Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 23
Das alte Wesen aus Sand
ОглавлениеEs sollten noch sieben Tage vergehen, ehe Antilius dem Sandling begegnen würde.
Den Tag nach der Begegnung im Stein der Zeit und einen ganzen weiteren Tag war Pais damit beschäftigt, weiter nach Haif zu suchen. Er konnte ihn jedoch nicht finden und nahm schließlich widerwillig das Schlimmste an.
Antilius nutzte die Zeit, sich auszuruhen und seinen Knöchel zu schonen.
Am nächsten Morgen packten sie ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich schließlich auf, die Festung der Largonen zu finden.
Die folgenden Tage waren leidvolle Tage für Antilius. Der gestauchte Fuß wollte sich nicht bessern. Pais schnitzte ihm aus einem Ast eine Gehhilfe, auf die er sich stützen konnte. Außerdem hatte er es geschafft, einige Pflanzen zu sammeln, die er zerrieb und auf die verletzte Stelle auftrug. Und tatsächlich linderte es ein wenig den Schmerz, und die Schwellung ließ langsam etwas nach.
Immer wieder mussten sie pausieren. Antilius wurde immer schwächer. Gefühlte tausendmal dachte er darüber nach umzukehren, doch das wäre sinnlos gewesen. Der Rückweg wäre noch viel länger ausgefallen, weil sie auf die Amedium-Gondel würden verzichten müssen.
Sein Fuß war nur noch ein unnützer Klumpen an seinem Bein.
Seine Gesichtsfarbe hatte sich in ein lebloses Blassgrau verwandelt. Er war erschöpft. Und ausgelaugt.
Hätten sie immer noch den Wald durchqueren müssen, hätten sie es wohl nicht mehr geschafft, ihr Ziel zu erreichen.
Aber glücklicherweise mussten sie nur weite Ebenen durchqueren. Natürliche Felder aus Wildgras und karges Land.
Es war eine monotone Landschaft, die sich mit den immer selben Farbtönen Lindgrün und Aschgrau zeigte.
Geregnet hatte es seit der Attacke der Piktins auch nicht mehr. So gingen ihre Wasservorräte schnell zur Neige, sodass sie fast verdurstet wären, wäre da nicht ein kleiner Bach gewesen, der ihnen sauberes Süßwasser schenkte. Sie alle hatten unterschätzt, wie abgelegen die Festung der Largonen war.
Koros hielt sich während der gesamten Zeit von Antilius’ Träumen fern. Eigentlich erwartete er, wieder heimgesucht zu werden, ja, er wünschte es sich regelrecht. Wahrscheinlich um seine Rolle in diesem verteufelten Spiel besser begreifen zu können. Um zu erfahren, wer sein Gegner war. Und um noch einmal einen Blick in das Buch werfen zu können, in der armseligen Hoffnung, es doch lesen zu können.
Dann, kurz vor der Festung der Largonen in der Abenddämmerung:
Pais sah ihn zuerst. Er konnte es zunächst nicht glauben. Er dachte (oder hoffte insgeheim), dass er sich geirrt und nur einen kleinen Erdhügel oder etwas ähnlich Natürliches gesehen hatte. Doch als sie immer näher kamen, war er sich absolut sicher, obwohl er noch nie in seinem Leben einen lebenden Sandling vor die Augen bekommen hatte.
Diese Geschöpfe, so hieß es, waren älter als die Welt selbst. Sie tauchten in diesen und jenen Legenden oder Mythen auf. Es gab verschiedene Abbildungen von ihnen in der Bibliothek der Ahnenländer, in der Pais früher viel Zeit verbracht hatte. Man ging mehrheitlich davon aus, sie seien vor Jahrhunderten ausgestorben. Niemand glaubte heute noch ernsthaft an ihre Existenz. Auch Pais hätte es niemals in Erwägung gezogen, dass es Sandlinge wirklich geben könnte. Aus der Vergessenen Wüste im Südosten von Truchten sollten sie stammen. Was tat der Sandling hier so weit weg von seiner Heimat? Warum war er allein? Pais glaubte nicht, dass sein Auftauchen reiner Zufall war.
