Читать книгу Der Normannenfürst - Rune Pär Olofsson - Страница 11
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ОглавлениеRouen ...
Die Stadt sollte die vornehmste neben Reims sein, aber was Popa sah, waren meistens Ruinen, notdürftig zusammengeflickt und mit Segeltuch gedeckt - wenn sie überhaupt einen Schutz gegen Sonne und Regen hatten. Aber die Normannen hatten starke Mauern aufgebaut; sie sah, große Teile der Mauern waren neu, wie auch Türme und Erker. Ein Pfahlkranz umschloss das äußere Hafenbecken und eine Insel im Fluss, wodurch ein guter Hafen gebildet wurde. Innerhalb dieses Hafens befand sich noch ein Wall und in diesem ein Wassertor. Rollos Schiff musste den Mast umlegen, um hindurchzukommen. Der Sinn war, dass drinnen weder Gezeiten noch Feinde Unruhe bringen konnten.
Rouen war eine einzige große Befestigung. Hierher würden sich die Normannen in äußerster Not zurückziehen können - denn kein fränkischer oder flämischer Markgraf träumte etwas anderes, als stark genug zu werden, um die Räuber ins Meer zu werfen. Käme es jedoch dazu, dass die Normannen gezwungen waren, Frankreichs Erde zu verlassen, waren die Schiffe ihr Nabelstrang, ihre einzige Möglichkeit zur Befreiung. Also war es notwendig, die Schiffe so gut wie möglich zu schützten. Was Popa noch nicht verstand - und was selbst die Normannen noch nicht richtig begriffen hatten - war, dass die Franken wenig Geschick mit Kriegsschiffen hatten und darin niemals so sehr viel besser werden sollten. Auf den Flüssen und entlang der Wasserwege blieben die Normannen die Herren, unabgesehen aller Vorsichtsmaßnahmen.
Die Normannen, die kein Quartier in ausgeräumten Häusern oder in geflickten Ruinen genommen hatten, wohnten in hölzernen Gassen entlang des Hafens, manche sogar in einem Zelt. Zwischen diesen Zelten und Buden liefen Waschrinnen, und Popa sah zu ihrer Überraschung mehrere Frauen und Kinder. Waren die Frauen Sklaven - wie sie selbst? Nein, viele sprachen Rollos Sprache, das hörte sie, als sie sich zwischen Booten und Land gegenseitig anriefen.
Bald sollte sie erfahren, dass viele Nordleute ihre Familien mitgenommen hatten. Die eine oder andere Frau war von fränkischer Herkunft und war auf ungefähr gleiche Weise wie Popa im Heer gelandet. Und dann gab es natürlicherweise auch Sklaven, Männer und Frauen - obgleich keiner von denen Nordmensch war.
Popa hatte erwartet, man würde ihre Sachen losbinden und an Land bringen, ja, natürlich auch, dass sie selbst an Land gehen durfte. Aber Rollo hatte nur ein Geschäft in der Stadt zu erledigen. Bald war er wieder an Bord und das Schiff steuerte wieder in die Hauptströmung und fuhr noch weiter den Fluss hinauf. Wohin in aller Welt waren sie auf dem Weg?
Die Seine war nun, wenn das möglich war, noch weniger geneigt, zwischen den Bergen zu laufen, und wand sich so heftig, dass Popa voll zu tun hatte, sich auf den Beinen zu halten. Kroch sie unter Deck, wurde ihr schwindlig und sie musste sich erbrechen. Sie ließ deshalb alle Fragen sein und schloss sich in ihr Schweigen ein. Der Anblick des verwundeten und geflickten Rouen hatte auch ihren Mut sinken lassen. Wenn es hier so ärmlich war, wo die Normannen lebten, wie sollte sie es da aushalten! Und weshalb brannten sie eine so ausgezeichnete Festung wie Bayeux nieder! Sie sollte den Mann hassen, der ihr Heim zerstört hatte, anstatt ... Sie suchte Rollo mit dem Blick, aber er hatte jetzt keine Zeit für sie, er stand spähend am Bug. Wieder schlug das Entsetzen über sie: Wie konnte sie anderes als Abscheu für ihn fühlen? Sie sah ihn nun als den Fremdling, der er war. Was war es, das ihr in seiner Nähe die Sinne verwirrte? Welcher Dämon hatte ihr Sand in die Augen geworfen?
Es war wahr: Sie hatte nur zu wählen zwischen ihm oder als Sklavin verkauft zu werden ...
Es dauerte nicht lange, bis sich das Schiff wieder dem Land näherte. Sie wählten dieselbe Seite des Flusses wie in Rouen. Backbord wurde sie gewissermaßen genannt; also würden sie auf der rechten Seite der Seine an Land gehen - sie hatte gelernt, dass man immer die rechte und linke Seite eines Flusses von oben, von der Quelle zum Meer festlegte.
