Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 10
Auf dem Wurmhügel
ОглавлениеAls Pais Ismendahl und Antilius den Wurmhügel bestiegen hatten, bot sich ihnen ein wunderbarer Blick über die Stadt Fara-Tindu. Windschiefe Dächer, die mit dunkelroten Backsteinziegeln bedeckt waren, verwinkelte Gassen und zahllose umherschlendernde Stadtbewohner, die von hier oben wie kleine Ameisen ausschauten.
Inmitten des dichten Rotes der Dächer ragten drei Turmspitzen einer Abtei hervor.
»Und? Ist das nicht ein umwerfender Anblick?«, schwärmte Pais, der über Antilius’ Faszination erfreut war.
»Es ist sehr beeindruckend. Jetzt verstehe ich, warum Brelius diesen Ort für sein Heim und seine Arbeit gewählt hat.«
Pais wandte sich dem einzigen Häuschen auf dem Hügel zu. Es war eher eine einfache Blockhütte, die im Dach eine aufklappbare Luke hatte, welche beim Öffnen die Sicht auf den Himmel für das darin befindliche Teleskop freigeben konnte. Eine schlichte, aber effiziente Lösung.
Pais öffnete die Tür, welche quietschend nachgab. Zu Antilius’ Überraschung besaß sie kein Schloss. Anscheinend fürchtete Brelius nicht, dass ihm irgendetwas gestohlen werden könnte.
Das Innere der Hütte präsentierte sich ebenso bescheiden wie das Äußere. Den engen Raum teilten sich ein einfaches Bett sowie eine relativ große Werkbank, die fast die Hälfte der Wohnfläche in Anspruch nahm. Sie war übersät mit Schriftrollen, Bergen von Papieren, Werkzeugen unterschiedlichster Art, zwei kleinen Mikroskopen, Karten vom Sternenhimmel und Dutzenden Linsen für das für einen Sternenbeobachter unverzichtbare Teleskop, welches gleich neben der Bank aufgebaut war. Das Ende des Rohres zeigte zur Dachluke. Sie war geschlossen.
Pais runzelte die Stirn. »Hmm. Er hat alles genauso gelassen, wie es vorher war: unordentlich. Obwohl es noch chaotischer ausgesehen hat, als ich das letzte Mal hier war. Vielleicht finden wir auf seiner Werkbank einen Hinweis.«
»Für mich sieht es so aus, als ob seine Sachen hier durchwühlt worden sind«, sagte Gilbert.
Pais brummte nur nachdenklich. »Das könnte man vermuten.«
Nach einer Weile des Suchens fand Antilius einen blau schimmernden Kristall. Nach kurzer Begutachtung stellte Pais fest, dass es sich um einen Stimmenkristall handelte. Diese Art von Kristallen waren geeignet, Töne oder auch Stimmen in sich zu speichern, sodass man damit Nachrichten aufzeichnen konnte.
»Das muss es sein«, sagte Pais.
»Was ist das?«
»Das ist sein Tagebuch. Ja, ich erinnere mich! Vor einiger Zeit hat er mir erzählt, er hätte sich einen dieser sündhaft teuren Stimmenkristalle gekauft, um ein Tagebuch zu führen. Er hat mir aber nicht gesagt, warum.«
»Wieso hat er nicht einfach Tinte und Papier benutzt?«, warf Gilbert ein.
»Brelius war eben anders als die anderen. Ein normales Tagebuch wäre für ihn ... zu normal gewesen.«
Pais schlug leicht mit dem Handrücken gegen den Kristall, denn er wusste, dass der Kristall so aktiviert werden musste. Nichts jedoch geschah. Er versuchte es noch einmal. Vergeblich. »Hmm. Er lässt sich nicht aktivieren.«
»Wahrscheinlich ist er kaputt«, sagte Antilius.
»Das glaube ich nicht. Brelius hätte niemals irgendwelchen Ramsch gekauft. Vielleicht muss man die Sache anders angehen.«
Pais nahm den Kristall, umschloss ihn mit beiden Händen und schlug ihn mehrmals auf die Tischkante, sodass einige Gegenstände und Schriftrollen herunter purzelten, darunter auch eine der Linsen, die in vier gleichgroße Scherben zerbrach. Ein leises Pfeifen ertönte. Dann veränderte sich der Kristall, und eine männliche Stimme erklang. Zunächst war sie noch verzerrt und etwas abgehackt und klang nach nichts Menschlichem. Aber dann wurde sie klarer.
»Na bitte! Geht doch«, triumphierte Pais.
Antilius, Pais Ismendahl und auch Gilbert hörten gespannt der Stimme von Brelius Vandanten aus dem Kristall zu:
» Datum: 21. Phlogiston.
Die letzte Nacht habe ich wie so viele zuvor durchgearbeitet. Meine Begeisterung und meine Leidenschaft für dieses Projekt lassen aber meine Konzentration nicht schwinden.
Ich muss mir selbst eingestehen, dass ich mich in letzter Zeit selbst überfordert habe. Ich werde mir erst einmal ein paar Tage Ruhe gönnen und danach entscheiden, wie ich weiter verfahre.«
»68. Phlogiston.
Ach, ich kann an nichts anderes mehr denken! Dieses Ding schwirrt mir Tag und Nacht durch den Kopf. Dieser dumme Stein! Verflucht ist er! Ja, verflucht! Hätte ich ihn doch nur nie in die Hände gekriegt.