Der Sandling saß verloren in einer Senke vor einem kleinen Feuer. Es war eigentlich kein Feuer, sondern eher ein glimmendes Häufchen Holz.
Der Tag neigte sich dem Ende. Die Luft war sehr klar und kühl.
Der Sandling ruhte regungslos an seinem Platz. Pais beobachtete ihn einige Minuten lang. Aus der Entfernung gab es nicht viel, was er erkennen konnte, um das Wesen zu charakterisieren. Das, was bei ihm selbst Haut war, sollte beim Sandling schlichter Sand sein. Wüstensand. Das war alles, was er über das Geschöpf wusste.
Antilius fragte Pais, ob er ihm sagen könne, was sie dort am ersterbenden Lagerfeuer sitzen sahen, und Pais erzählte ihm alles, was er über das mythenhafte Volk der Sandlinge wusste.
»Vielleicht kann er uns helfen. Als Brelius hier vorbeigekommen ist, ist er dem Sandling vielleicht begegnet«, sagte Antilius.
Er wollte ihm entgegenhinken, doch Pais hielt ihn an der Schulter sanft zurück. »Warte«, sagte er leise. »Da gibt es noch etwas, was du wissen musst, bevor du mit ihm sprichst.«
»Was meinst du?«
»Er ist alt. Sehr alt. Er hat vieles gesehen in seinem langen Leben.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Soviel ich weiß, leben Sandlinge normalerweise in der Wüste. Auch wenn ich bis eben noch Stein und Bein geschworen hätte, dass es diese Wesen nicht gibt.«
»Was macht er dann hier ganz allein?«
Pais ließ sich einen Moment Zeit, die passenden Worte zu finden.
»Ich glaube, es gibt nur einen Grund, warum er seine Heimat verlassen hat und die Einsamkeit sucht.«
»Welchen?«
»Er will sterben. Das hier ist der Ort, den er dafür ausgewählt hat.«
Antilius flößte diese Vorstellung sowohl Unbehagen als auch eine Spur von Faszination ein. »Ich werde vorsichtig sein. Wirst du mitkommen?«
»Nein, ich werde hierbleiben. Dieses Wesen, Antilius, ist mehr als nur ein Haufen Sand. Für manche ist es so etwas wie ein Gott. Es wird einen Grund dafür geben, warum er so dicht vor unserem Ziel gerade hierhergekommen ist. Ich glaube, nachdem was ich von Brelius’ Tagebuch gehört habe, dass dieses Wesen womöglich auf dich gewartet hat. Ich kann das nicht genauer erklären. Aber es ist deine Suche, Antilius. Und deshalb solltest du mit ihm sprechen. Ich bleibe hier in der Nähe und behalte die Umgebung im Auge. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Antilius verstand. Pais hatte große Ehrfurcht vor dem Wesen aus Sand. Er nahm Gilberts Spiegel, der mangels Brusttasche wieder im Gürtel befestigt war, und gab ihn seinem Gefährten. Nun war er bereit, obwohl er sich innerlich keineswegs bereit fühlte.
Langsam humpelte er mithilfe seiner improvisierten Krücke auf ihn zu. Nicht nur, um den Sandling nicht zu verschrecken, sondern weil sich sein verletzter Fuß gegen jede Art von Bewegung mit heftigen Schmerzen wehrte.
Der allerletzte Lichtstrahl des Tages schien auf das Wesen. Es bestand tatsächlich nur aus reinem Sand. Hell und feinkörnig. Aber Antilius fiel gleich auf, dass seine Oberfläche sehr uneben war. Er hielt dies zunächst für normal.
Der Sandling schien den Besucher nicht zu bemerken. Antilius stellte sich direkt vor ihn. Nur das bescheiden glimmende Holz trennte sie. Holz war eigentlich in dieser Gegend Mangelware, aber nicht unweit vom Sandling ragte ein toter Baum aus der Erde, der nun als Heizmaterial diente.
»Hallo. Ich heiße Antilius«, sagte er unsicher.
Keine Reaktion. Der Sandling schaute ausdruckslos auf den Boden. Dennoch war sich Antilius sicher, dass er ihn wahrgenommen hatte. »Ich will dir nichts tun. Ich komme von weit her«, sagte Antilius zögerlich.
