Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 26

Das Rätsel und der Dunkle Tunnel

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Unter Wasser öffnete Antilius die Augen. Das Wasser war dunkel, sodass er kaum etwas sehen konnte.

»DU HAST DIE GESCHICHTE BEGONNEN, ALSO WIRST DU SIE ZU ENDE BRINGEN, FREMDER«, sprach eine Stimme durch das Wasser zu ihm. Er zuckte zusammen.

»DIE BEIDEN STERNE AM HIMMEL SAGTEN DEM EINSAMEN MANN, ER DÜRFE NUR EINEM DER BEIDEN STERNE EINE FRAGE STELLEN, UM DEN RICHTIGEN WEG IN ERFAHRUNG ZU BRINGEN. DEN WEG, DER INS LEBEN FÜHRT.

EINER DER BEIDEN STERNE WÜRDE DIE WAHRHEIT SAGEN. DER ANDERE ABER, WÜRDE LÜGEN. DER EINSAME MANN WEISS NICHT, WER LÜGT UND WER DIE WAHRHEIT SAGT. WELCHE FRAGE MUSS DER EINSAME MANN WELCHEM STERN STELLEN, UM DEN WEG INS LEBEN ZU FINDEN?«, fragte die Stimme herrisch.

Antilius - zunächst völlig überrascht - hatte der Stimme konzentriert zugehört. Vor seinem geistigen Auge erschien der einsame Mann, wie er an der Wegkreuzung stand und zu den beiden Sternen aufsah. Nur eine Frage durfte er stellen.

Er überlegte kurz, dann merkte er, wie seine Lunge nach Atem zu rufen begann. Er wollte den Kopf aus dem Wasser ziehen, um dann in Ruhe nachdenken zu können. Doch als er es versuchte, hielt ihn irgendetwas im Wasser fest. Antilius ruckte mit dem ganzen Körper, doch es wollte seinen Kopf nicht freigeben. Das Wasser - es war lebendig. Sofort geriet er in Panik. Pais, der schon die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl hatte, durchschaute schnell, dass Antilius Hilfe brauchte. Er umklammerte Antilius’ Schultern und versuchte ihn zurückzuziehen. Doch es war sinnlos. Antilius, der kniend mit aufgestützten Händen weiter vergeblich sich hochzustemmen versuchte, begriff trotz seiner Panikattacke, dass sein Kopf nur lebend das Wasser verlassen würde, wenn er die richtige Frage stellte. Wenn er das Rätsel löste.

Der Drang, atmen zu müssen, wurde immer schlimmer. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Aber nicht mehr lange, wenn er die Lösung dieses Rätsels nicht binnen Sekunden herausfinden würde.

Antilius presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und konzentrierte sich auf die Lösung.

Es war unglaublich, aber es gelang ihm, sich auf das Rätsel zu konzentrieren. Sekunden wurden für ihn zu Minuten. In weiter Ferne hörte er Pais schreien und auch Gilbert konnte er hören. Sie schrien verzweifelt seinen Namen. Doch er war in sich gekehrt. Seine Muskeln entspannten sich. Und dann. Ganz plötzlich, kurz bevor er den Atemreflex nicht mehr unterdrücken konnte und kaltes Wasser seine heiße Lunge füllen würde, kam er auf die Lösung.

»Der einsame Mann fragt einen der beiden Sterne, was der jeweils andere antworten würde, wenn er ihn nach dem Weg zum Leben fragen würde. Beide Sterne würden dann mit ‚Süden’ antworten. Der einsame Mann weiß dann, dass er nach Norden gehen muss. So bekommt er die richtige Antwort!«, rief Antilius im Geiste in das Wasser hinein.

Eine schreckliche Sekunde passierte gar nichts.

Doch dann ließ das Wasser ihn frei. Pais, der unermüdlich an Antilius zerrte, riss ihn überrascht mit einem Ruck aus dem Wasser, und beide fielen nach hinten über.