Doch ich will von vorne beginnen: Ich habe schon fast wieder vergessen, dass ich dieses Tagebuch nicht für mich aufzeichne. Ich werde alles erklären, was bisher geschehen ist.
Lange Zeit habe ich gebraucht, um es zu analysieren und zu verstehen. Das AVIONIUM. So habe ich es genannt. Es handelt sich dabei um ein Gestein, welches nur im Adler-Gebirge vorkommt, also auf der anderen Seite der Schlucht in den Ahnenländern.
Ich habe diesen blau schimmernden Wunderstein einem alten Mann abgekauft. Er war Händler und sagte mir mit verschwörerischem Blick, dass dieser Stein verhext sei und merkwürdige Eigenschaften habe. Der Stein solle schweben können, nachts, wenn man schläft und nichts davon merkt. Und böses Unheil könne er anrichten und alte Geister beschwören. Niemand wollte deshalb angeblich diesen Stein haben. Genau das weckte meine Neugier, rief aber auch Skepsis in mir hervor – schließlich bin ich Wissenschaftler. Ich fragte ihn, woher er ihn habe, denn ich wusste, dass es keinen Weg zu dem Gebirge gibt, aus dem dieser Stein stammt. Es gibt keine Brücke, die über die riesige Schlucht führt. Die andere Seite wird zudem seit dem Königskrieg schwer bewacht. Auch vom Meer her kommt man nicht in die Ahnenländer. Jeder, der es wagte, sich mit einem Boot, egal wie groß oder wie stark es gebaut war, der Küste der Ahnenländer zu nähern, bezahlte es mit seinem Leben. So jedenfalls erzählen es unzählige Geschichten. Keiner hat sich deshalb in den letzten Jahrzehnten getraut, dieses Gebiet zu betreten. Doch der alte Mann erklärte mir nur schroff, dass er ihn von seinem Vater habe, der schon vor mehr als 40 Jahren starb. Und dieser habe ihn ebenfalls von seinem Vater vererbt bekommen. Obwohl es sich um ein Erbstück mit ideellem Werte handele, so der Händler, sei er gezwungen, den Stein zu verkaufen.
Ich nahm den Stein mit nach Hause und untersuchte ihn genauer.
Ein paar Tage später fiel mir zufällig etwas Merkwürdiges auf: Ich verglich das Gewicht des Steins mit ein paar anderen Gesteinsproben. Ungläubig stellte ich fest, dass das Gewicht eines anderen Steines, den ich in der Verlassenen Wüste gefunden hatte, schwankte. Ich dachte zuerst, meine teure Waage hätte einen Defekt. Ich kaufte mir sogar eine neue, aber das Gewicht schwankte immer noch. Mal war er leichter, mal schwerer. Unmöglich! Dann enträtselte ich die Ursache. Beiläufig schob ich während der Messungen den neben der Waage liegenden Avionium-Stein beiseite, worauf sich das Gewicht des Wüsten-Steins schlagartig erhöhte. Ich schob das Avionium wieder näher an die Waage heran und der Wüsten-Stein wurde leichter. Ich habe den Versuch mit allen anderen möglichen Gegenständen durchgeführt, alle mit demselben Ergebnis: Das Avionium war imstande, das Gewicht von Gegenständen in seiner näheren Umgebung zu verringern. Eine fantastische Entdeckung! Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
Allmählich wurde mir klar, welche Möglichkeiten sich durch diese Entdeckung ergaben. Würde man mehr von dem Avionium verwenden, könnte man damit schwere Lasten leichter transportieren. Meine Gedanken überschlugen sich. Unzählige Einsatzbereiche schwirrten mir durch den Kopf. Unzählige Erfindungen, die ich damit machen könnte.
Trotz meiner Euphorie ließ ich mich nicht von meiner Dummheit übermannen. War dies alles vielleicht nur ein Schwindel? Hatte ich bei meinen Untersuchungen einen Fehler gemacht? Ich musste Sicherheit haben, und so wiederholte ich meine Untersuchungen zwei Tage und zwei Nächte lang. Meine ersten Messungen bestätigten sich jedoch, sodass meine Zweifel beiseite geräumt wurden.
Doch damit nicht genug! Während meiner Forschungen stieß ich auf ein weiteres Mysterium: In der Nacht, in welcher der größere von beiden Monden, Quathan, ein Vollmond war, verzeichnete ich beim Avionium die stärkste Kraftwirkung. Das Avionium selbst könnte demnach Mondgestein sein. Vielleicht ist dieses kleine Stück sogar ein Rest des nur in Legenden existierenden dritten Mondes Wuthan.
Ich war wie besessen von diesem kleinen unscheinbaren Stück Stein. Und plötzlich schoss mir eine noch viel kühnere Idee durch den Kopf: Könnte dieser Zauberstein es sogar fertig bringen, die Schwerkraft ganz aufzuheben? Schließlich hat mir der alte Mann ja gesagt, der Stein könne schweben. Ich musste also herausfinden, welche Bedingungen herrschen müssten, um die Schwerelosigkeit zu erreichen.
Meine weiteren Untersuchungen brachten mich schließlich auf die recht simple Lösung: Ich brauchte noch mehr Avionium. Nur auf diese Weise wäre es möglich, Gegenstände und auch das Avionium selbst zum Schweben zu bringen.