Nach einer Weile hielt er das Stehen nicht mehr aus. Der Fuß. Mithilfe seiner Krücke setzte er sich langsam und umständlich zu Boden.
»Schmerzt es?«, fragte der Sandling plötzlich. Träge richtete er seinen Kopf auf. Sand fiel von ihm ab und rieselte zu Boden. Erst jetzt entdeckte Antilius, dass rund um das Geschöpf herum ein kleiner Sandteppich ausgebreitet war. Bei jeder Bewegung des Sandlings kam weiterer Sand hinzu, der von ihm abfiel.
Erstmals konnte er sein Gesicht erkennen. Es bestand ebenfalls aus feinem goldenen Wüstensand. Seine Augen waren auch golden, doch sie glänzten nicht. Sie waren matt. Sie hatten ihre Lebenskraft verloren.
Antilius hatte vor lauter Aufregung gar nicht zugehört, wonach ihn das Wesen gefragt hatte.
»Schmerzt es dich?«, wollte der Sandling wissen und deutete auf den verletzten Fuß. Wieder fiel dabei Sand von ihm ab.
»Ja. Ja, es tut sehr weh.«
»Schmerzen sind keine gute Sache.« Das Wesen machte ein mitleidiges Gesicht. »Ich werde dir helfen. Zeige mir deine Verletzung.« Seine Stimme klang leicht brüchig. Alt, aber weise. Warm und ein wenig wehmütig.
Antilius schob sich neben den sprechenden Sand und zeigte ihm seinen Fuß. Der Sandling war fast doppelt so groß wie er. Er streckte seinen Arm aus, wodurch sich noch viel mehr Sand als zuvor von ihm löste. Er umschloss mit seiner großen körnigen Hand die verletzte Stelle.
Zunächst spürte Antilius nichts. Doch auf einmal wurde sein Knöchel heiß. Anfangs war es noch auszuhalten, doch es wurde immer heißer. Dann brannte es so sehr, als ob ihm jemand heiße Lava auf den Fuß gegossen hätte. Er versuchte, einen Schrei zu unterdrücken. Aber dann schrie er doch. So laut wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und als er nicht mehr schreien konnte, weil er glaubte, in Ohnmacht gefallen zu sein, fühlte er auf einmal nichts mehr. Kein Brennen. Keinen Schmerz.
Ungläubig bewegte er vorsichtig das Gelenk. Es tat nicht mehr weh. Er zog den Stoff des Hosenbeins höher, um das Wunder genauer zu untersuchen. Die Haut war noch ein wenig dunkel verfärbt, aber der Schmerz war fort, genauso wie die Schwellung. Der Fuß hatte seine völlige Bewegungsfreiheit wiedererlangt.
Fragend und staunend schaute er den Sandling an. »Wie hast du das gemacht?«
Das Geschöpf legte seinen Kopf ein wenig zur Seite. Dabei fiel wieder Sand herab und Antilius sah, dass dies die Ursache für die zerfurchte Oberfläche des Gesichts und Körpers war.
»Was geschieht mit dir?«, fragte Antilius.
»Es fällt schwer, die Form zu behalten«, sagte der Sandling leise.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Es ist so kalt. Die Sonne, wo ist sie?« Er schaute sich um.
»Sie ist untergegangen.«
»Ich friere so sehr!«, seufzte das Wesen aus Sand.
»Ich werde das Feuer wiederbeleben«, sagte Antilius und sprang auf. Er konnte es immer noch kaum fassen, dass er wieder völlig geheilt war. Er sprintete zu dem toten Baum hinüber und brach Zweige ab. Als er einen großen Stapel gesammelt hatte, schichtete er es sorgfältig auf dem alten Haufen auf. Die Resthitze entfachte nach kurzer Zeit das trockene Geäst, und große Flammen begannen zu tanzen und das Holz zu verzehren.
»Besser?«, fragte er.
»Es wird wärmer.«
Beide schauten eine Weile in das Feuer. Die Nacht hatte begonnen. Pais saß mit Gilbert in etwa einhundert Meter Entfernung und beobachtete die beiden geduldig.
»Wer bist du?«, fragte das Wesen schließlich unvermittelt.
