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Das Grauen der Dunkelheit

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In der Finsternis des Korridors erhob sich der zu Boden geworfene Antilius. Was immer ihn in die Dunkelheit gezerrt hatte, war verschwunden. Es hatte seine Hand wieder freigegeben. Er konnte nicht weit von dem Tor entfernt sein, wo Pais immer noch auf der anderen Seite stand. Antilius drehte sich hastig herum, blickte aber wieder nur in Schwärze. Nichts. Es war absolut nichts zu erkennen. Jedenfalls für menschliche Augen.

»Pais? Pais, hörst du mich?«

Pais konnte ihn nicht hören.

Antilius ging in die Knie und tastete den Boden nach der Lampe ab, die er verloren hatte. Irgendwo musste sie doch sein!

Er fand sie und versuchte sie zu entzünden. Vergeblich. Der Sturz auf den Steinboden war zu viel für sie gewesen. Sie war leer.

Pech für dich!

Antilius ging hektisch in die Richtung, aus der er meinte, gekommen zu sein. Es war zwar die richtige, aber kurz vor dem Ende des Ganges prallte er gegen eine unsichtbare Wand. Er hatte nicht mitbekommen, dass sich das Tor wieder geschlossen hatte.

Er tastete das Hindernis ab, trat dagegen und hämmerte schließlich mit seinen Fäusten darauf ein. Doch es half nichts. Er war eingesperrt. Eingesperrt in der Finsternis.

Er griff nach dem Spiegel. »Gilbert, bist du noch da?«

»Ja. Was ist geschehen? Ich kann absolut nichts erkennen.«

»Etwas hat mich in den Korridor gezogen, und jetzt kann ich nicht mehr zurück. Das Tor ist wieder zu.«

»Vielleicht ist das der Sinn der Sache. Du musst jetzt den Korridor durchqueren. Du hast keine andere Wahl.«

»Verdammt! Und wenn dieses Ding mich wieder packt?«

Gilbert schwieg. Darauf hatte er keine passende Antwort. Alles, was er tun konnte, war, seinen Meister zu beruhigen.

»Erinnere dich, was in der Wand geschrieben stand: 'Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst'.«

Antilius atmete ein paar Mal tief durch, bis er wieder bereit war, sich zu zwingen, weiterzugehen. »Na, das kann ja heiter werden.«

Er schaute noch einmal in Gilberts Spiegel und erblickte dessen besorgte Miene. Er hielt kurz inne und kam dann auf eine Idee.

Er konnte Gilbert sehen. Licht! Das war es!

»Gilbert, du hast doch gesagt, dass du jederzeit bestimmen kannst, was hinter dir, hinter dem Fenster erscheint.«

»Ja.«

»Kannst du nicht dafür sorgen, etwas mehr Licht in deinen Raum scheinen zu lassen? So könnte ich den Spiegel in eine Art Lampe umfunktionieren.«

Gilbert rollte nachdenklich mit den Augen. »Warum nicht? Das ist eine ausgezeichnete Idee!«

Er stellte sich vor sein Fenster und schaute in Richtung Sonne, die ja eigentlich keine war, aber trotzdem Licht spendete. Allein durch die Kraft seines Willens setzte sie sich in Bewegung und kam näher an den Horizont heran. Die Wiese von vorhin war immer noch da. Es wurde heller in Gilberts Zimmer. Die Sonne senkte sich weiter. So weit, bis sie schließlich fast auf einer Höhe mit dem Fenster war. Ihre Strahlen drangen nun auf einer Linie durch das Glas des Fensters und durch das Glas des Spiegels. Ein warmer, diffuser Schein trat aus dem Spiegel heraus, den Antilius in der Hand hielt.

Sofort probierte er ihn aus. Und tatsächlich, es klappte. Zwar nur extrem schwach, aber immerhin konnte Antilius nun Schemen der Wand des Tunnels erkennen. Das Licht schien es hier drin sehr schwer zu haben, das Dunkel zu durchdringen. Das Dunkel schien sich gegen das Licht zu wehren.

Aber schon die wenige Helligkeit reichte aus, um diesen Ort weniger bedrohlich erschienen zu lassen.

