Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 25
Der einsame Mann und die Sterne
Оглавление»Ich verstehe das nicht. Wie kann man alle Bewohner einer Stadt einfach verschwinden lassen? Und dazu noch solche Riesen. Ich meine, seht euch doch nur mal die Breite dieser Straße hier an. Die ist doch fast viermal so groß wie die in Fara-Tindu«, staunte Gilbert aufgeregt, als er durch den Spiegel in seinem kleinen Zimmer beobachtete, wie die gewaltigen Gebäude der Largonen zur Linken und zur Rechten von vorn nach hinten durchs Bild in seinem Wandspiegel fuhren.
»Ja, du hast recht. Das ist schon unglaublich, aber diese Späher, mit denen ich sprach, waren auch nicht gerade das, was ich als normal bezeichnen würde. Ich kann mir schon vorstellen, dass sie diese Fähigkeit besitzen«, sagte Antilius.
Gilbert legte die Stirn in Falten. »Was ist denn mit dir los, Antilius? Seit wann glaubst du denn an übermächtige Wesen, die andere einfach mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen können? Du hast doch nicht einmal an die Existenz des Zeittores geglaubt.«
Antilius zog den Spiegel aus seinem Gürtel und schaute den darin stehenden Gilbert ernst an. »So richtig bin ich noch immer nicht von diesen Zeitreisen überzeugt, aber nach dem, was ich bisher erlebt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, was ich glauben soll und woran ich überhaupt glauben kann.«
Noch während Antilius diese Worte aussprach, merkte er, dass irgendetwas mit dem Spiegel nicht stimmte, genauer gesagt mit seinem Inneren. »Gilbert, hast du irgendetwas in deinem Zimmer verändert?«
Gilbert schaute sich verdutzt um und zuckte mit den Achseln. »Nicht, dass ich wüsste. Was stimmt denn deiner Meinung nach nicht?«
»Dein Fenster. Sieh doch! War da nicht eine Graslandschaft mit wild wachsenden Blumen? Da ist ja auf einmal ein Meer!«
Gilbert drehte sich um und schaute gelangweilt zum Fenster. »Und?«, fragte er mit hängenden Schultern.
Antilius war verwirrt. »Ja, aber wie geht das? Was ist passiert?«
»Das habe ich dir doch erzählt. Da draußen hinter diesem Fenster, ist nichts. Es ist das Nichts. Hinter meinem Fenster ist gerade ein Meer, weil ich es mir vorstelle, und wenn ich mir eine Wiese mit Wildblumen vorstelle, dann ist dort draußen eine Wiese mit Wildblumen. Und wenn ich mir einen Baum vorstelle, dann ist dort ein Baum.«
Antilius kratzte sich am Kinn. Dieses Spiegelgefängnis war wohl das bisher Verrückteste, das er je gesehen hatte. »Ja, stimmt. Das hast du mir erzählt. Es ist also nur eine Illusion. Sehr merkwürdig.«
»Ich zeige es dir.« Gilbert stellte sich zur Seite, um Antilius ungehindert Blick auf sein Fenster geben zu können. Er schnippte einmal mit dem Finger und das Meer hinter dem Fenster löste sich langsam in einem dichten Nebel auf. Antilius verfolgte das Geschehen gebannt, und auch Pais war von dieser Verwandlung überrascht, als er Antilius über die Schulter in den Spiegel schaute. Der Nebel löste sich dann wieder auf, und die bekannte Wiese erschien wieder.
»Damit könntest du auftreten, Gilbert. Ich habe es dir immer gesagt«, meinte Pais.
»Wie funktioniert das?«
Erneut zuckte Gilbert mit den Achseln: »Wenn ich das wüsste. Es funktioniert eben. Es ist mir aber auch gar nicht wichtig, nach dem ‚Wie’ zu fragen. Die anfängliche Faszination schlägt nämlich schnell in Gleichgültigkeit um, wenn einem bewusst wird, dass es hier kein Entkommen gibt. Im Übrigen soll es schon viele Spiegelgefangene gegeben haben, die versuchten, durch das Fenster zu fliehen, doch sie landeten im Nichts und hatten keine Gelegenheit mehr, ihren Fehler zu bereuen.«
»Was bedeutet das?«
»Im Nichts kann auch nichts existieren.«
»Soll das etwa bedeuten, dass …«
Gilbert nickte ernst. »Genau das bedeutet es.«
»Ich hoffe für dich, Gilbert, dass du irgendwann da wieder heraus kommst«, sagte Antilius ehrlich.