»Ich bin Antilius. Ich bin auf der Suche.«
»Was suchst du?«
»Ich suche jemanden, der Brelius Vandanten heißt.«
»Brel… Was? Wer?« Der Sandling war verwirrt.
»Er ging durch das Zeittor, das sich hier in der Nähe befinden soll. Hast du ihn gesehen?«, half ihm Antilius.
»Ah! Der Zeitreisende. Oh ja, ich erinnere mich. Ich habe mit ihm geredet.«
»Was hat er dir gesagt?« Antilius verspürte eine leichte Ungeduld in sich aufsteigen, doch er bemühte sich, sie zu kontrollieren.
»Er war besessen«, sagte der Sandling. »Der arme Mann! Sein Verstand hat gelitten. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich bin zu schwach.«
»Sprich weiter, alter Sand. Erzähle mir alles!«
»Das erste Mal, als er hier war, wollte er nichts mit mir zu tun haben. Doch als er das zweite Mal vorbeikam und erneut zum Tor ging, wollte er, dass ich jemandem etwas ausrichte.«
»Wem? Mir?«
»Demjenigen, der die Augen besitzt«, sagte der Sandling und sah Antilius ausdruckslos an.
»Was hat der Zeitreisende namens Brelius noch gesagt?«
»Du sollst zu ihm kommen. Du musst in das Dorf der Riesen und dort in das zentrale Haus, die Halle des Schicksals, gehen. Dort ist das Zeittor. Das Haus in der Mitte. Das hat er gesagt.«
»Ich weiß aber nicht, wo der Geheimgang liegt, der in die Festung führt.«
»Geheimgang. Schlecht. Sehr schlecht.«
»Wieso?«
»Der geheime Gang ändert seinen Eingang jedes Mal, wenn er benutzt wird. Du wirst ihn nicht rechtzeitig finden können. Du darfst damit keine Zeit verschwenden. Es eilt, Antilius. Es eilt.«
»Aber Brelius muss ihn auch gefunden haben. Wie hätte er sonst das Zeittor durchqueren können?«, sagte Antilius laut. Dem Sandling schien aber diese Lautstärke Schmerzen zu bereiten. Er machte eine abwehrende Geste.
»Entschuldige.«
»Vergiss den Geheimgang. Du musst in die Stadt der Largonen und den Dunklen Tunnel zum Zeittor durchschreiten.«
»Aber die Largonen! Ohne den Geheimgang werde ich nicht an ihnen unbemerkt vorbeikommen.«
»Es gibt keine Largonen mehr.«
»Was? Was soll das bedeuten?«
»Sie sind fort. Verschwunden. Aus der Zeit eliminiert«, sagte der Sandling müde.
»Sie sind alle weg?«, fragte Antilius verwirrt.
»Alle.«
»Wo sind sie hingegangen?«
»Sie sind nicht gegangen. Sie wurden einfach gestohlen.«
»Das verstehe ich nicht. Wie lange sind sie schon fort?«
»Schon bevor der Zeitreisende das erste Mal das Tor aufsuchte.«
»Das ist also die Erklärung, warum Brelius überhaupt in die Festung gelangen konnte. Ich verstehe aber nicht, was mit den Largonen geschehen ist. Weißt du, wer die Largonen gestohlen hat? «
»Nein. Es muss aber etwas sehr Mächtiges gewesen sein.«
»Kennst du die Späher?«
»Späher? Namen. Ich kann mir Namen so schlecht merken.«
»Ich bin ihnen in einem riesigen Turm aus Stein begegnet. Manche nennen ihn den Stein der Zeit.«
Der Sandling wurde auf einmal unruhig.
»Der Stein der Zeit? Er ist wieder aufgetaucht? Wie kann das möglich sein?«, flüsterte er mit zittriger Stimme.