Und damit begann mein Problem. Ich habe berechnet, dass ich mindestens fünfzig ebenso große Steine wie mein Exemplar brauchen würde. Es ist bisher die einzige Lösung, die ich gefunden habe, und ich bin ziemlich sicher, dass es auch die einzige ist.
Aber ich ... ich weiß einfach nicht, woher ich es bekommen soll. Ich habe den alten Mann, der mir den Stein verkauft hat, mehrmals eindringlich gefragt, ob er mir nicht helfen könne, mehr zu finden, aber er gibt sich ahnungslos. Ich glaube ihm.
Der einzige Ort, an dem ich noch mehr Avionium finden könnte, wäre im Adler-Gebirge in den Ahnenländern. Abgesehen davon, dass es verboten ist, die Ahnenländer zu besuchen, weiß ich absolut nicht, wie ich dort hingelangen soll. Ich habe mir eine Karte besorgt. Die Schlucht, die die Länder von Truchten trennt, ist mindestens einhundert Meter breit und vierhundert Meter tief. Zudem besteht die Schlucht nur aus Steilwänden. Die Ahnenländer sind eine Insel, die ausschließlich von jenen legendären Steilwänden begrenzt ist. Unmöglich da hinzukommen. Den Versuch, die Länder von der anderen, also der von Truchten abgewandten Seite über das Meer zu erreichen, habe ich mir aus dem Kopf geschlagen. Es gibt zwar viele Dinge, die ich tun würde, um an das Avionium heranzukommen, Selbstmord gehört jedoch nicht dazu. Die Ahnenländer sind vielleicht zu Recht die bestgeschützten Gebiete, die es jemals gab. Die Ahnen haben dafür gesorgt, dass niemand Unerwünschtes diese geheimnisvollen Böden jemals betreten kann. Aus welchem Grund auch immer.
Vielleicht wussten sie schon damals um die Wirkung des Avioniums und wollten es auf diese Weise beschützen? Aber warum nur? Oder es gab noch einen anderen Grund?
Wenn ich doch nur eine Lösung wüsste! Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen versuchen, mich ein wenig abzulenken. Ich werde meine Tochter besuchen. Vielleicht kriege ich dann wieder einen klaren Kopf und mir fällt noch etwas ein.«
» 73. Phlogiston.
Heute habe ich meine Tochter Telscha besucht. Sie schreibt in einer Dichtergilde gerade an einem Buch über die heilende Wirkung von Pflanzen. Ich habe, als sie mir das erste Mal darüber erzählt hat, nicht daran geglaubt, dass Pflanzen wirklich irgendwelche heilende Wirkung haben könnten. Aber im Laufe der Zeit hat sie mir das Gegenteil bewiesen. Es fällt mir wohl noch immer schwer zu akzeptieren, dass sie mittlerweile erwachsen ist und ihren eigenen Weg geht. Sie ist so klug und arbeitet mit solch einer Leidenschaft.
Ich bin sehr stolz auf sie.
Ich habe ihr von dem Avionium erzählt und in welchem Dilemma ich jetzt stecke. Sie wollte mich aufheitern und sagte: ‚Wusstest du übrigens, Vater, dass vor bis etwa sechshundert Jahren die Ahnenländer jedermann zugänglich waren? Zumindest besagen dies die wenigen Alten Schriften, die aus dieser Zeit noch übrig sind. Wenn du zurück in die Vergangenheit reisen könntest, würdest du die Ahnenländer betreten können.'
Es war nicht ernst gemeint, aber ich nahm den Vorschlag ernst. Soweit ich weiß, sind Zeitreisen gar nicht möglich, aber dennoch: Es ist ein verlockender Gedanke. Ich werde gleich morgen die Bibliothek aufsuchen, um mehr über Zeitreisen zu erfahren. Mag sein, dass ich verrückt bin. Aber ich weiß ganz genau, dass ich keine Nacht mehr ruhig schlafen kann, wenn ich der Sache nicht weiter nachgehe, egal wie irrsinnig sie auch erscheinen mag.«
» 88. Phlogiston.
Tage und Nächte habe ich nun Bücher gewälzt und wenige, aber aufschlussreiche Dinge erfahren:
Verschiedenen alten Legenden zufolge existierten vor mehreren Hundert Jahren sogenannte Dunkle Tore. Zwei Stück soll es gegeben haben. Über ihre Entstehung ist angeblich nichts bekannt. Jedenfalls nichts, das auf glaubwürdigen Fakten beruht.
Es war auch die Rede von einem Dämon, der sich hinter den Toren verbergen sollte. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.
Die beiden Tore schienen tatsächlich Zeitreisen ermöglichen zu können. Und dies war die Ursache für etliche kleinere Kriege, die unsere Vorfahren führten, weil es immer jemanden gab, der die Macht dieser Bauten missbrauchen wollte. Man entschied sich, die Tore zu verstecken, um weitere Konflikte zu vermeiden.
Sie ließen sich nur mit einem Schlüsselstein aktivieren. Auch dieser Stein wurde zusammen mit einem Buch, dem ‚Flüsternden Buch’, welches das Geheimnis der Tore enthalten soll, versteckt. Eines der beiden Tore, das Buch und der Stein gelten als verschollen. Nicht jedoch das zweite Tor. Dieses Tor soll immer noch existieren. Es gibt jedoch keinen Hinweis, wo.
Das ist alles äußert faszinierend, aber wenn ich weder weiß, wo das Zeittor ist, noch ob dieser Schlüsselstein überhaupt noch existiert, kann ich die Idee mit der Zeitreise wohl wieder vergessen.