Er steckte den Spiegel wieder ein, und Pais und er setzten ihren Marsch in der Stadt der Riesen fort. Sie suchten das zentrale Gebäude, in dem sie, wenn der Sandling recht hatte, das Zeittor vermuteten. Antilius versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die unglaubliche Größe der Häuser, Straßen und Gehwege machten ihn sehr beklommen. Er kam sich wie eine Ameise vor. Eine Ameise in einer Geisterstadt der Riesen.
Pais schien es aber ebenso zu ergehen. »Seht doch nur! Alles ist noch so, als ob hier noch vor wenigen Augenblicken Largonen gelebt haben.«
Riesige Karren standen mitten auf den Straßen, die Türen von Geschäften waren geöffnet, das riesige Gemüse auf einem Verkaufsstand faulte langsam vor sich hin.
Antilius schaute an jeder Kreuzung, in jedem Winkel nach, ob sich nicht doch noch ein Largone hier aufhielt. Die Späher hatten die Largonen mitten aus ihrem Alltag gerissen, und nur noch bedrückende Stille zurückgelassen. Obwohl keiner der Riesen mehr hier war, meinte Antilius noch ihre Anwesenheit zu spüren.
Welche Macht müssen die Späher besitzen, dies fertig zu bringen?, dachte Antilius mit Grauen.
»Da vorn! Das Monstrum da muss es sein«, rief Pais.
Er zeigte auf ein würfelförmiges Gebäude, das so wie alle anderen Häuser auch aus massiven Steinen gebaut war, nur mit dem Unterschied, dass es kubisch war und nur in der obersten Etage Fenster besaß. Auf dem flachen Dach des Steinklotzes prangte eine merkwürdige, zehn Meter hohe Skulptur, die zwei ineinander verschlungene Knochen darstellte. Antilius vermutete, dass die Knochen einmal einem gigantischen Urtier gehört haben mussten.
Als er als Erster die Eingangstür erreichte, überlegte er, ob er an den Griff herankommen könnte, doch es war zu hoch für ihn oder besser ausgedrückt, er war zu klein. Diese Tür war nicht für Menschen gebaut. Sie war fast viermal so groß wie er.
»Warte, ich hebe dich hoch«, schlug Pais vor. Doch Antilius winkte ab. »Nein, das hat keinen Sinn. Ich würde trotzdem nicht herankommen. Wir müssen hier etwas suchen, auf das ich mich drauf stellen kann.«
Nachdem er und Pais ein paar (für largonische Verhältnisse) kleine Holzkisten zusammengetragen und vor der Tür aufgestapelt hatten, kletterte Antilius auf die oberste Kiste. Er umschloss den voluminösen Türgriff mit beiden Händen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, um ihn herunterzuziehen. Ohne Erfolg. Er zog und zog, machte eine Pause und riss dann wild weiter am Griff. Er machte wieder eine Pause und probierte es mit einem Kampfschrei erneut, bis er schließlich aufgeben musste.
»Ich schaffe es nicht. Dieser Griff bewegt sich keinen Millimeter.«
»Wahrscheinlich ist die Tür versperrt. Möchte mal wissen, wie Brelius da durch gekommen ist«, sagte Gilbert.
»Verdammt! Brelius hat sie bestimmt geschlossen, nachdem er ein zweites Mal das Haus betreten hat.«
»Fluchen bringt nichts«, sagte Gilbert überflüssigerweise.
»Und wie wollen wir da jetzt reinkommen? Es gibt für uns nur diesen Eingang«, meckerte Pais nach oben zu Antilius, der erschöpft auf dem Kistenstapel saß.
