagte. Ich weiß es nicht – Vater hat nie darüber sprechen wollen. Doch wenn er sich die Finger wirklich so verbrannt hatte, hätte er doch wohl nicht einige Jahre später den Auftrag übernommen, für Kaufmann Scharlin in Abo zu bauen. Ein prachtvolles Haus, das dem Betrachter noch immer in die Augen sticht und seine Bewunderung hervorruft.

Heute weiß ich jedoch, daß Vater nach dem Konkurs keineswegs so untätig war, wie ich als Kind angenommen hatte – und wie es vor allem andere glaubten, die keinen Einblick hatten. Vater verlegte sich auf die Chemie! Ein Gebiet, das er nie studiert hatte ...

Der Anlaß war, daß Vater mit einem Kaufmann bekannt geworden war, der gummierte Gewebe aus England importierte. Ein damals recht neues Material; die Methode war von dem Schotten Mackintosh entwickelt worden. Immanuel Nobel hatte eine Idee: Dieser wasserdichte Stoff war wie geschaffen für die Tornister der Soldaten. So würde das Gepäck bei Regen und Schnee trocken bleiben. Der Tornister konnte auch aufgeblasen werden und dann als Schwimmkissen dienen. Ja, verband man einen Tornister mit dem anderen, hatte man rasch eine Floßbrücke, ausgezeichnet verwendbar beim Überqueren von Wasserläufen.

Vater begann mit der Probeherstellung in einem engen Keller unter unserem Haus. Enthusiastisch versuchte er das Militär für seinen perfekten Tornister zu interessieren. Vergebens.

Und die Krankenhäuser? Für die Chirurgen mußten doch Apparate von Nutzen sein, die aus einem weichen und obendrein wasserdichten Material bestanden! Und auch für so manche Industrie! Vater machte einen Vorschlag nach dem anderen. ›Apparate für chirurgische, militärische und industrielle Bedürfnisse‹ lautet der Titel einer seiner Patententwürfe. Doch offensichtlich sah nur er selbst die Dringlichkeit dieser ›Bedürfnisse‹. Heute, fünfundzwanzig Jahre danach, sind viele von Vaters Ideen Teil des Alltags in Operationssälen und Werkstätten geworden – sogar in einem so zurückgebliebenen Land wie Schweden. Vater hatte das Pech, seiner Zeit voraus zu sein. Wie die meisten Erfinder.

Dennoch ließ er sich nicht unterkriegen. Er gab nicht einmal die Hoffnung auf, Interesse beim schwedischen Militär erwecken zu können. Der mit Kautschuk imprägnierte, elastische Stoff müßte doch, so meinte er, ganz ausgezeichnet für Tretminen geeignet sein!

Doch auf dem schwedischen Thron saß ein Marschall aus den Tagen Napoleons. Dieser Greis führte keine Kriege mehr, träumte auch nicht länger von Flußüberquerungen: Übrigens hatte Jean Baptiste Bernadotte den Rhein bereits einmal zuviel überquert.

Wahrscheinlich erfuhr Karl XIV. Johan niemals etwas von Immanuel Nobels ›genialer‹ Erfindung der Tretmine. Und wenn er davon Kenntnis erhalten hatte, so war er – einer der wenigen Schweden jener Zeit, die das wahre Gesicht des Krieges gesehen hatte – möglicherweise der Ansicht, die Zeit sei reif, auf solche barbarischen Schreckenswaffen zu verzichten ...

Wie es schien, blieb Vaters Idee wohl in der Patentmühle des Kommerzkollegiums stecken. Die Herren dort besaßen sicher nicht einmal genug Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie es wäre, auf eine von Vaters Minen zu treten!

Das Kommerzkollegium, ja. Ich kann gut verstehen, daß Vater mit seinen, zuweilen recht – gelinde gesagt – lässigen Patentbeschreibungen das Kollegium in Harnisch geraten ließ. Wie im Fall der Hobelmaschine! Dieses Gesuch habe ich über meinen eigenen Zeichentisch gehängt als warnendes Beispiel, wie ich selbst mich nie ausdrücken durfte! Ich glaube daher, ich erinnere mich noch beinahe an jedes Wort: ›... eine von mir erfundene Hobelmaschine, mit Hilfe derer ein gänzlich ungewöhnlicher Vorteil sowohl hinsichtlich der Beschaffenheit der Arbeit als auch der Zeiteinsparung zu gewinnen wäre. Da keinerlei andere Maschine meines Wissens für einen derartigen Zweck vorhanden ist, dürfte jede weitere Spezifikation hierzu überflüssig sein ...‹