Du meine Güte! Ich bin Wissenschaftler! Habe ich wirklich an diesen Unsinn geglaubt?
Ich denke, ich habe nur viel Zeit mit diesem Zeitreisemärchen verschwendet.«
» 16. Aquanius.
Ich kann es kaum glauben!
Natürlich habe ich nicht sofort aufgegeben und habe weiter recherchiert. Dabei bin ich auf wichtige Merkmale des ominösen Schlüsselsteins gestoßen, und wenn mich nicht alles täuscht, dann halte ich den Schlüsselstein bereits in meinen Händen. Das Avionium! Alles deutet darauf hin, dass er es ist. Er wurde in den Texten als magisch und beeinflussend beschrieben. Seine Form soll der einer Pyramide ähnlich sehen, und er soll blau schimmern. Und genau das macht er auch. Und er kann die Schwerkraft beeinflussen!
Die Sache wird langsam richtig aufregend. Kann es denn sein, dass mir ein solches Glück widerfahren ist, dass ich nicht nur auf das Avionium gestoßen bin, sondern auch damit auf den Schlüsselstein, der schon seit Generationen als verschollen galt? Auf welch ein Abenteuer bin ich hier nur gestoßen?«
» 28. Aquanius.
Ich bin so erschöpft! Ich habe jedes Buch, jede Seite, jeden Schnipsel durchgesehen, um etwas über den Aufenthaltsort des Zeittores herauszufinden. Vergebens.
Es ist so deprimierend. Ich bin vielleicht auf das größte Mysterium dieser Zeit gestoßen und komme einfach nicht weiter. Ich will aber noch nicht aufgeben. Ich will nicht!«
» 56. Aquanius.
Ich habe alles versucht und bin am Ende meiner Ideen und Kräfte. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als aufzugeben. Ich werde mich in der nächsten Zeit wieder meinen Glühwürmchen widmen. Sie waren bisher immer das Einzige, was mich zum Lächeln gebracht hat.«
» 3. Terranus.
Ich hatte heute Nacht einen Traum. Einen Albtraum. Es war sehr merkwürdig. Er war so real.
Ich stand an einem Abgrund, an der Schlucht, die an die Ahnenländer grenzt. Ich schaute hinunter in die Tiefe. Plötzlich ertönte hinter mir eine Stimme, die sagte, ich solle nach Süden gehen. Immer wieder wiederholte sie: ‚Gehe nach Süden!’
Im Traum wollte ich antworten. Ich wollte sagen, dass ich nicht nach Süden gehen will. Ich habe Angst davor, ohne zu wissen, warum, doch ich konnte nicht sprechen.
‚Gehe nach Süden!’, befahl mir die Stimme, doch ich konnte nicht antworten. Ich hatte unerklärliche Angst davor. Ich versuchte zu schreien, aber ich blieb stumm.
‚Gehe nach Süden!’, schrie die Stimme. Ich geriet in Panik. Ich war unfähig zu antworten. Und dann sprang ich. Ich sprang in die Tiefe. Ich hatte solche Angst davor, dem Befehl der Stimme zu folgen, dass ich mich lieber in die Tiefe stürzte.
Schweißgebadet wachte ich auf. Was war das nur für ein schrecklicher Traum? Nein, es war mehr als das. Was hatte das zu bedeuten?
Hoffentlich träume ich ihn heute Nacht nicht wieder.«
Als Antilius der brüchigen Stimme von Brelius zuhörte, die vom dritten Terranus dieses Jahres stammte, lief ihm langsam ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die Schlucht. Es war dieselbe Schlucht, von der auch Antilius vorletzte Nacht geträumt hatte. Er war sich dessen absolut sicher, auch wenn Brelius die Schlucht aus seinem Traum nicht näher beschrieben hatte. Und die Stimme. Die Stimme, die Brelius befohlen hatte, nach Süden zu gehen. War es dieselbe, die Antilius ermahnte umzukehren?
»Es ist dieselbe Stimme«, flüsterte Antilius so leise, dass Pais und Gilbert es nicht hören konnten.
Mit zugeschnürter Kehle hörte er sich den Rest des Tagebuchs an, das im Kristall aufbewahrt war.
» 6. Terranus.
Ich zittere am ganzen Leib! Vier Nächte hintereinander derselbe Albtraum. Das kann kein Zufall sein. Was geschieht nur mit mir? Werde ich jetzt verrückt?
Ich fürchte mich.
Ich wollte es mir zwar bis jetzt nicht eingestehen. Aber sollte dieser Traum vielleicht ein Hinweis darauf sein, wo ich das Tor finden könnte? Im Süden von Truchten? Oder verliere ich einfach nur meinen Verstand?«
» 10. Terranus.
Ich schlafe kaum noch. Und wenn ich einen Moment einnicke, dann beginnt der gleiche Albtraum, wieder und wieder. Und immer mehr verspüre ich den Drang, mein Heim zu verlassen und zu gehen. Nach Süden zu gehen. Ich weiß nicht, wohin, einfach nach Süden, so wie es diese entsetzliche Stimme mir befiehlt. Sie bohrt sich in meinen Kopf und drängt mich, nach Süden zu gehen. Ich bin schon zu einem Heiler gegangen. Dieser Taugenichts meinte nur höhnisch, dass ich überarbeitet sei. Ha! Ich bin nicht verrückt! Nein, ich bin nicht verrückt.«
» 11. Terranus.