»Ich weiß es auch nicht.« Antilius war wütend. An dieser blöden Tür durfte es doch nicht scheitern! Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Eine Lösung zu finden. Irgendeine Idee. Ihm fiel aber nichts ein. Der Sandling hatte über den Dunklen Tunnel gesprochen, der ihn am Durchgehen hindern würde. Und von einer Art lebendigen Tür ohne Griff, die unter der Erde den Weg zum Tor versperrte. Aber von einer massiven Holztür über der Erde, die schlicht verriegelt war, hatte er kein Wort verloren. Er wünschte sich einfach nur, dass diese dämliche Tür von selbst aufspringen würde. Das hätten er und seine Freunde, bei all den Entbehrungen und Anstrengungen, die sie auf sich genommen hatten, wirklich verdient.
»Vielleicht sollten wir die Tür einfach in Brand stecken, warten, bis sie nur noch ein Häufchen Asche ist und schlendern dann entspannt hinein«, schlug Gilbert vor.
Pais verzog das Gesicht. »Du Spaßvogel! Diese Tür ist eine Armlänge dick, und außerdem besteht sie aus Immerfestholz. Die kriegen wir niemals angezündet.«
»Wir sollten es doch wenigstens versuchen«, drängte Gilbert weiter.
»Das ist absoluter Blödsinn.«
»Ach, hast du Dickkopf vielleicht eine bessere Idee? Wenn du nörgeln kannst, was ich wieder mal für einen Blödsinn erzähle, ja dann bist du ganz groß, nicht wahr? Aber wenn es darum geht, wenigstens mal ein kleines bisschen selber das Gehirn anzustrengen, dann ...« Gilbert brach sein verbales Gegenfeuer abrupt ab, als er plötzlich ein lautes Rumpeln vernahm. Es kam von der Tür. Antilius hatte es auch gehört und schaute irritiert zu ihr.
Kurz darauf rumpelte es noch einmal und dann folgte ein metallischer Donnerschlag. Ehe er und die anderen begriffen hatten, dass sich von innen der Türriegel geöffnet hatte, ging die gewaltige Holzwand auch schon langsam nach außen auf. Das tonnenschwere Holz schob dabei den Kistenstapel, auf dem Antilius saß, vor sich her. Antilius versuchte sich festzuhalten.
Die Tür knarrte immer weiter nach außen auf. Der improvisierte Kistenturm begann zu wanken. Antilius versuchte, die Schwingungen mit seinem Gewicht auszugleichen. Dann verlor er selbst das Gleichgewicht und fiel mit den Armen rudernd herunter, konnte sich aber noch im letzten Moment an dem oberen Rand einer Holzlatte festklammern. Doch das nützte ihm wenig. Der kleine Kisten-Turm neigte sich so weit zur Seite, dass er schließlich umzustürzen begann. Antilius stieß einen Schrei aus und stürzte samt den Holzkisten zu Boden. Pais machte sich sofort daran, ihn aus dem Bretterhaufen zu befreien.
»Danke, es geht schon. Ich glaube, ich habe mir nichts gebrochen.«
Die Tür kam schließlich zum Stillstand und stand nun einen Spalt weit auf. Es war wieder Totenstille in der Largonen-Stadt.
Pais lächelte: »Da hast du aber verdammtes Glück gehabt.«
Antilius hustete Staub aus. »Kein Problem für mich. Ich habe schon eine gewisse Übung im Abstürzen entwickelt.«
Pais half ihm wieder auf die Beine und grinste verhalten, was Antilius aber sofort bemerkte. »Tut mit leid, aber es sah irgendwie ulkig aus, wie du auf dem wankenden Kistenturm balanciert hast«, sagte Pais.
»Schon gut. Ich wundere mich nur, dass unser lieber Freund Gilbert noch gar nicht von Lachkrämpfen gepeinigt auf dem Boden liegt.«
»He, was denkst du von mir? Ich lache dich doch nicht aus! Du bist mein Meister«, beschwerte sich Gilbert und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Jedenfalls lache ich nicht jetzt. Sag mal, wie hast du das nur geschafft?«
»Was geschafft?«
»Die Tür zu öffnen!«
»Ich weiß es nicht. Ich habe eigentlich nichts gemacht. Ich habe nur überlegt, wie wir in das Gebäude gelangen können, und auf einmal öffnete sich das Schloss, und die Tür ging auf.«
»Tja, dann sollten wir hineingehen, meint ihr nicht?«, sagte Pais und rieb sich die Hände.