Antilius krümmte sich auf dem Boden und atmete japsend die kalte, feuchte Luft ein. Jetzt verstand er, was Brelius in seinem Tagebuch gemeint hatte, als er sagte, kurz vor dem Zeittor hatte er das Gefühl gehabt, zu ertrinken.

»Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst, ohne mich vorher zu fragen. Was immer da im Wasser war, es hätte dich beinahe getötet«, sagte Pais mit kreidebleichem Gesicht.

Antilius brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder erholt hatte. Mit zittrigen Beinen stand er auf und blickte erwartungsvoll zum Tor.

Geh’ auf, du verdammtes Mistding. Geh’ auf!

Es vergingen noch einige Sekunden, in denen bis auf Antilius’ keuchende Atmung kein Geräusch zu vernehmen war.

Doch dann hörten sie ein leises Grollen. Dumpf. Unmöglich zu sagen, wo es herkam.

Steinstaub begann aus der Decke des Gemäuers herunter zu rieseln. Die Blicke waren auf das mächtige Tor gerichtet.

Das Grollen wandelte sich in ein Poltern. Im gleichen Moment begann sich das mächtige Tor nach oben zu erheben. Ganz langsam und schwerfällig, so als ob es sich wehren würde, den Weg freizugeben. Der alte Mechanismus war zuverlässig. Die Spannung ging bis ins Unerträgliche. Was würde sich dahinter verbergen? Was mochte es sein? Was konnte so böse sein, dass es die schlimmsten Ängste gegen einen verwenden würde? Wie sollte das, was Antilius gerade eben widerfahren war, noch an Erbarmungslosigkeit übertroffen werden?

Noch war nichts zu sehen. Nur Dunkelheit. Immer weiter hob sich das Tor. Doch dahinter war nur Dunkelheit.

Das Dunkel.

Wie eine schwarze Wand. Mit einem faszinierten Entsetzen schaute Antilius in das Schwarz des Tunnels, und das Schwarz schaute zurück. Es war erwacht und wartete nun auf ihn. Nur auf ihn. Es wollte herausfinden, womit es ihn schrecken konnte.

Ein dumpfes Bollern vollendete eindrucksvoll den Öffnungsvorgang. Der Eingang war frei.

»Wow!«, sagte Gilbert, der die ganze Zeit wie ein kleines Kind vor seinem Spiegel hin und her zappelte.

Antilius fühlte sich mit einem Mal noch ein Stückchen zittriger und schwächer. Vielleicht war es doch keine gute Idee, das Tor zu öffnen. Vielleicht hätten sie lieber wieder umkehren sollen. Vielleicht wäre es überhaupt besser gewesen, erst gar nicht hierher zu kommen.

Schluss jetzt!, befahl er sich innerlich.

Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.

Pais trat ein paar Schritte vor, bis er direkt vor der schwarzen Wand stand. Es sah wirklich aus wie eine Wand. »Hmm, das ist merkwürdig.«

»Was meinst du?«

»Es dringt überhaupt kein Licht von der Fackel in den Tunnel.«

Pais entzündete wieder seine Petroleumlampe und hielt sie in den dunklen Gang.

»Das gibt es doch nicht!« Sie konnten es nicht fassen. Der Lichtstrahl, den Pais in den Tunnel schickte, wurde nirgendwo reflektiert. Keine Wand, kein Fußboden war zu sehen. Das Licht wurde von der Dunkelheit einfach verschluckt.

Pais streckte seinen Arm aus und hielt ihn mutig in den dunklen Gang. Der Kontrast zwischen hell und dunkel war am Übergang so hart, dass man glauben konnte, von seinem Arm fehlte ein Stück, als er ihn in das Dunkel hielt.

»Scheint ungefährlich zu sein«, sagte er und zog seinen Arm sicherheitshalber wieder zurück.