Ach, wie man Vater doch das Fell gerbte! Um das Maß vollzumachen, fertigte die zuständige Instanz, das Technologische Institut, den ungehörigen Hobelmeister mit dem Hinweis ab, daß mehrere derartige Hobel selbstredend bereits erfunden wären. – Wie das Institut das wohl beurteilen wollte – wo Vater doch jede weitere Spezifikation für unnötig erachtet hatte. Während Vater den schwedischen Markt vergebens für seine Neuerungen zu begeistern suchte, verlangte es ihn, den bemerkenswerten Eigenschaften des Kautschuks nachzugehen. Mit gutem Grund sah er im Kautschuk ein Material, das die Zukunft revolutionieren würde. Die Methode Mackintoshs dürfte sich ja wohl verbessern lassen. Zugleich wollte er das Kriegsministerium mit einer generellen Lösung in Bezug auf die Mine versehen: So und so müßte deren Hülle beschaffen sein, dieser und jener Sprengsatz wäre am zweckmäßigsten und billigsten ...!

Diese Experimente führte er gelegentlich in Mutter Andriettes Küche durch – doch nur, wenn sie nicht im Hause war. Sie waren 1837, mit seiner überstürzten Abreise aus Stockholm, natürlich beendet.

Was von Vaters chemischen Experimenten übrigblieb, war jedenfalls eine Ansammlung von Retorten und Meßgläsern, Brennern und Reagenzgläsern und zudem eine Unzahl brauner Fläschchen mit phantasieanregendem Inhalt hinter so gut wie unergründlichen Etiketten. Dieser Krempel blieb auf einer Ecke des Abwaschtischs in der Norrlandsgatan stehen. Und obwohl Mutter früher über Vaters Eindringen und sein stinkendes Gebrodel geklagt hatte, räumte sie nichts davon weg – vielleicht waren es Reliquien, an die sie die Hoffnung auf seine baldige Rückkehr knüpfte. Vielleicht waren die Reliquien auch für uns Kinder gedacht: Vater war nicht verschwunden – er war nur auf Reisen.

Wie auch immer: Das Sammelsurium ließ mir keine Ruhe. Meine älteren Brüder machten wohl auch ihre Experimente mit Vaters ›Werkzeugen‹, doch ging ich systematischer vor. Schon im Alter von fünf Jahren führte ich eine Versuchsreihe durch, um herauszufinden, wie Vaters verschiedene Pulver und Stoffe auf den Kontakt mit a) Wasser; b) Feuer und c) bis z) miteinander bzw. zusammen im Verhältnis zu a) bzw. b) reagierten. Ich notierte sorgfältig die dabei gemachten Beobachtungen und erhielt eine ansehnliche Sammlung von Fakten mit einer Unmenge Bezeichnungen, die nur ich selbst verstand. Was ›f + lxb‹ hieß, war auch Mutter verborgen. Sie lächelte über Alfreds kleine Versuche und freute sich, daß ihr Junge mit seinen einsamen Tagen so gut zurechtkam – obwohl sie natürlich meinte, er sitze allzu viel im Hause herum. Sie freute sich bis zu dem Nachmittag, da eines meiner Experimente das Fenster nebst Rahmen auf den Hof hinausstieß und meinen Schopf bis auf das Nackenhaar versengte.

Nach diesem Knall verschwanden all die von Immanuel zurückgelassenen Dinge spurlos. Ich mußte Robert helfen, Schwefelhölzer zu verkaufen, bis ich das zertrümmerte Fensterglas ersetzt hatte. Wie ich Vater den ›Schwund‹ erklären sollte, war eine spätere Frage.

Das von allen als entsetzlich geschilderte Unglück hatte auf mich jedoch nicht die vermutete Wirkung. Insgeheim rekonstruierte ich das beschlagnahmte Laboratorium, wenn auch in noch bescheidenerem Umfang, doch hielt ich mich von da an außer Haus auf zwischen einem Felsblock und dem halb zerfallenen Bretterzaun zum Nachbargrundstück. Die einzige wesentliche Einschränkung war, daß ich kein Feuer anzünden konnte – der Rauch hätte mein Versteck verraten ...