Der riesige Eingang barg Dunkelheit. Das Tageslicht reichte nicht aus, um das Innere ausreichend zu erhellen.
»Hmm. Ich dachte erst, jemand hätte die Tür von innen geöffnet. Aber hier ist niemand. Ich kann jedoch nicht weit sehen. Gibt es hier kein Leuchtgas oder Fackeln?«, wunderte sich Antilius.
»Keine Sorge. Ich habe meine Petroleumlampe dabei und deine auch, Antilius.«
Pais kramte in seiner Tasche und holte die beiden kleinen Lichtspender heraus.
Antilius versuchte vergeblich, seine Lampe zu entzünden.
»Auch das noch! Durch diese verdammten Gorgens ist sie jetzt völlig aufgebraucht! Ich habe kein Petroleum mehr«, fluchte er unbeherrscht.
»Macht nichts. Meine wird schon ausreichen.«
Antilius ging vorsichtig los. »Wir werden dort lang gehen«, sagte er, ohne zu wissen, was sie in dieser Richtung erwarten würde.
Antilius kam sich vor wie in einem gigantischen Gespensterschloss. Um sie herum herrschte völlige Finsternis. Ihre Schritte hallten in den großen Räumen lange und geräuschvoll wider.
Gegen das spartanische Äußere dieses Gemäuers wirkte das Innere geradezu verschwenderisch prunkvoll. Tonnenschwere Kronleuchter hingen gefühlte hundert Meter über ihren Köpfen. Statuen aus Stein, die Largonen in Rüstungen darstellten, säumten die Gänge. Und unvorstellbar große Gemälde, die Largonen in irgendwelchen vergangenen Schlachten darstellten, bedeckten die Wände. Antilius bekam eine Gänsehaut, und er war sich sicher, dass es Pais ebenso erging.
Sie gingen durch ein Foyer, an das sich zwei breite Gänge anschlossen. Sie entschieden sich, den rechten Gang zu nehmen, der zu einer langen Treppe führte. Oben angekommen durchquerten sie einen riesigen Saal mit einem großen ovalen Tisch und Stühlen, von dem sie vermuteten, dass es sich um den Speisesaal handeln musste. Unerhört riesig. Vom Tisch bis zu den Stühlen. Am anderen Ende des Saals kamen sie zu einer breiten Treppe, über die sie wieder ins Erdgeschoss gelangten. Daran schloss sich eine zweite Treppe an, die unter die Erde führte.
»Das muss es sein. Hier geht es abwärts. Wir sind fast am Ziel. Ich bin mir ganz sicher. Ich kann es fühlen«, sprach Antilius ehrfürchtig.
»Es ist so still. Viel zu still«, flüsterte Pais.
Er leuchtete mit seiner Lampe die Umgebung ab, um nach möglichen Fallen Ausschau zu halten. »Das gefällt mir nicht«, sagte er.
Der Lichtschein seiner Petroleumlampe fiel nach oben an den Mauerrahmen des Treppeneingangs. Schriftzeichen waren in das Mauerwerk eingraviert.
»Was ist das für eine Sprache? Ich kann sie nicht lesen«, flüsterte Pais, als ob er vermeiden wollte, durch jemand Fremden belauscht zu werden. Die Dunkelheit und die kuriose Umgebung machten sogar ihn unruhig.
Gilbert bat Antilius, seinen Spiegel näher an die Schrift heran zu halten und sah sie sich genauer an. Er erkannte sie.
»Das ist eine sehr alte Sprache der Largonen. Ich glaube, ich weiß, was da geschrieben steht«, sagte er.
»Was?«, fragte Antilius hastig.
Gilbert zögerte.
»Nun sag schon, was bedeuten diese Zeichen?«
»Da steht: Hier endet der erleuchtete Weg. Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.«
Antilius bekam plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Was sollte das bedeuten? Die vagen Hinweise des Sandlings halfen ihm auch nicht weiter. Aber wenn der alte Sand nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass man die Dunkelheit durchqueren könne, dann hätte er ihn nicht ermutigt, es zu versuchen.
»Ach, wird schon nicht so schlimm sein«, bemühte sich Antilius, sich und den anderen Mut zu machen, aber seine Stimme bebte angsterfüllt. »Woher kennst du eigentlich diese Sprache, Gilbert?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich werde sie dir irgendwann mal erzählen«, sagte Gilbert.