»Wo… Woher willst du da… das wissen?«, stotterte Antilius, der aus seinem Rucksack ein Tuch hervorgeholt hatte und sich damit die eiskalten, nassen Haare abrubbelte. Ihm war entsetzlich kalt.

»Wenn da drin etwas Gefährliches wäre, dann hätte es bestimmt nach meinem Arm geschnappt. Bist du sicher, dass du bereit bist?«

Antilius nickte. Natürlich war er nicht bereit. Aber er konnte jetzt wohl kaum umkehren.

»Keine Angst, ich werde vorgehen«, sagte Pais.

»Gute Idee, ich werde mich garantiert nicht vordrängeln.«

Pais holte tief Luft und trat ein kleines Stück in die Dunkelheit ein. Dann hielt er inne, um abzuwarten, ob etwas passierte. Als er sich versicherte, dass bis jetzt alles in Ordnung war und er zum nächsten Schritt ansetzen wollte, spürte er plötzlich einen eiskalten Hauch, der aus dem Tunnel kam, in seinem Gesicht.

Er schrie auf und warf sich zurück.

»Was ist passiert?«, fragte Antilius erschrocken.

»Ich... ich bin mir nicht sicher. Da war irgendwas. Ich spürte mit einem Mal einen kalten Windstoß.«

Gilbert schüttelte verständnislos den Kopf: »Das war nur der Zug. In solch einem riesigen Bau sind solche Windstöße ganz normal«, erklärte er angeberisch.

»Ach ja? Dann geh du doch durch, du Besserwisser!«, schimpfte Pais zurück.

»Wenn ich es könnte, würde ich es tun«, log Gilbert, denn er war sehr froh, in diesem Fall hinter der Spiegelscheibe zu sitzen und das Geschehen von einem sicheren Ort aus zu beobachten.

Antilius schaute Pais fragend an.

»Nach dir«, nahm dieser die Frage vorweg, ob er noch einmal vorgehen würde. Er drückte Antilius die Lampe in die Hand.

»Also schön, dann werde ich es probieren.« Das Herz sank ihm in die Hose.

»Ich bin ja bei dir«, sagte Gilbert beruhigend.

Antilius stellte sich genau wie zuvor Pais vor den Korridoranfang und streckte seinen Arm aus, wobei er die Augen schloss. Er wartete ab. Es geschah aber nichts.

»Wahrscheinlich habe ich mich wirklich geirrt. Meine Fantasie hat mir wohl einen Streich gespielt«, überlegte Pais.

»Ich glaube auch«, stimmte Antilius mit noch immer ausgestrecktem Arm zu und sah Pais ermutigt an. Kaum hatte er dies gesagt, spürte er plötzlich etwas Kaltes, das seine Hand in der Dunkelheit ergriff. Es war hart und umschloss sein Handgelenk mit eisernem, schmerzvollem Griff. Antilius schrie entsetzt auf. Sekundenbruchteile später riss ihn das Etwas zu sich in das schwarze Nichts.

Antilius verschwand in der Schwärze. Noch in dem Moment, in dem er in die Dunkelheit gezerrt wurde, schoss das Tor wieder hinab. So schnell, dass Pais es zunächst nicht realisieren konnte. Als er begriff, was geschehen war, wollte er mit einem gewagten Hechtsprung in den Tunnel hinterher springen. Doch zu seinem eigenen Glück war das Tor schneller, sodass er nur noch dagegen prallen konnte. Einen Wimpernschlag früher, und er wäre unter die Falltür geraten.

Sein Schädel war relativ stabil, sodass es nur bei einer Beule bleiben sollte. Etwas benommen schüttelte er seinen Kopf.

»Antilius?«

Keine Antwort.

»Antilius!«

Nichts.

Pais konnte ihn nicht hören, und umgekehrt war es genauso.

Der Dunkle Tunnel hatte seinen einzigen Gast zu sich gebeten. Das Tor würde sich nicht mehr öffnen.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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