»War er denn nicht schon immer da?«
»Nein! Nein, der Stein der Zeit verschwand, nachdem die beiden Fragmente versteckt worden waren.«
»Fragmente? Meinst du die Zeittore?«
Der Sandling nickte schwach. »Niemand sollte sie mehr benutzen dürfen. Sie sind wieder da? Das ist nicht gut. Nicht gut.«
»Wären die Späher in der Lage, die Largonen zu stehlen? Ich meine, die Largonen aus der Zeit zu eliminieren und sie damit aus ihrer Stadt zu verbannen?«
»Ja, das wären sie. Das ist nicht gut. Daran ist der Zeitreisende schuld! Er schritt durch das Tor und erweckte damit die Späher aus ihrem endlosen Schlaf.« Zum ersten Mal wirkte der Sandling zornig.
Antilius dachte nach. War Brelius wirklich schuld? »Sandling, sagtest du nicht, die Largonen wären schon fort gewesen, bevor der Zeitreisende, also Brelius, kam?«
»Ich glaube, das sagte ich.«
»Aber dann kann Brelius nicht Schuld daran sein. Das würde bedeuten, dass die Späher wieder erwacht sind, schon bevor Brelius durch das Zeittor reiste. Denn die Späher haben die Largonen irgendwie beseitigt, bevor Brelius hier aufkreuzte. Die Largonen waren schon vorher verschwunden. Sage mir, was könnte die Späher noch zum Leben erwecken?«
Der Sandling überlegte nicht lange. »Nur eine Störung der Zeit kann dies bewirken. Nur das Aktivieren eines der beiden Tore kann dies fertig bringen.«
»Eines der beiden Tore«, wiederholte Antilius nachdenklich. »Dann hat er also das andere.«
»Wer?«
»Koros Cusuar. Er hat das zweite Zeittor in seinem Besitz, da bin ich mir absolut sicher. Das andere Fragment, wie du es genannt hast. Er war es, der die Späher wieder in diese Welt zurückgeholt hat. Wissend oder unwissend. Er war es auch, der Brelius telepathisch dazu gezwungen hat, das Zeittor der Largonen zu öffnen.«
»Aber das andere Tor, es wurde doch versteckt. Niemand konnte es finden«, hauchte der Sandling mit einem verzweifelten Unterton.
»Es scheint, als ob es ihm doch gelungen ist, es zu finden. Er muss das andere Zeittor entdeckt haben, und er muss einen Weg gefunden haben, dieses Tor zu aktivieren. Dadurch wurden die Späher erweckt. Was Koros jetzt nur noch fehlt, ist das zweite Zeittor, das von den Largonen bewacht wurde. Den Schlüssel dafür hat Brelius durch Zufall in die Hände gekriegt, und er hat damit das Zeittor unfreiwillig geöffnet. Die Largonen sind alle verschwunden, sodass es niemanden mehr gibt, der Koros aufhalten könnte, sich dieses zweite Tor zu holen.
Aber was ich nicht verstehe, ist, warum die Späher die Largonen aus der Zeit eliminiert haben. Sie bezeichneten sich als Wächter der Zeit. Warum sollten sie demnach die Wächter des Zeittores aus der Zeit entfernen? Sie spielen damit ja Koros direkt in die Hände. Oder wollten sie genau das?«
»Das glaube ich nicht«, wandte der Sandling mit wachem Verstand ein. »Die Späher sind hinterlistig. Sie würden niemals für jemanden anderen handeln. Sie verfolgen nur ihre eigenen Ziele. Die Belange anderer kümmern sie nicht.«
Antilius atmete tief durch. »Sage mir, Sandling, was würde passieren, wenn es Koros gelingen würde, die beiden Fragmente - die beiden Zeittore - wieder zusammenzufügen. Wieder zu einem Ganzen werden zu lassen? Wird Koros dann zum Transzendenten?«
Der Sandling schaute Antilius mit traurigen Augen an. Noch trauriger, als er sowieso schon war. »Das Portal darf nicht geöffnet werden. Das darf nicht geschehen. Das darf es nicht. Es wäre das Ende. Das Ende von allem.«
Antilius schluckte trocken »Wie kann ich das verhindern? Was soll ich tun?«
»Du musst zum Zeitreisenden. Er wird dir helfen. Du musst durch den Dunklen Tunnel gehen. Den Dunklen Tunnel, der zum Zeittor führt.«
»Was erwartet mich im dort?«
Der Sandling wurde sehr still. »Eine Kreatur, die in der Dunkelheit lebt. Sie besitzt keinen Leib. Keine Augen und doch kann sie sehen. Sie besitzt keine Beine, und doch kann sie laufen. Sie wird mit aller Macht versuchen, dich am Durchqueren des Tunnels zu hindern. Sie ist sehr mächtig. Viele haben versucht, sie zu überlisten, doch alle sind sie gescheitert. Die Kreatur wird dich täuschen. Sie wird dich belügen. Sie wird deine schlimmsten Ängste gegen dich einsetzen. Sie weiß, wovor du dich fürchtest.«
Antilius fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, und ihm wurde bei diesem Gedanken ein wenig übel. »Brelius hat es doch auch geschafft. Sogar zweimal, wenn er den Geheimgang nicht benutzt hat. Wie?«, fragte Antilius hoffnungsvoll. Der Sandling schüttelte langsam den Kopf, begleitet von herabregnendem Sand.