Vaters unerwarteter Wechsel zur Chemie hatte also – im guten wie im schlechten – ein Interesse geweckt, von dem auch ich nichts geahnt hatte.

Nun ja, Immanuels Bauimperium war buchstäblich zugrundegegangen. Und er selbst war über den Bottnischen Meerbusen geflohen. Doch entdeckte ich – als ich schließlich näher nach den Gründen zu forschen begann – daß Vaters ›Flucht‹ mehr zu einer Sache hin erfolgt war, als von einer Sache weg. Gewiß, er hatte das dringende Bedürfnis gehabt, Schweden hinter sich zu lassen. Nicht zuletzt nach den gescheiterten Gummi-Geschäften, die nichts weiter einbrachten als noch ein paar wütende Gläubiger. Doch die wichtigste Ursache hieß von Haartman, und er war russischer Gesandter in Stockholm.

Immanuel begegnete von Haartman auf einer Festlichkeit in Stockholm. Es erwies sich, daß der russische Gesandte auch Gouverneur in Åbo sowie Präsident der Kommission des Zaren für die Förderung von Handel und Industrie war. Von Haartman scheint bei Vater genau den richtigen Nerv getroffen zu haben – und in Bezug auf seine Erfindungen brauchte man da nicht besonders lange zu suchen, bis sich alle Sperren öffneten. Innerhalb kürzester Zeit erfuhr von Haartman alles Wissenswerte über Vaters Erfindungen und auch alles über die totale Verstocktheit der Schweden.

Von Hartman riet Vater sofort, nach Åbo zu fahren. Dort würde ihn der Russe mit einigen einflußreichen Herren bekannt machen. Rußland hatte großen Bedarf an Immanuel Nobels Ideen und Vorschlägen!

Ein paar Tage nach seiner Ankunft in Åbo traf Vater schon mit zwei der herausragendsten Minenexperten der russischen Kriegsmacht zusammen, einem General und einem Professor. Beide gehörten außerdem einer vom Zar einberufenen Kommission an, deren Aufgabe es war, Sprengminen vor allem für den Seekrieg zu entwickeln. Das paßte wie der Ring an den Finger! Der enthusiastische Immanuel hatte zwei ebenso enthusiastische Zuhörer, als er von seinen Experimenten berichtete.

Als Vater sich dann stehenden Fußes erbot, eine Demonstration vorzunehmen, stimmten die beiden russischen Herren sofort zu. Diese Demonstration fand einige Tage später auf der zugefrorenen Petrowka statt und wurde zu einem vollen Erfolg.

Vater wurde gebeten, seine Ergebnisse dem Zaren vorzulegen, doch sollte er es schriftlich tun. Etwas Besseres konnte er sich nicht wünschen! Sofort ging er ans Werk. Zeichnete, wie gewohnt, seine sorgfältigen, detaillierten Darstellungen als feine Aquarelle. Der Familiendünkel pflegt zu betonen, daß Vaters künstlerische Begabung von dem großen Olof Rudbecka herrührt, von dem wir mütterlicherseits abstammen. Wie dem auch sei: Zeichnen konnte er – und vielleicht verstand Zar Nikolai Vaters Gedanken ja auch besser, wenn er sie bildlich vor sich sah! Vater war imstande, all und jeden zu überreden – außer den schwedischen König, der nur französisch sprach. Und hätte Vater seine Ergebnisse dem Zaren mündlich vortragen müssen, weiß man nicht, wie es ausgegangen wäre. Denn russisch beherrschte er nicht – und lernte es auch niemals.

Kurz gesagt, neue Demonstrationen vor immer höheren Herren wurden erforderlich, ehe ein Geschäft zustandekommen konnte. Bis hinauf zum Zaren selbst. Jedenfalls hat Vater den feierlichen Augenblick gezeichnet, als er neben dem Väterchen aller Russen auf einem Hügel stand, während draußen auf dem Wasser ein Schiff durch seine Minen in die Luft flog. Dreitausend Silberrubel und die Gunst des Zaren! Das war mehr, als Vater in seinem ganzen Leben besessen hatte. Er konnte sich eine kleine Maschinenfabrik mit Gießerei in St. Petersburg einrichten. Er konnte sich ein Haus anschaffen. Er konnte Mutter und uns Jungen zu sich holen. Robert schloß sich uns später an.