Pais stellte sich vor die erste Stufe und leuchtete die Treppe nach unten ab. Sie bog sich nach rechts, sodass er nicht bis ganz nach unten sehen konnte. »Am Ende dieser Treppe muss der Tunnel sein«, sagte er.
Der Dunkle Tunnel.
»Komm rein Antilius, dann wirst du nie wieder herausfinden. Stattdessen wirst du hier bei mir in der Dunkelheit bleiben und verrückt werden. Komm zu mir! Komm zu mir!«, hallte es in Antilius’ Kopf, so als hätte er gerade einen Tagtraum.
Er verharrte einen Augenblick vor der Treppe, schluckte dann einmal kräftig und stieg langsam hinab. Pais folgte dicht hinter ihm. Ihre Schritte hallten an den Wänden noch lauter wider als zuvor. Sie erreichten die Biegung. Pais leuchtete um die Ecke, konnte jedoch nichts erkennen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto kälter wurde ihnen. Es wurde eiskalt. Jedes Mal, wenn sie ausatmeten, bildeten sich kleine Wölkchen.
Immer mehr Stufen führten hinab. Die Treppe machte schon wieder eine Biegung. Diesmal nach links. Es war noch viel tiefer, als sie vermutet hatten.
Antilius fühlte sich, als ob er direkt in den Schlund des Bösen marschieren würde.
Dann, nach unendlich langen Sekunden: das Ende. Sie befanden sich nun mitten in einer Art Vorraum. Für Largonen-Verhältnisse war er relativ klein. Ein geradezu protziges Tor versperrte den Eingang zum Dunklen Tunnel. Es war noch mächtiger als jenes am Eingang des Gebäudes. Es gab keinen Griff, und Antilius konnte auch keinen anderen Öffnungsmechanismus ausmachen. Ähnlich wie im Stein der Zeit bei den Spähern.
Alles hier unten war alt. Uralt. Wasser sickerte an einigen Stellen aus den Felswänden hervor. Es roch nach Morast.
»Das Haus über diesem Raum muss viel später gebaut worden sein. Dieser Raum hier ist wesentlich älter«, mutmaßte Antilius.
Zu ihrer Rechten lag ein großes Sandfeld. Es war kreisförmig. Wie ein überdimensionierter Sandkasten sah es aus. Etwa vier Meter im Durchmesser. Pais leuchtete das ebene Sandfeld ab und erschrak. In der Mitte lag ein großes Skelett. Es war weder menschlich noch largonisch. Es sah aus wie das Skelett einer mutierten Riesenratte.
»Du meine Güte!«, rief Pais angewidert.
»Nur ruhig. Das sind bloß Knochen«, sagte Antilius gefasst, obwohl auch er etwas Vergleichbares noch nie gesehen hatte.
»Igitt! Stell dir mal vor, wie das Ding lebend ausgesehen haben muss«, sagte Pais und verzerrte das Gesicht so, dass es fast komisch aussah. Er entdeckte eine große Fackel, die an der Wand in einem Halfter steckte. Es gelang ihm, sie wieder mit seinen Zündhölzern (genau wie das Schießpulver selten und teuer) zu entzünden, und schon wirkte der Raum ein wenig freundlicher.
»Und jetzt?«, fragte Gilbert.
»Jetzt werde ich das Bild in den Sand zeichnen, so wie es mir der Sandling erklärt hat. Wenn ich alles richtig mache, dann werde ich das Rätsel gestellt bekommen.«
Antilius betrachtete nachdenklich den Sandkasten. Das Skelett der Monsterratte verdeckte einen Großteil der Fläche.
»Wir müssen wohl zuerst die Knochen beiseiteschaffen. Hilf mir, Pais!«
Doch der druckste nur herum und tat keinen Schritt näher an die sterblichen Überreste heran.
»Was ist los mit dir?«, fragte Antilius, als er schon den ersten Unterschenkelknochen aufgelesen hatte.