Dann kam Antilius allein auf die Antwort: »Aber ja! Koros hat ihm geholfen. Brelius sagte in seinem Tagebuch, er könne sich nicht erinnern, wie er die letzten Meter zu dem Tor gefunden habe. Koros hat ihn irgendwie telepathisch geleitet. Vielleicht hat Brelius es deshalb geschafft.«
»Das ist möglich«, stimmte ihm der müde Sandling zu. »Hat man den Dunklen Tunnel einmal erfolgreich passiert, so wird er einem nie wieder Prüfungen stellen.«
Antilius nickte. »Deshalb konnte er das zweite Mal ohne Koros’ Hilfe hindurch. Gibt es denn für mich keine andere Möglichkeit, das Tor zu erreichen, alter Sand?«
»Es gibt den Geheimgang, doch sein Zugang kann viele Tagesmärsche weit weg von den Largonen sein und ihn zu suchen, würde nur wertvolle Zeit verstreichen lassen. Aber du kannst es schaffen. Du bist stark. Doch eines musst du noch wissen: Der Tunnel unter dem Hauptgebäude, der zum Tor führt, liegt unter der Erde. Eine Tür versperrt den Zugang zum Tunnel. Es ist keine Tür, wie du sie kennst. Es ist eine Tür, die eine menschliche Hand nicht öffnen kann, denn sie besitzt keinen Griff, mit dem man sie öffnen könnte. Diese Tür ist nicht von dieser Welt. Und sie ist lebendig. Du kannst sie nur öffnen, wenn du den richtigen Schlüssel besitzt.«
»Was für einen Schlüssel?«
»Ein Teil des Schlüssels ist ein Bild, das du in den Sand vor der Tür malen musst. Der andere Teil ist ein Rätsel, das du alleine lösen musst. Dabei kann ich dir nicht helfen, denn das Rätsel ist immer anders. Kein Rätsel wird zweimal gestellt.
Nur deshalb bin ich schon so lange hier, Antilius. Um dir dieses Bild zu zeigen. Hast du das Bild, wirst du das Rätsel gestellt bekommen. Ich warte schon seit Jahren hier auf dich, um dir dieses Bild zu zeigen«, sagte der Sandling ruhig.
Antilius fiel die Kinnlade herunter. »Was? Seit Jahren?«, fragte er entsetzt.
»Man hat mich vor vielen Jahren losgeschickt, weil ich der jüngste war. Meine Chancen, noch am Leben zu sein, wenn du endlich kommst, waren am größten.«
Antilius starrte den zerfallenden Sandling fassungslos an.
»Wir haben schon sehr früh gewusst, dass du herkommen würdest, Antilius. Dass es wieder beginnen würde und die Vergangenheit uns einholt. Wir wussten nur nicht, aufgrund welcher Geschehnisse du hier eintreffen würdest«, fuhr der Sandling fort.