Ungefähr von dem Zeitpunkt an kann ich unser russisches Abenteuer selbst beschreiben und brauche nicht länger dem Hörensagen oder Vaters sehr lebhaften Schilderungen vertrauen.

Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, von seinen Berichten zuerst gewissermaßen die Fabrikationskosten abzuziehen: Was danach übrigblieb, war vielleicht halb so viel, und schon das war beachtlich! Jetzt kann ich nur im Buch der Erinnerungen blättern und kalte Fakten herbeten – und dennoch kann ich nicht einmal die Hälfte hinüberretten.

Laßt mich zuerst ein Talent auf Vaters Habenseite verbuchen, das ich bei ihm nicht vermutet hatte: Geduld. Gerade um die positiven Seiten Immanuels richtig einschätzen zu können, zwinge ich mich ja zu dieser zuweilen quälenden Inventur! Kurzum, es dauerte noch ganze zwei Jahre vom Augenblick der ersten Minen – Demonstration an, ehe die Russen eine Bestellung aufgaben. Und obwohl der Zar mit so großem Eifer nach Seeminen trachtete, lautete die Bestellung dennoch auf Landminen. An der Wirkung der Nobelschen Seeminen war nichts auszusetzen – im Gegenteil: Der Zar fand sie bald einer weiteren ›Belohnung‹ in der schwindelerregend hohen Summe von 25 000 Silberrubeln wert! Daß sie erst sehr viel später zur Fertigung gelangten, beruhte, so sagte man, auf Streitigkeiten, ob die Seeminen nun in die Zuständigkeit des Seefahrtsministeriums gehörten oder nicht ...

Unterdessen erwachte der Mechaniker in Vater zu neuem Leben. Und jetzt besaß er die Mittel, um eine alte Idee in die Tat umzusetzen: den Bau von Wagenrädern in Serie. Er baute eine Maschine zur Herstellung von Radnaben – und senkte damit im Handumdrehen die Kosten für ein Wagenrad um ein Zehntel. Die Maschine erregte großes Aufsehen, und Vaters Ruf als geschickter Konstrukteur verbreitete sich rasch. Es schien, als könne in Immanuel Nobels Werkstatt jedes technische Problem gelöst werden!

Leider hatte Vaters Rad auf dem zivilen Markt nicht den erwarteten Erfolg. Und so interessierte diese seine neueste Erfindung auch hauptsächlich das Militär und band unsere Firma noch fester an die Kriegsmaschinerie des Zaren.

Ich sage ›unsere‹, denn hier irgendwo wurde Vaters Betrieb zu ›Nobel & Söhne‹. Die Fabrik wurde an einen anderen Platz verlegt und erheblich erweitert. Mit den Jahren wurde es immer schwieriger zu sagen, wer die brillanteste Idee zu einer Erfindung oder technischen Verbesserung beigetragen hatte. Robert und Ludwig waren beide sehr tüchtig und einfallsreich, und auch ich hatte wohl meinen Anteil daran.

Wir alle wußten, daß der Zar mit ganzer Kraft zum Krieg rüstete. Eines Tages würde er es den Türken zeigen! Große Teile dessen, was er für das heilige Rußland hielt, waren in den Händen des heidnischen Türkenhunds. Wir wußten auch alle, daß die Firma ›Nobel & Söhne‹ einer der Ecksteine im Gebäude des russischen Kriegskolosses war. Immer kompliziertere maschinelle Konstruktionen wurden in der Firma ausgeführt: Für die Festung Kronstadt lieferten wir Dampfmaschinen, eine Dampfkammer, eine große Anzahl Drehbänke und Unmengen anderer moderner Ausrüstungsgegenstände. Wir statteten alte Segelschiffe mit Dampfmaschinen aus. Kurioserweise war ein großer Teil dieser Schiffe bei Sveaborg im Krieg gegen Schweden 1789/90 als Kriegsbeute genommen worden! Die Geschichte hat so ihre Ironien.

Darauf folgten Maschinen und die Bestückung für hundert Kanonenboote. Wir stellten die Produktion auf Kriegsbedarf um – zum Schluß vollständig. Wir beschäftigten mehr als tausend Mann, arbeiteten in drei Schichten und erhielten immer neue Aufträge, dank unserer Präzision und Pünktlichkeit. Beides waren der Zar und seine Leute bisher nicht gewohnt! Und – endlich – gingen bei der Firma auch Bestellungen über Seeminen ein. Jede für mehrere hunderttausend Rubel. Und dringend war es, dringend, dringend!