Sollten sie hier wirklich bleiben?
Desgleichen hatte sie nie gesehen oder sich vorstellen können. Das Boot hatte sie mitten in ein gewaltiges Heerlager geführt. Mit dem, was sie sah, sollte sie in den nächsten Jahren bis zum Überdruss wohlbekannt werden; jedoch hörte sie niemals auf, von der wahnwitzigen „Stadt“ fasziniert zu sein. Ihr zukünftiger Streifzug gab ihr dieses Bild vom Lager der Normannen:
Ein hoher Erdwall lief um das äußere Lager und innerhalb des Walles mit den Giebeln zu diesem standen niedrige, lang gestreckte Gebäude Seite an Seite. In der Mitte des Lagers befand sich eine kreisrunde Anlage mit noch höheren Wällen. Zwei holzbelegte Straßen kreuzten einander mitten im Lager und führten zu vier Toren in vier Himmelsrichtungen. Die Straßen teilten die „Stadt" in vier gleiche Quadranten auf, jeder beherbergte vier bootförmige Gebäude. Diese vier Häuser waren so gelegen, dass sie einen vierseitigen Hof umschlossen.
Allmählich entdeckte Popa, auch die Häuser des äußeren Gürtels waren nach gleichem ungewöhnlichen Muster gebaut; von oben mussten die wie Seite an Seite vertäute Schiffe aussehen.
Eins von diesen inneren Vierteln war Rollos „Quartier“ - im buchstäblichen Sinn.
Er hatte ihr an Land geholfen und behielt dann seinen Griff um ihren Arm bei, während er die Schritte geraden Wegs zu seinem Quartier steuerte. Stolz schlug er das Tor an der Giebelseite auf und bat sie einzutreten. Zuerst schien ihr das langgestreckte und bis auf einige Luken fast fensterlose Gebäude ein Stall oder Magazin zu sein.
Nachdem sich ihre Augen ein bisschen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wurde sie an den Längsseiten Tisch und Bänke und mitten an den Längsseiten erhöhte Sitze gewahr - Rollo nannte sie Hochsitze. In der Mitte auf dem Boden war ein länglicher Herd aus Steinen eingemauert und über allem hing ein Rauchfang mit einem Fries rundherum. Auf dem Fries standen lange Trinkhörner und Kannen, Abendmahlskelche und kleiner Becher aus Gold und Silber. In Augenhöhe waren die Wände mit Borten oder Wandbehängen bekleidet; deren Muster waren ungewohnt - aber schön. Die Wandteppiche konnten wohl eine halbe Elle breit sein. Im Übrigen war der Saal bis auf eine Anzahl aufgespannter Felle samt aller Art von Waffen kahl.
Popa musste mächtig verwundert ausgesehen haben, weil Denis hereingerufen wurde. Er erklärte, dies wäre die Halle eines normannischen Fürsten. Sogar die größten Könige im Norden hielten sich an „Schalen" wie diese. Dort aßen und tranken sie am Abend mit ihren Männern und Gästen - ja, auch Frauen durften bei den Festen dabei sein, solange sie wollten oder sollten ...
Das Letzte sagte Denis mit leiser Stimme.
Dann war es Zeit für Popa, das Allerheiligste der Halle sehen zu dürfen. Rollo ging zu einem schrankähnlichen Aufbau in der äußersten linken Ecke und zog die Vorhänge weg. Oho, das war ein Himmelbett. War es ihr also bestimmt, dort drinnen zwischen den Fellen mit ihm zusammen zu liegen?
Sowohl als auch. Rollo und Denis hatten es eilig, sie aus der Halle und um die Ecke zu führen. Und dort, an den Giebel angebaut, stand ein kleines Haus aus Holz. Eine steile Treppe führte zu einer Galerie. Rollo sprang hinauf und bedeutete ihr nachzufolgen. Nach einiger Mühe mit ihrem langen Rock kam sie die Treppe hinauf und schaute in eine hübsche Kammer. Das war ihr eigenes kleines Haus, erklärte Rollo - er war flink in der Zeichensprache. Und unten im Erdgeschoss fand sie etwas, was wohl im fränkischen Sprachgebrauch Salon oder Boudoir genannt werden könnte – aber auch hier stand ein Schrankbett, wenn auch nicht von so gewaltigem Ausmaß wie Rollos.