»Beginnen? Was wird beginnen?«
»Das Portal darf nicht aus den beiden Zeittoren wieder errichtet werden. Du bist der Einzige, der dies noch verhindern kann. Frage mich jedoch nicht nach dem Warum, armer Mensch, denn ich kann es dir nicht sagen. Es ist mir verboten. Du darfst es nicht wissen, und es ist nicht an mir, dir die Wahrheit über Thalantias Vergangenheit zu offenbaren. Hoffe, Antilius, dass du es nie erfahren wirst, denn dann wird diese Welt vor großem Übel verschont bleiben.«
Antilius vergrub kurz das Gesicht in seinen Händen und raufte sich verzweifelt die Haare. »Kann Koros denn wirklich zum Transzendenten werden, wenn er das Portal aus den beiden Zeittoren aufgebaut hat? Ist er dann allmächtig?«
Der Sandling schaute Antilius wissend an, und dieser Blick machte ihm deutlich, dass der folgende Satz das Letzte sein würde, was er über das Thema Portal von ihm erfahren würde. »Es gibt noch entsetzlichere Dinge, die wiedererweckt werden könnten, als der Transzendente. Der Transzendente wäre nur der Anfang. Der erste Schritt zum Untergang unserer Welt«, flüsterte der Sandling.
Antilius wünschte sich weit, weit weg von diesem Ort.
»Ich bin hier, weil ich dir das Bild zeigen werde, mit dem du das Rätsel gestellt bekommst. Gib mir deine Hand, dann zeige ich es dir«, sagte das Wesen aus Sand.
Der Sandling nahm behutsam Antilius’ Hand. Er sagte ihm, er solle den Zeigefinger ausstrecken. Und dann führte er ihm die Hand und zeichnete ihm das Bild in den Sand, der um ihn herum war.
»Das Bild zeigt eine Geschichte. Die Geschichte ist im Bild nicht vollständig wiedergegeben, also muss die Geschichte bis zum Ende erzählt werden. Du wirst wissen, was ich meine, wenn du das Bild gezeichnet hast. Du wirst es schaffen, du bist stark«, sagte der alte Sand abermals.
Antilius schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich bin nicht stark. Das ist mir klar geworden, seit ich diese Inselwelt betreten habe.«
»Doch. Du hast die Augen. Deine Reise wird noch lang sein. Meine ist schon sehr bald vorüber.«
»Was soll das heißen, ich habe die Augen?«, fragte Antilius.
»Du hast diese besonderen Augen. Oh, wie lange habe ich sie schon nicht mehr gesehen, diese Augen? So viele Jahrhunderte. Ich dachte schon, ich würde sie nie wieder bei einem Menschen sehen. Aber du hast sie. Ja, ich bin mir sicher, dass du sie hast. Deine Augen sind das Licht im Dunkel.« Der Sandling war sehr schwach geworden. Das Gespräch hatte ihn sehr angestrengt. »Ich bin so müde. Ich danke dir, dass du mein Feuer wiedererweckt hast. Für dich ist es jetzt Zeit, deine Reise fortzusetzen.
Geh, Antilius und verhindere die Auferstehung des Transzendenten. Dann wird alles wieder gut werden«, sagte er erschöpft.
Antilius wollte gehorchen. Er erhob sich und wollte sich verabschieden. Doch da brach eine große Menge Sand aus der rechten Körperhälfte des Sandlings und rieselte hörbar zu Boden. Aber der Sandling rührte sich nicht. Er ertrug den Zerfall. Er war darauf vorbereitet.
Antilius merkte gar nicht, wie ihm Tränen in die Augen kamen, so sehr war er von diesem tapferen Wesen ergriffen.
»Wie lange …?« Er konnte die Frage nicht zu Ende bringen, doch der Sandling wusste, was er wissen wollte.
»Wenn das Feuer erloschen ist. Dann werde ich meiner Einsamkeit entfliehen und zu meiner Familie zurückkehren. Auf der anderen Seite des Schleiers der Realität. Dort, wo sie mich schon seit sehr langer Zeit erwarten. Dann ist meine Reise endlich beendet.«
Antilius wurde klar, dass es falsch sein würde zu gehen. Es wäre einfach falsch. Er setzte sich wieder.
»In dieser Nacht bist du nicht allein.«
Und Antilius blieb die ganze Nacht beim Sandling. Er wich nicht von seiner Seite, als die Sterne langsam vorüberzogen. Alles andere verlor in dieser Nacht seine Bedeutung. Nur die Tatsache, dass er bei ihm war, zählte.
Antilius blieb.
Bis das Feuer erloschen war.