Solange es möglich war, stellte Vater schwedische und finnische Arbeitskräfte ein, zumindest für die leitenden Positionen. Die einheimischen Arbeiter nannte er Pack. Ja doch, sie waren billig und konnten für grobe Arbeiten eingesetzt werden. Und wenn die Produktion nicht vorankam – und das geschah eine Zeitlang häufig – konnte er bei seinen Freunden, den Generalen und Admiralen, Leibeigene ausleihen.

1853 brach dann alles los, später wurde es Krimkrieg genannt. Doch verlief dieser Krieg nicht so glücklich, wie der Zar erwartet hatte. Er brachte eine ganz unglaubliche Inkompetenz und Korruption bei der russischen Streitmacht an den Tag – um nicht von reinem Betrug zu sprechen. Patronen für die Gewehre erwiesen sich mit Sand statt mit Pulver gefüllt. Auch die Mehlsäcke des Trosses enthielten zuweilen Sand. Die Unterwasserminen Immanuels gelangten nicht einmal zum Kriegsschauplatz am Schwarzen Meer: Das Transportsystem brach zusammen.

Nur in der Ostsee waren die Minen dem Zaren von Nutzen. Dort versengten sie den mit den Türken alliierten Engländern so sehr den Hintern, daß diese es für das beste hielten, unverrichteterdinge abzuziehen: Kronstadt und damit die Hauptstadt blieben also vom Krieg verschont.

Ehe die ganze Herrlichkeit zusammenbrach, erlebte Vater dennoch den Höhepunkt seiner Karriere: Er wurde am russischen Hof präsentiert und durfte den großen kaiserlichen Goldorden entgegennehmen – an der Brust eines Ausländers äußerst selten.

Als sich der russische Bär wieder einmal als Potemkinsches Gebilde erwies, ließ Zar Nikolai I. eine Anzahl Köpfe rollen. Doch verlief der Krieg deshalb nicht besser. Viele der Enthaupteten waren Vaters Freunde. Ob sie schuldig waren oder nicht, ist mir nicht bekannt, fest steht jedoch, daß keine Klagen gegen ›Nobel & Söhne‹ erhoben wurden. Dennoch wirkte sich der Sturz der Minister erheblich auf die Zukunft der Firma aus: Neue Leute kamen, zu denen Vater keine Verbindung hatte. Und im Frühjahr 1855, als der Krieg schon verloren war, starb der Zar – vermutlich aus Gram, doch auch ein wenig auf Grund eines rechtzeitig aufgetretenen Schnupfens. Auf Nikolai folgte Alexander II. Er führte den nunmehr erlahmten Krieg eine Zeitlang fort. Doch nachdem Sewastopols ›uneinnehmbare‹ Festung am Schwarzen Meer gefallen war, schloß er zu Neujahr 1856 Frieden.

Der Krieg war zu Ende! Die Firma ›Nobel & Söhne‹ hatte plötzlich nichts zu tun. Der neue Zar schickte sich an, einen friedlichen Weg einzuschlagen, und bemühte sich um Reformen. Doch das Reich war ökonomisch am Ende, und für die zivile Produktion gab es keine Mittel.

Wir hätten Heizkessel, Rohrleitungen und Heizkörper sowie tausend andere nützliche Dinge liefern können, wenn irgend jemand sie sich hätte leisten können.

Vergebens erbat die Firma Kredite in London und Paris, um eine Ruhepause einlegen und die Flaute überstehen zu können.

Die Kreditgeber schüttelten die Köpfe: ›Nobel & Söhne‹ war nicht mehr kreditwürdig. Nicht, solange sie ihre Tätigkeit in dem chaotischen Rußland ausübten! Die Bereitschaft der Bankiers, uns zu helfen, wurde durch die mißliche Tatsache, daß England und Frankreich im Krieg auf Seiten der Türken gestanden hatten, vermutlich nicht gerade größer.

Ich selbst war es, der das Todesurteil über Immanuel Nobels Lebenswerk in London und Paris anhören mußte.