„Hier schläft deine Dienerin“, erzählte Rollo während Denis nebenher lief und übersetzte. „Sie ist Frankin und heißt Arlette, und sie wird dir helfen, heimisch zu werden. Nun darfst du dich bis zum Abendessen einrichten. Wann dieses sein wird, wirst du hören - da schlägt man auf das Kupferbecken, das vor der Halle hängt. Aber komm dann sofort! Derjenige, der sich aufhält und später kommt, als ich den ersten Kelch getrunken habe, muss büßen.“
Wie in den Märchen stand auf einmal alles um sie herum, was sie sich wünschen konnte: die sich verbeugende Arlette, all ihr Eigentum, das sie bei der Burg in Bayeux ausgesucht hatte - und dazu viele Dinge, von denen sie gedacht hatte, sie würden auf einem Schiff keinen Platz finden. Himmel, wohin sollte sie alles stellen und legen! Aber Arlette fand Rat. Rollo hatte eine ganze Längsseite als Speicher. Popa konnte ihre Kisten dort unterbringen, bis Rollo ihr ein eigenes Haus schaffen konnte, das größer war. Erst jetzt bemerkte Popa, dass sie ja die ganze Zeit fränkisch mit Arlette sprechen konnte - und da setzte sie sich hin und weinte.
Als sie sich ein bisschen erholt hatte, folgte sie Arlette zum Speicher. Und das war nicht irgendein beliebiger Speicher!
Überall an den Wänden, auf dem Fußboden, unterm Dach hingen, standen und lagen Kostbarkeiten zu Tausenden. Kisten voller Gold und Silber, Münzen und Armringe, Fingerringe und Ketten, Abendmahlskelche und Kruzifixe. Dicke Ballen aus Brokat und Kleider und unzählige andere Tucharten. Seidenmäntel und Biberpelze - bald würde der Bärenpelz ihres Vaters hier landen.
Sie konnte nicht alles beim Namen nennen, was sie sah. Hier wurde es also gesammelt, alles, was die Normannen während der Jahre in ihrem Land geraubt hatten, in „ihren" Kirchen und Klöstern. Gegen ihren Willen näherte sie sich dem Regal mit kostbaren Frauenkleidern und strich über Tücher und Stickereien. Wer etwa hatte diese besessen und getragen?
„Aber", sagte sie verwirrt, „dass man wagt, alle diese Reichtümer hier so offen zu lagern! Du hast ja keinen Schlüssel - und das Tor steht unverschlossen ...!"
„Oh“, antwortete Arlette, „hier im Lager der Normannen stiehlt jemand nicht mal einen Kamm. Der würde sofort gehängt.“
Aber ... Popa schwieg über das, was sie dachte: Wenn diese Regel für das Heer und die Normannen galt, war es ja nicht sicher, dass sich Franken wie Arlette und sie selbst daran hielten. Was hinderte es, dass Arlette stahl, so viel sie zu tragen vermochte, und entfloh?
Arlette musste ihr Gedanken gelesen haben.
„Kein Dieb kommt hier weit. Alle, die es versucht hatten, kehrten zurück - um gehängt zu werden ..."
Das klang wie eine Warnung!
Deutlich waren die inneren Viertel vornehmer als die äußeren, am nächst stattlichsten war das von dem ihr von Bayeux bekannten Marschall Botho, und dann wohnten die übrigen normannischen Anführer darin - oft mit Familien. Keiner von ihnen verschloss die Tür hinter sich ...
Jedoch erlebte Popa das Heerlager wie ein Gefängnis. Wälle überall, wohin man schaute. Und ohne Schutz durfte sie nirgendwohin gehen.
„Ich glaubte, du hättest eine Burg in Rouen?“, versuchte sie es, als Rollo sie eines Tages umherführte.
„Die werde ich wohl bald haben“, antwortete er zögernd. „Aber lieber baue ich mir einen prächtigen Hof in einem fruchtbaren Tal, wenn ich einmal Zeit und Ruhe finde.“
„Ja, tu das!", ermunterte sie ihn eifrig. Was auch immer, es musste wohl besser sein als dieses Gefängnis hier. „Kann Rouen nicht reichen, bis ...?"
Er machte eine weite Handbewegung über das Lager.
„Wir brauchen sowohl Rouen als auch Pont de l´Arche, bis wir sicheren Frieden haben", antwortete er. „Gerade jetzt muss ich zwanzigtausend Mann unterbringen - glaubst du Rouen reicht da, wenn so viele Männer ein Dach über dem Kopf und Essen im Bauch haben wollen? Und wo soll ich Platz für all die Pferde finden? Und die Schmiede und die Brauereien und die Weinkeller und die Schwertschleifer und die Schlachter und die Getreidekisten ...?"
Nein, er hatte bestimmt Recht. Das Lager war bereits Stadt und Bauernhof in Einem, jedoch im Kolossalformat! Das war imponierend, das war Schreck einjagend - aber es war deshalb nicht im geringsten angenehmer.