Der schwache Lichtkreis wanderte die rechte Wand entlang, ging dann zum Boden über und ließ kurz darauf Antilius wieder erschaudern. Ein Skelett lag vor seinen Füßen. Er hatte es vorher nicht bemerken können. Es stammte aber dieses Mal nicht von einem Tier, sondern von einem Menschen. Definitiv. Es hatte eine grotesk sitzende Position auf dem kalten Grund eingenommen. Es hätte eigentlich nichts mehr geben dürfen, was die einzelnen Knochen noch zusammen hielt, aber es schien noch recht vollständig zu sein. Der Schädel war auf den Torso herunter gesackt. Die Arme lagen links und rechts daneben. Sollte etwa einer dieser Arme ihn gepackt haben? Unmöglich!

Das ist doch nur ein Skelett. Nur Knochen.

Doch je länger Antilius das Gerippe anstarrte, desto mehr überkam ihn das Gefühl, dass es ihn auch anstarrte. Irgendwie grinste es ihn an, obwohl ein Schädel keine Gesichtszüge mehr zustande bringen konnte.

Sein Blick wanderte immer abwechselnd vom Schädel zu den Skelettarmen.

»Nur ein dummes Skelett!«, sagte er laut.

Dann wandte er sich wieder in die Richtung, in die er gehen musste. Das Zeittor wartete am anderen Ende. Antworten warteten am anderen Ende. Das fühlte er.

Ganz langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er schaute sich dabei hilflos um, obwohl er fast nichts sehen konnte, selbst mit dem Schein der fiktiven Sonne aus Gilberts Gefängnis. Immer tiefer drang er in den Korridor ein. Alles, was er hörte, war sein schneller Atem und seine eigenen Schritte. Er konnte seinen rasenden Puls spüren.

Antilius schaffte ungefähr ein Dutzend Schritte.

Ein dumpfes Stampfen ertönte aus der Ferne. Antilius blieb blitzartig stehen und horchte angsterfüllt.

»Was war das?«

»Ich weiß nicht. Klang merkwürdig«, sagte Gilbert.

Dann wiederholte sich das Stampfen, nur jetzt lauter. Dann noch einmal. Es wurde immer geräuschvoller, und es schien immer dichter zu kommen. Es hörte sich an, als ob ein Riese auf ihn zulief. Vielleicht ein Largone?

Nein. Es war größer.

Größer als ein Largone? Gibt es so etwas?

»Gilbert, das hört sich an, als ob sich da etwas sehr Großes auf mich zubewegt. Was soll ich jetzt machen?«

Die stampfenden Schrittgeräusche wurden immer intensiver, sie erschütterten den Boden, und sie wurden immer schneller.

Sie kamen näher.

Antilius war gelähmt vor Angst. Er wusste, dass er nicht fliehen konnte. Das Ding kam näher. Der Boden bebte. Keine Fluchtmöglichkeit. Das Stampfen klang wütend. Und bösartig. Es würde kommen. Es würde ihn zermalmen. Sein Heranschnellen erzeugte einen ohrenbetäubenden Lärm. Es raste immer schneller auf ihn zu. Antilius kauerte sich an die Wand und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm war unerträglich. Jeden Augenblick würde es ihn erreicht haben. Er erwartete das Schlimmste.

Es wird dich zerquetschen und dann auffressen, dachte er.

Er wollte, dass es aufhörte. Und dann bemerkte er, dass der Lärm direkt über seinem Kopf war. Es rannte über ihn hinweg, zumindest erschien es ihm so. Es war gar nicht in dem Korridor. Oder doch? War es unsichtbar?

Der Lärm nahm ab. Das Stampfen wurde langsamer. Immer leiser wurde es, bis es dann verstummte.

Stille.

Antilius glaubte zu ersticken. Er schnappte nach Luft und riss sich wild am Kragen seines ohnehin schon lädierten Hemds.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Gilbert, der nur den Lärm durch den Spiegel wahrnehmen konnte.

Antilius war kurz davor zu hyperventilieren. Doch dann fing er sich wieder. Zögernd. »Ich, ich glaube schon. Ich konnte es nicht sehen. Es kam auf mich zu. Was war das?«

»Vielleicht war es ein Largone. Vielleicht aber auch nur eine Illusion.«

»Hauptsache es ist weg.«

»Geh schnell weiter, Antilius. Du hast bestimmt schon die Hälfte des Weges hinter dir. Du hast es fast geschafft!«

In diesem Moment war Antilius erleichtert, dass Gilbert bei ihm war. Bestärkt, aber schweißgebadet trotz der Kälte stand er wieder auf und lief jetzt schneller als zuvor weiter.

Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.

Sekunden kamen ihm jetzt wie eine Ewigkeit vor. Wenn der Gang doch nur enden würde! Hatte er denn ein Ende? Würde er auf ewig verdammt sein, den Dunklen Tunnel zu durchqueren? War dies das Grauen der Dunkelheit? Was würde er jetzt nur für mehr Licht geben.

Er lief. Er rannte. Er hatte kaum noch Atem, aber er ging immer weiter. Als wäre es das Letzte, was er zu tun hätte. Er musste ihn durchqueren. Er musste die Dunkelheit bezwingen.

Seine Beine verlangten nach einer Pause und drohten einzuknicken, wenn er nicht pausierte. Doch sein Wille war stärker.

Seine Schritte hallten gespenstisch in dem endlosen Gang wider. Seine Schritte. Doch auf einmal gesellten sich andere Schritte hinzu. Dieses Mal hinter ihm. Sie waren nicht besonders laut. Sie kamen weder näher, noch entfernte er sich von ihnen. Sie tauchten einfach aus dem Nichts auf.

Wie lange verfolgen sie mich schon?

Es waren keine normalen Schritte. Keine Schritte eines Riesen oder eines Menschen. Sie hallten anders wider als seine.

Es hörte sich so an, als ob jemand auf Stelzen gehen würde, anders hätte Antilius es nicht beschreiben können.

Was kann so merkwürdige Geräusche von sich geben? Was für eine neue Bosheit hat sich das Dunkel ausgedacht?

Dreh dich um, Antilius. Was immer es auch sein mag, du musst ihm in die Augen sehen. Dreh dich um und sieh ihm in die Augen!

Ich kann nicht. Was kann es bloß sein? Es hört sich irgendwie…

‚knöchern’, war der Begriff, der Antilius nicht einfallen wollte. Aber bevor er ihn hätte in Gedanken aussprechen können, wurde ihm klar, dass es das Skelett vom Eingang sein musste, das die Verfolgung aufgenommen hatte.

Antilius beschleunigte seinen Lauf noch einmal. Mit weiten Schritten hetzte er durch die Dunkelheit. Und das Skelett folgte ihm. Es hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich an die höhere Geschwindigkeit anzupassen.

»Verschwinde!«, schrie Antilius entsetzt und außer Atem.

Doch das Skelett dachte nicht daran, ihn zufriedenzulassen. Stattdessen begann es, ihn höhnisch auszulachen. Es war das niederträchtigste Lachen, das er je gehört hatte. Auf welche Weise sollte man beschreiben, wie ein Haufen Knochen einen auslachen konnte? Antilius kam es vor, als ob ihn der Wahnsinn persönlich auslachen würde.

»Gib auf! Gib auf und komm zu mir!«, schrie das Skelett.

Es kannte keine Erschöpfung. Antilius hätte jahrelang durch diesen Tunnel laufen können, das Skelett würde nie müde werden. Es war ja bereits tot. Je mehr Angst Antilius verspürte, desto stärker wurde es. »Gib auf!«, kreischte es.

»Niemals!«, rief Antilius atemlos zurück, ohne sich umzudrehen.

Laufen! Laufen! Doch seine Erschöpfung drohte überhandzunehmen. Und dann. Dann legte sich im Gehirn von Antilius ein Schalter um.

Abrupt blieb er stehen.

»Niemals!«, schrie er mit fester Stimme.

Die Schritte des Skeletts verstummten.

Antilius drehte sich schwer atmend um und leuchtete den Gang mit dem Spiegel aus. Und nur ein paar Meter von ihm entfernt lag das Skelett wieder. Seine Knochen lagen verstreut auf dem Boden. Es war ihm gefolgt. Und jetzt stellte es sich tot (oder besser: Es stellte sich nicht untot). Antilius musste trotz seines Überschusses an Adrenalin, von dem er heute schon reichlich bekommen hatte, bei diesem Gedanken innerlich kichern. Ein Skelett, das sich tot stellte.

»Niemals werde ich umkehren!«, schrie er und trat dem Ding beherzt den Schädel ein. Scharfe Splitter flogen in alle Richtungen. Dann verpasste er dem Brustbein noch einen Tritt, das daraufhin berstend zerbrach.