Man kann wohl sagen, daß alle Möglichkeiten erprobt wurden, die Vater eine Fortsetzung seiner Tätigkeit in Rußland gestattet hätten. Doch zeigte sich bald, daß er enorme Schulden auf sich geladen hatte mit all den Investitionen, die der Krieg und die Aufrüstung des Zaren erfordert hatten.

Im Sommer 1859 verließ Vater Rußland. Mit 58 Jahren stand er vor dem zweiten Konkurs seines Lebens. Zusammen mit Mutter und Emil kehrte er nach Stockholm zurück.

Zu dem Zeitpunkt hatten bereits viele der Arbeitslosen und ihre Familien St. Petersburg verlassen. Nur eine Handvoll der über tausend Angestellten blieb zurück, um mit Ludwig, Robert und mir einen Weg zu suchen, das zu retten, was zu retten war.

Wenn ich die bitteren Erfahrungen zusammenzähle und Schuld und Verantwortung gerecht zu verteilen suche, ist es leicht, so hier im Nachhinein zu sagen: Wir hätten vorsichtiger sein sollen! Hätten uns nicht so fest vor den kaiserlichen Streitwagen spannen lassen sollen! Wer so töricht ist, einen Krieg zu beginnen, ist meist auch nicht klug genug, um mit einer Niederlage zu rechnen.

Wer nicht in der dünnen Luft der kaiserlichen Höhen lebt, sollte ohnehin leichter aus der Geschichte lernen können: Nicht alle Kriege haben einen Sieger. Und vor allem, sie enden irgendwann einmal, alle – auch wenn es zuweilen lange dauert.

Wie sehr es mir auch widerspricht, so kann ich hier nicht länger ›wir‹ sagen. Und es gefallt mir auch nicht, besserwisserisch zu triumphieren: »Habe ich es nicht gesagt!« Dennoch kann ich nicht daran vorbeisehen, daß in dem Fall bei Vater alle Warnungen auf taube Ohren stießen. Immanuel Nobel sah kein Menetekel an der Wand, keine Zeichen am Himmel oder in der Tiefe. Das Netteste, was man über ihn sagen kann, ist: Er war der Freund seiner Freunde. Rußland und der Zar hatten so unendlich viel für ihn getan, also konnte er sie jetzt, da sie seine Gegendienste begehrten, nicht im Stich lassen. Wie ein guter Soldat ging er, nachdem er bereits sein Äußerstes gegeben hatte, noch einmal zum Gegenangriff über. Daß er fiel und sein Betrieb mit ihm, war gleichsam stilgerecht. Das neue Vaterland weinte ihm keine Träne nach. Die kaiserliche Goldmedaille war Dekoration genug.

Und Mutter, was hatte sie bekommen? Sie gebar Emil, der am Leben blieb, sie gebar Rolf, der mit zehn starb, sie gebar Betty, die weniger als drei Jahre leben durfte. Sie bekam sechzehn, siebzehn hektische Jahre als Ehefrau und Mutter in einem Haus, das Gäste und Mitarbeiter in ständig größrerer Zahl ein – und ausgehen sah. Zum ersten Mal in ihrer Ehe hatte sie Dienstboten. Viele. Zum ersten Mal brauchte sie weder den Pfennig umzudrehen, noch Kleidungsstücke zu wenden. Sie war die Frau eines vermögenden und berühmten Mannes und Mutter von vier wohlgeratenen Söhnen. Sie konnte in St. Petersburg sogar die erste Schwiegertochter begrüßen, als Ludwig 1858 seine Cousine Mina Ahlsell heiratete. Ja, und auch ihr erstes Enkelkind konnte sie willkommen heißen: Emanuel wurde am 10. Juni 1859 in Petersburg geboren.

Mutter war fast 56 Jahre alt, als sie gezwungen war, ihr reiches und gemütliches Zuhause in der russischen Hauptstadt aufzugeben.

Doch sollte sie dieses Mal nicht ebenso mittellos in die schwedische Hauptstadt einziehen wie nach dem Brand in Knaperstad. Verständnisvolle russische Gläubiger hatten ein Auge zugedrückt, als ihre Habe verladen wurde.

Vielleicht war Mutter der Meinung, sie habe ein gutes Leben geführt und das Übriggebliebene sei ausreichend! Ich verstehe zwar nicht, warum sie so denken sollte, doch sie klagte niemals, obwohl ich sie dazu ermunterte.

Der Dynamitkönig Alfred Nobel

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