Ich halte es nicht mehr aus! Es ist, als ob tausend heiße Nadeln in meinem Kopf sind. Deswegen habe ich einen Entschluss gefasst: Ich werde reisen. Ich gehe nach Süden. Ich habe keine Ahnung, was mein Ziel sein soll, aber ich fühle, dass ich es tun muss, sonst werde ich endgültig wahnsinnig. Ich muss nur noch eine Sache erledigen, dann breche ich auf.«
» Datum unbekannt. Früher Abend.
Wie lange bin ich jetzt schon unterwegs? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal mehr genau, wo ich bin. Ich habe das Gefühl, dass ich ständig beobachtet werde. Seit meine Reise begonnen hat, haben die Träume wenigstens aufgehört. Aber der Drang weiterzugehen, nach Süden zu gehen, wird immer stärker. Irgendetwas treibt mich. Und irgendjemand lenkt mich. Manchmal höre ich tagsüber eine Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, ich solle mich beeilen. Sie peitscht mich vorwärts. Es ist schrecklich. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich habe keine Kontrolle mehr über mich. Meine Gedanken schwirren unkontrolliert in meinem schmerzenden Kopf herum. Manchmal habe ich Blackouts, die sich über viele Stunden erstrecken. Ich wandere zu einem Ziel, das ich nicht kenne.
Die fremde Stimme beherrscht und verhöhnt mich.
Ich bin eine Marionette.
Ich bin verflucht.«
» 36. Terranus.
Ich weiß nicht, wieso, aber ich glaube, dass ich mein Ziel erreicht habe. Ich bin in einer Stadt, die von hünenhaften Wesen bewohnt gewesen sein muss. Ich weiß zwar, dass ich noch nie hier gewesen bin und dass ich noch niemals von diesem Ort gehört habe, aber ich scheine mich hier auszukennen. Es ist nicht mehr weit, sagt mir die fremde Stimme. Ich bin fast da. Was wird mich erwarten? Wieso kann ich mich nicht wehren? Ich bin schwach.
Ich stehe jetzt davor. Träume ich? Nein, es ruht direkt vor mir und flößt mir Angst ein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich in dieses unterirdische Verlies gekommen bin. Ich habe aber das Gefühl, dass ich fast ertrunken wäre. Wahrscheinlich will die fremde Stimme nicht, dass ich mich erinnere, wie ich hierhergekommen bin. Das erklärt die vielen Blackouts, die ich in den letzten Tagen hatte.
Es ist das Zeittor. Ich stehe davor. Ich bin in einer unterirdischen Kammer. Es ist ganz warm. Es zieht mich an. Es will, dass ich es benutze. Jahrhundertelang harrte es hier im Dunkeln aus und hat nur darauf gewartet, dass es jemand findet. Dass ich es finde. Ich versuche, mich zu wehren. Ich möchte fliehen, aber die fremde Stimme in meinem Kopf ist stärker als ich.
Es frisst mich auf. Ich werde es mit dem Avionium aktivieren, das ich die ganze Zeit bei mir trage und hindurchgehen. Ob ich will oder nicht, ich kann nichts dagegen unternehmen. Die Stimme wird mir sagen, was ich tun muss. Sie befiehlt über mich.
Noch vor Kurzem war es mein größter Wunsch, es zu finden. Ich hätte mich vor Freude überschlagen. Doch jetzt möchte ich diesen Ort am liebsten verlassen. Ein jahrhundertealtes Verbot soll ich brechen. Irgendetwas, das mächtiger ist als ich selbst, befiehlt mir, es zu benutzen. Ich bin das Opfer eines niederträchtigen Spiels.
Ich werde gezwungen, durch das Zeittor zu gehen. Ich weiß, dass es falsch ist. Ich ahne, dass ich großes Unheil heraufbeschwören werde, wenn ich das Zeittor benutze. Und trotzdem muss ich es tun. Ich kann mich nicht wehren. Denn, wenn ich es nicht mache, verliere ich unwiederbringlich meinen Verstand.
Mögen mir die Ahnen vergeben.«
» 38. Terranus.
Wie ein böser Traum sind mir die letzten Tage in Erinnerung. Ich bin jetzt wieder daheim. Erschöpft und ausgelaugt.
Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich durch das Tor schritt. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Schließlich fand ich mich hier wieder. In meinem Zuhause. Ich habe meinen Mondchronometer geprüft und festgestellt, dass zwischen meinem Eintritt in das Zeittor und meinem Erwachen nur zwei Tage vergangen sind. Unmöglich, dass ich die ganze Strecke zurück zu Fuß gegangen bin.
Was nach meinem Eintritt in das Zeittor geschehen ist, kann ich nur vermuten. Die Tatsache, dass ich den Weg von dem Ort, an dem ich das Zeittor auffand, und meinem Zuhause in nur zwei Tagen zurücklegte, kann ich mir nicht erklären.
Wenn ich mich doch nur entsinnen könnte!
Ein Gutes hat die Sache jedenfalls. Dieses Gefühl, von einer fremden Macht beherrscht zu sein, ist verschwunden. Ebenso der Drang, irgendetwas tun zu müssen oder Dinge zu wissen, von denen ich zuvor nicht die leiseste Ahnung hatte.