Ein Befreiungsschlag.

Antilius hatte erst die Hälfte des Weges durch den Tunnel zurückgelegt. Zum ersten Mal fühlte er sich ermutigt.

Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.

Er verstand zwar immer noch nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten, aber er hatte das Gefühl, es zu erahnen. Der Schalter in seinem Kopf war umgelegt, sodass Antilius wieder für ein rationales Denken empfänglich war.

Er lief weiter. Diesmal rannte er nicht.

Rennen hilft dir nicht. Du kannst nicht davonlaufen.

Die Zeit verstrich. Im Dunkel eh bedeutungslos.

Doch dann irgendwann konnte er ein schwaches Licht am Ende des Tunnels erkennen. Licht!

Er ertappte sich schon dabei, an die Illusion zu glauben, es fast geschafft zu haben, als ein lautes Schnauben direkt hinter ihm seine Bewegungen einfrieren ließ. Es klang wie ein wildes großes Tier, das ihm seinen heißen, stinkenden Atem in den Nacken blies.

»Gilbert«, flüsterte Antilius, ohne sich zu bewegen.

»Ich habe es gehört. Dreh dich um!«

»Ich kann nicht.« Antilius fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

»Du musst! Denke an das Skelett, das du erledigt hast. Es hat sich nicht gewehrt.«

»Aber diesmal hört sich das sehr lebendig an.«

»Dann lass mich schauen.«

Zittrig hielt sich Antilius den Spiegel über die Schulter, während das Ding hinter ihm wieder knurrend seinen widerlichen Odem entgegen blies.

»Da ist nichts. Ich sehe nichts. Moment mal! Jetzt verstehe ich es. Du darfst dich davon nicht ängstigen lassen. Das ist das Geheimnis. Der Korridor spielt mit deinen Ängsten. Nichts hier drin ist real. Das Grauen der Dunkelheit kann sich nur von deiner Angst ernähren. Daraus schöpft es seine Energie. Du musst deine Angst überwinden und dir vorstellen, dass hier nichts ist. Beim Skelett hat es auch funktioniert.«

»Aber ich spüre doch seinen Atem!«, stöhnte Antilius.

»Vertraue mir. Das bildest du dir nur ein. Nur durch deine Vorstellungskraft kannst du das Monster verschwinden lassen. Es kann nur durch deine Angst existieren. Wenn du dich nicht umdrehst, wirst du es weiter hinter dir hören. Und es wird dich weiter schwächen.«

»Wie soll ich das machen?«, schrie Antilius verzweifelt.

»Konzentriere dich! Sag dir, dass dort nichts ist. Es ist nur deine Einbildung. Und dann drehst du dich um.«

Antilius ballte seine Fäuste, kniff die Augen zu und wiederholte innerlich die Worte von Gilbert. Er versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren.

»Es ist nicht real. Es ist nicht real.«

Immer wieder wiederholte er die Worte, bis er begriff, dass das Atmen und das Knurren hinter ihm aufgehört hatten.

Er öffnete wieder die Augen und horchte. Dann drehte er sich um. Es war weg. Er hatte es besiegt.

»Sehr gut! Du hast es verschwinden lassen«, freute sich Gilbert und machte einen Luftsprung in seinem Zimmer, sodass er fast an die Decke gestoßen wäre.

Antilius wollte sein Glück nicht herausfordern. Verkrampft ging er weiter zum anderen Ende des Korridors und mit einem Mal stand er mit einem einzigen Schritt in einem beleuchteten Raum, obwohl er überzeugt war, dass er noch mindestens hundert Meter hätte laufen müssen.

Es war eine riesige Halle. Endlich.

Vor Schwäche schwindelte ihm. Er setzte sich auf den Boden aus Stein und lehnte sich an eine Wand.

»Sieh doch! Wir haben es gefunden«, rief Gilbert aufgeregt.

Antilius drehte seinen Kopf nach rechts und schaute auf ein würfelförmiges Gebilde, das nur aus dünnen Streben bestand und keine Wände besaß. Er hatte sich bis dahin das Tor ganz anders vorgestellt und war sich zunächst nicht sicher, ob es auch wirklich das Tor war, nach dem sie suchten. Aber er fühlte, dass es das Tor war.

Kein Zweifel.

Es war das Zeittor.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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