»Ich kann das Ding nicht anfassen.«
»Was?«
»Mach, was du willst. Aber ich werde es nicht anfassen. Es ist einfach zu widerlich.«
»Du hast Angst vor ein paar alten Knochen? Was immer es war, es war schon sehr lange tot. Oder hast du Angst, die Knochen könnten aufspringen und dich schnappen?«
»Lach’ mich aus, wenn du willst, aber ich werde dieses Ding nicht berühren«, sagte Pais und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Ich lache dich nicht aus.«
»Ich schon«, giftete Gilbert.
»Untersteh dich!«
Um einen erneuten Streit zu vermeiden, warf Antilius Pais den großen Knochen, den er aufgehoben hatte, zu. Dieser fing ihn reflexartig auf und beäugte dann seinen Fang ungläubig.
»Hmm. Auf den zweiten Blick sieht es gar nicht mehr so schlimm aus«, murmelte er.
Die Gebeine der Riesen-Ratte konnten nun endlich zur Seite geräumt werden. Einige waren leicht, andere so überraschend schwer, dass beide anpacken mussten. Zum Schluss bemühte sich Antilius noch, die Sandoberfläche an den Stellen, an denen der Sand durch das Gerippe eingedrückt worden war, zu glätten.
Ein wenig wehmütig schaute er auf den feinen Sand. Er sah genauso aus wie der des Sandlings, nur kälter.
Keinen Satz, kein Wort hatte er vergessen. Der Sandling hatte betont, dass er die Geschichte, die das Bild darstellte, auch erzählen müsse. Das Tor zum Dunklen Tunnel würde zuhören.
Also begann er. Er nahm einen Rippenknochen des Skeletts und benutze ihn als Zeicheninstrument.
Er pinselte zuerst eine wellenförmige Linie in den Sand.
»In einer unendlichen Wüste«, sagte Antilius.
Auf die Welle kam ein kleiner Kreis hinzu.
»Der einsame Mann durchquerte die Wüste in der Nacht, am Ende seiner Kräfte.«
Jetzt zwei Kreise je ober- und unterhalb der Wellenlinie.
»Im Norden würde das Leben auf den einsamen Mann warten. Im Süden der Tod. Der Mann suchte das Leben, doch kannte er den richtigen Weg nicht.«
Über der Kreis-Figur, die den Mann symbolisierte, zeichnete Antilius links und rechts jeweils einen weiteren Kreis. Die Kreise wurden dann jeweils durch eine gerade Linie mit der Kreis-Figur verbunden.
»Zwei Sterne erschienen am Himmel.«
Bis hierhin hatte der Sandling ihm die Geschichte erzählt und das zugehörige Bild beschrieben.
Antilius blickte gespannt zum Tor, in der Hoffnung, dass es sich öffnen wurde (wusste er doch, dass es sich um ein Rätsel handelte und sie noch verschlossen bleiben würde), doch stattdessen geschah etwas ganz anderes. Immer noch über die Sandfläche gebeugt, hörte er ein leises Rascheln unter sich, als er in voller Erwartung zur Tür aufschaute. Er stand auf, wich ein paar Schritte zurück und drehte den Kopf wieder zurück zur Sandfläche. Er sah, wie der Sand in Bewegung geriet, als ob er lebendig werden würde. Antilius musste sofort an den Sandling denken. Er dachte, dass hier einer seiner Artgenossen gerade wieder zu Leben erwachte. Aber dem war nicht so. Der Sand verlor immer mehr an Körnung, bis er schließlich wie ein homogener Brei ausschaute. Es folgte ein Blitz, der die gesamte Oberfläche bedeckte, und dann war der Sand verschwunden. Und zurück blieb Wasser. Nur klares, sauberes Wasser.
Pais und Antilius wechselten verwirrte Blicke.
Als wäre dies noch nicht genug an Überraschung, sah Antilius irgendeine Bewegung in dem Wasser. Und er glaubte, ein Murmeln aus dem Nass zu hören. Er schaute lange auf die glatte Oberfläche.
»… also muss die Geschichte bis zum Ende erzählt werden«, hat der Sandling gesagt.
Antilius wusste plötzlich instinktiv, was er zu tun hatte. Er kniete sich am Rand des Beckens nieder. Dann holte er tief Luft und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Pais wollte ihn zurückhalten, doch noch während Antilius mit dem Gesicht die Wasseroberfläche berührte, bedeutete er ihm mit der flachen Hand, dass er warten solle.