Seit ich wieder in meinen vertrauten vier Wänden sitze, fühle ich, wie sich die Anspannung löst. Alles scheint normal zu sein, so wie vorher, als wäre nichts geschehen. Eine trügerische Ruhe?
Auf jeden Fall hoffe ich, dass meine Reise unbemerkt geblieben ist. Ich werde niemandem erzählen können, was mir widerfahren ist. Es würde mir ja ohnehin niemand glauben.
Ich hoffe, der Spuk hat jetzt ein Ende. Und ich hoffe, dass ich keinen Schaden angerichtet habe.«
» 75. Terranus.
Hat das denn nie ein Ende? Womit habe ich das nur verdient?
Ich werde schon wieder von Albträumen geplagt. Diesmal sind sie jedoch anders. Sie sind zwar auch bedrohlich, aber bei Weitem nicht so schrecklich wie die vorhergehenden. Außerdem sind sie unterschiedlich. Ich glaube, sie haben etwas mit den Dingen zu tun, die gerade geschehen sind, nachdem ich durch das Zeittor geschritten bin. Ich muss Dinge gesehen haben, die mein Kopf im Wachzustand verdrängt hat. Gesichter, Orte, Gespräche und Namen. Das alles sehe und höre ich in meinen Träumen, aber alles ist äußerst verschwommen. Jemand spricht auch in diesen Träumen zu mir, doch ist es nicht dieselbe Stimme wie früher. Es sind mehrere Stimmen, die gleichzeitig zu mir sprechen. Die Stimmen klingen so wie die meine.
Es ist fast so, als ob jemand versucht, mir in meinen Träumen etwas mitzuteilen. Versucht, meine Erinnerung wiederzubeleben. Ich habe Dinge gesehen, die nicht für meine Augen bestimmt waren. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Dass es nichts Gutes ist, fühle ich aber.«
» 77. Terranus.
Die Träume gehen weiter. Immer mehr Information bekomme ich durch sie. Nur jedes Mal, wenn ich wieder aufwache, verblassen die Bilder, die ich gesehen habe. Eines ist aber sicher: Etwas Böses ist im Gange. Eine Verschwörung dunkler Mächte.
Und dann sehe ich immer wieder eine Person, die mir unbekannt ist. Sie ist jedoch nicht Teil des Bösen. In meinen Träumen bekämpft sie es.
Ich habe jetzt keine Angst mehr vor diesen Träumen. Ich muss herausfinden, was ich gesehen habe. Meine Träume sind der Schlüssel zur Wahrheit«.
» 78. Terranus.
Bei den Ahnen! Wenn es wahr ist, was ich in meinem letzten Traum gesehen habe, dann wird etwas Schreckliches passieren. Ich kann es mir noch nicht genau erklären, aber ich habe eine Vermutung. Es ist ein verwirrendes Spiel, das das Böse hier treibt. Es geht um Macht über ... Wie soll ich es beschreiben? Macht über alles, über unser aller Leben, über den ganzen Planeten! Ich benötige vielleicht nur noch einen Traum, dann werde ich wissen, worum es hier geht. Wer für meine neuen Träume verantwortlich ist, weiß ich zwar nicht, aber ich bin mir sicher, dass man mir versucht zu helfen, eine Katastrophe zu verhindern. Eine Katastrophe, die ich durch meine Reise zum Zeittor ausgelöst habe.
Ich fühle mich so schrecklich und habe furchtbare Angst.«
» 79. Terranus.
Es ist noch viel schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. Und das Allerschlimmste ist, dass ich der Auslöser für alles Unheil bin, das über uns kommen wird. Ich bin benutzt worden. Benutzt von diesem abscheulichen Widerling. Seine Namen kenne ich nicht, aber das ist jetzt ohne Bedeutung. Er war es, der mich dazu gezwungen hat, das Zeittor zu aktivieren. Er will es haben. Das ist es, was ich in meinen Träumen wahrgenommen habe. Er will es aus seinem Versteck entwenden. Und ich habe ihm dabei geholfen, es zu finden und zu öffnen.
Ich habe mich gefragt, warum er mir den Schlüsselstein nicht einfach gestohlen hat, um ihn dann selbst zu benutzen. Die Antwort ist einfach: Er war zu feige, das Tor selbst zu öffnen, weil er Angst hatte, es könnte ihn umbringen. Jetzt, da ich diese Arbeit für ihn unfreiwillig erledigt habe, ist er großer Hoffnung, das Zeittor stehlen zu können. Wenn er es in die Hände bekommt, ist er fähig, zum mächtigsten Wesen der Welt zu werden.
Eine uralte Macht verbirgt sich in diesem Tor. Ich habe sie gespürt. Sie darf nicht befreit werden.
Ich habe keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Ich muss versuchen, meinen Fehler wieder gutzumachen. Vielleicht bin ich in der Lage, alles wieder rückgängig zu machen. Dazu muss ich noch einmal zurück zum Zeittor.
Ich habe noch demjenigen, der mir ebenfalls in meinen letzten Träumen erschienen ist, eine Nachricht zukommen lassen. Falls ich meine Träume richtig interpretiert habe und ich scheitern sollte, ist er der Einzige, der die Sieben Inselwelten vor dem Untergang noch retten kann. Ich werde ihm diesen Stimmenkristall hier in meinem Haus lassen. Ich glaube, dass er hier am sichersten ist, denn ich kann niemandem mehr trauen - auch das habe ich in meinem letzten Traum erfahren. Von diesem Scheusal, das mich benutzt hat, habe ich nichts mehr zu befürchten, denn es braucht mich ja nicht mehr und giert jetzt nur noch nach dem Tor. Es glaubt, nichts mehr befürchten zu müssen.
Und was den Fremden angeht, dem ich den Brief geschickt habe: Er heißt ‚Antilius’. Diesen Namen werde ich nie vergessen. Mein letzter Traum hat mir den Namen verraten.
Und damit spreche ich Euch jetzt direkt an, Herr Antilius:
Wenn ich nicht zurückgekehrt sein sollte und Ihr diese Nachricht gefunden und gehört habt, dann sucht meine Tochter auf. Sie wird Euch Weiteres erklären können. Bitte glaubt mir, dass ich es sehr ernst meine. Ich betone noch einmal ausdrücklich, dass Ihr womöglich die letzte Hoffnung seid, für mich und für ganz Thalantia. Bitte helft mir und sprecht mit meiner Tochter. Ihr werdet sie in der Dichtergilde finden.
Und noch etwas: Ich weiß, dass er Euch bereits wahrgenommen hat. Vermutlich habt Ihr ihn auch schon in einem Eurer Träume gesehen. Dort hält er sich gerne auf. Oh, wie sehr ich ihn dafür hasse!
Ich hoffe, mein Brief hat Euch erreicht und überzeugt, Herr Antilius. Ich breche jetzt erneut zum Zeittor auf, um es zu zerstören, bevor er es missbraucht.
Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
Als der Kristall schließlich nach einem unangenehmen Rauschen verstummte, legte sich eine beunruhigende Stille über das Haus des Sternenbeobachters. Keiner wusste in diesem Augenblick, was er von dieser außergewöhnlichen Botschaft halten sollte.
Sogar Gilbert verschlug es die Sprache.
Am stärksten traf es aber Antilius. Brelius hatte angegeben, dass Antilius ihm in seinen Träumen erschienen war. Sogar seinen Namen wusste er. Woher? Und dann noch dieser mysteriöse Fremde, der das aktivierte Zeittor stehlen wollte, und der ihn anscheinend auch kannte. Sofort fiel ihm wieder sein absonderlicher Traum ein, den er auf der Schifffahrt gehabt hatte. Sollte dieser Unbekannte, der Brelius in seinen Träumen heimgesucht hatte, wirklich der gleiche sein, der sich in seinen Traum gedrängt hatte? Der Gedanke beunruhigte ihn zutiefst.
»Pais, kannst du mir das erklären? Was hat das alles zu bedeuten? Ich hoffe, dies sollte ein Scherz sein, und wenn es so ist, dann finde ich ihn nicht besonders komisch«, sagte er mit starrem Blick auf den Kristall.
»Ich versichere dir, das war kein Witz. Ich selbst bin völlig überrascht von dieser Botschaft. Nein, ich bin schockiert. Nach dem, was ich da gehört habe, kann ich kaum glauben, dass es Brelius aufgezeichnet haben soll.«
»Hast du die Stimme wiedererkannt? Glaubst du, es war nicht Brelius?«
»Doch, das war er. Da bin ich mir völlig sicher. Nur das, was er erzählt hat, ist einfach unglaublich.«
»Unglaubhaft«, warf Gilbert ein. »Ihr werdet doch nicht diesem Märchen Glauben schenken. Ich meine, der erzählt irgendetwas von Zeitreisen, Zeittoren und großem Unheil, das uns alle überkommen wird. Der Typ ist verrückt! Das ist doch völlig klar.«
»Wohl kaum verrückter als du«, verteidigte Pais seinen verschwundenen Freund.
»Ja klar, nimm ihn ruhig in Schutz, den alten Saufbold. Ja, Antilius, bevor du dir über irgendetwas Sorgen machst, solltest du wissen, dass Pais und Brelius, wenn sie sich nicht gerade mit ihren Glühwürmern bespielten, mit der Flasche gespielt haben. Und zwar so lange, bis sie sturzbetrunken waren und dann in ihrem Rausch die wildesten Fantasien entwickelt haben.«
Pais lief rot an: »Du kleiner, widerlicher ...«
»Das interessiert mich ehrlich gesagt nicht«, unterbrach ihn Antilius. Pais ballte die Fäuste und starrte Gilbert mit hasserfülltem Blick an.
»Ob er nun getrunken hat oder nicht, tut, denke ich, hier nichts zur Sache. Mich würde eher interessieren, woher er meinen Namen kennt. Ich komme aus einem sehr kleinen Dorf. Und dieses Dorf liegt nicht mal auf dieser Inselwelt. Es ist eigentlich unmöglich, dass er mich kennt. Niemand auf Truchten kennt mich.«
Doch, es ist möglich. Brelius hat auch von ihm geträumt, von dem Mann ohne Gesicht. Er hat auch von der Schlucht geträumt, so wie du. Soll das ein Zufall gewesen sein? Nein, das war es nicht. Also kann er auch deinen Namen im Traum gehört haben. Wieso soll das nicht möglich sein?«, sagte eine Stimme in Antilius’ Kopf, die seine eigene war.
Pais bemerkte, dass sich Antilius Sorgen machte. Er wollte gerade etwas zu seiner Beruhigung sagen, aber dann ließ er noch einmal die ominöse Botschaft von Brelius in seinem Kopf Revue passieren und bemerkte, dass er selbst ein wenig Angst verspürte. »Ich fürchte, Brelius hat den Verstand verloren«, war das Resümee seiner Überlegungen.
»Wir müssen ihn suchen. Wir müssen dieser Sache nachgehen«, sagte Antilius tonlos.
»Wir wissen doch überhaupt nicht, wo er hingegangen ist«, erwiderte Gilbert.
»Süden. Er erzählte etwas von einer Stadt, die von großen Wesen bewohnt gewesen sein soll. Vielleicht meinte er damit die Largonen? Sie sind sehr groß«, gab Pais zurück.
»Spekulieren hilft jetzt nichts. Die Ebenen im Süden sind sehr weitläufig, soweit ich weiß. Nein, wir werden das tun, was er gesagt hat. Wir suchen seine Tochter auf. Ich nehme an, du weißt, wo sie wohnt?«, fragte Antilius.
Pais nickte geistesabwesend.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Antilius mehr genervt als besorgt, denn eigentlich sollte er derjenige sein, der vor Schreck geistesabwesend war.
»Was? Ja, ja. Ich dachte nur gerade an die Zeit, als Brelius und ich die Glühwürmer dressiert hatten.« Pais hielt inne und wurde plötzlich kreidebleich. »Du meine Güte! Die Glühwürmchen!«
Während er diese Worte fast theatralisch ausstieß, fasste er sich an seine Stirn, wirbelte herum und stürmte aus dem Zimmer. Danach sah Antilius ihn nur noch draußen an einem der beiden Fenster vorbeihechten.
»Was ist denn nun los?«, fragte er und schaute nach einer Antwort suchend Gilbert im Spiegel an. Der rollte nur mit den Augen und machte eine wegwerfende Geste. Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung entschloss sich Antilius, dem Bärtigen zu folgen.
Schon kurz bevor er sich der Hinterseite der einfachen Hütte näherte, hörte er Pais in einer für ihn lächerlichen Art und Weise sprechen. »Hab ich euch ganz vergessen? Hattet ihr auch keine Angst? Jetzt bin ich ja für euch da. Jetzt braucht ihr keine Angst mehr zu haben.«
Ein sonderlicher Anblick bot sich Antilius und Gilbert. Pais saß im Schneidersitz auf der Erde und liebkoste mit seinen Händen zwei etwa hühnereigroße Käfer, die selbst bei der mittlerweile herabscheinenden Abendsonne noch ein fluoreszierendes gelb-grünes Licht von sich gaben.
»Ach, was für ein göttliches Bild! Der alte Pais wieder vereint mit seinen Liebsten. Seinen Würmern«, spottete Gilbert. Er konnte es nicht lassen.
»Es sind keine Würmer, sondern Käfer!«, grunzte der Beleidigte zurück, ohne die Streicheleinheiten für die kleinen stummen Tierchen zu unterbrechen.
»Ach, und warum heißen sie dann Glühwürmer?«
»Lies es doch nach, du hohle Birne!«
Gilbert wollte zum verbalen Gegenschlag ausholen, wurde jedoch von Antilius daran gehindert, indem er den Spiegel kopfüber drehte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»He!«, beschwerte sich Gilbert und verstummte daraufhin beleidigt.
»Tu uns bitte einen Gefallen und wirf diesen verfluchten Spiegel in den Fluss. Erlöse uns von diesem Quälgeist«, stöhnte Pais genervt.
»Du wirst dich daran gewöhnen müssen«, erwiderte Antilius.
Pais hörte schon gar nicht mehr zu, sonst wäre er wohl gleich wieder in Rage geraten. Stattdessen widmete er sich wieder den Riesen-Glühwürmern. »Ich habe fast vergessen, wie schön sie sind!«, schnurrte er verträumt.
»Ich dachte, du und Brelius, ihr habt gemeinsam diese Zucht betrieben?«
»Ja, aber kurz bevor er seine erste Tagebuchaufzeichnung machte, hatten wir einen kleinen Disput. Ich habe eine Reise gemacht, und so haben wir uns irgendwie aus den Augen verloren. Wäre ich nicht so dumm gewesen und gekränkt von dannen gezogen, dann hätte ich ihn vielleicht wieder zur Vernunft bringen können.«
Antilius sog die kühle, trockene Abendluft ein.
»Das ist jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Ich möchte, wenn es möglich ist, noch heute mit der Tochter dieses Mannes sprechen.«
»Ich würde gern noch einen Moment hierbleiben, wenn es dir nichts ausmacht. Sie wohnt in der Dichtergilde, gleich drei Häuser hinter der Taverne, in der wir uns heute Mittag getroffen haben.« Pais wirkte auf einmal so ungewöhnlich sanft. Diese Tiere mussten ihm wirklich viel bedeuten.
»Also gut. Ich werde allein gehen. Wir treffen uns dann wieder hier. Einverstanden?«
»Gut. Aber ...«
»Was?«
»Vergewissere dich, dass du den Spiegel nicht vergisst.«
Antilius verließ ihn und schritt entschlossen dem Meer der kleinen Häuser und der dahinter untergehenden blutroten Abendsonne entgegen.
Er war sich absolut sicher, dass Brelius und er von demselben Mann in ihren Träumen heimgesucht wurden. Er glaubte an das, was Brelius in seinem Tagebuch berichtet hatte. Das Zeittor existierte wirklich und stellte eine Bedrohung für Thalantia dar.
Etwas Unheimliches braute sich hier zusammen.