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Das letzte Gespräch

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Das Bier, das Antilius mit Gilbert getrunken hatte, bescherte ihm einen tiefen Schlaf. Wahrscheinlich das letzte Mal für eine lange Zeit. Irgendwann wachte er kurz auf. Sein Freund und er lagen im Freien. Sein Rücken war an den harten Untergrund noch immer nicht gewöhnt, selbst nach den vielen Übernachtungen im Freien während ihrer langen Wanderung zur Largonen-Festung.

Nur kurz erwachte er. Er wollte sich eigentlich nur umdrehen und weiterschlafen. Während er sich eine bequemere Haltung suchte, nahm er eine dunkle Silhouette am Rand der Klippe zum Meer wahr. Noch im Halbschlaf dachte er sich nichts dabei. Dann kam ihm der Gedanke, dass es Gilbert gewesen sein könnte.

Er zwang sich, nicht wieder einzuschlafen. Er setzte sich auf und schaute neben sich. Nicht unweit von ihm lag sein Freund tief schlummernd in der gleichen Haltung, in der er sich hingelegt hatte. Dann schaute er wieder zur Klippe. Die Silhouette war immer noch da. Sie rührte sich nicht. Das kam ihm bekannt vor.

Erneut schaute er zu Gilbert. Und dann wieder zur Silhouette.

»O, nein«, murmelte er. »Ich will nicht. Ich will nicht.«

Der Schattenklumpen bewegte sich weiterhin nicht. Er wartete.

Schnell war Antilius hellwach. Sein Körper bereitete sich auf eine drohende Gefahr vor. Sein Geist jedoch nicht. Irgendetwas sagte ihm, dass von dem Schatten an der Klippe heute keine Gefahr ausgehen würde.

Es war Koros Cusuar, der ihn gefunden hatte. Er wandte sich nicht vom Meer ab. Er saß einfach da am Rand der Klippe mit ihrer senkrecht abfallenden, schroffen Steilwand. Er wartete.

Antilius stellte sich hinter den Mann im dunklen Gewand und verharrte dort still.

»Ich kann mir gut vorstellen, was dir gerade durch den Kopf geht«, sagte Koros mit einem wissenden Lächeln.

»So? Was denn?«

»Ein einziger Stoß, ein kräftiger Schubs würde genügen, und ich wäre dahin. Noch nie war die Gelegenheit so verlockend wie jetzt. Du musst zittern vor Herzklopfen, Antilius.«

Der Gedanke war in der Tat verlockend. Antilius zitterte tatsächlich ein wenig. Er könnte den Herrscher mit einem Stoß einfach die Klippe herunterschubsen, so wie es Koros mit ihm im Traum getan hatte. Einfach? Nein. So blöd war er nicht. Darauf würde er nicht hereinfallen. Nicht auf seine Tricks. Nicht noch einmal. Das alles hier war nicht echt.

Koros wartete ab, was geschehen würde, ohne sich umzudrehen.

»Würde es nützen, wenn ich dich hinunterstoße? Dies ist doch nur ein weiterer kranker Traum, den du manipulierst«, sagte Antilius.

»Einerseits hast du recht, andererseits aber auch nicht. Du würdest es nicht schaffen, mich hier in den Tod zu schicken. Dann wäre der ganze Spaß doch schon vorbei. Und um deinen Irrtum aufzuklären: Das ist kein Traum. Du bist wirklich hier. Es gibt keine Irrtümer.«

Antilius glaubte dem Herrscher nicht. Mit verschränkten Armen stand er immer noch hinter ihm. »Und du sollst auch wirklich sein? Bisher hatte deine Feigheit dich daran gehindert, mir in der Wirklichkeit zu begegnen. Und wie sollte es dir gelungen sein, diesen Ort zu betreten?«

Koros überlegte sich seine nächsten Worte. »Du bezeichnest es als Feigheit. Ich würde es eher als Respekt bezeichnen. Und ich gebe zu, anfangs war es auch Ehrfurcht. Ja, es ist wahr. Ich habe Ehrfurcht vor dir empfunden, weil ich weiß, wer du bist, und wer du warst. Ich weiß alles, das du vergessen hast.

Sag mir, Antilius, was hat dich, seit du auf der Fünften Inselwelt bist, am meisten gestört? Sei bitte ehrlich, denn ich bin es auch.«

Antilius begann, unsicher zu werden. Koros schien ihm immer einen Schritt voraus zu sein. Er wusste, wo Antilius war. Und er wusste von Verlorenend, und wie man dort hinkommt.

»Fragen, die nur leere Antworten oder neue Fragen aufwerfen. Das ist es, was ich verabscheue, seit ich das neue Land betreten habe.«

»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte Koros kopfnickend und immer noch auf das Meer hinaus schauend. »Hierherzukommen war so leicht, wie dich aufzuspüren. Ich habe denselben Weg gewählt, den auch du gegangen bist. Allein mit meiner Willenskraft habe ich es vollbracht. Genau wie du. Auch wenn ich nicht wirklich hier bin. Was du siehst, ist nur ein Abbild meiner Gedanken. In der wirklichen Welt konnte ich keinen telepathischen Kontakt zu dir herstellen, wenn du wach warst. Also war ich auf deine Träume angewiesen. Doch seit du in Verlorenend bist, kann ich dich auch im wachen Zustand erreichen, auch wenn ich immer noch nicht deine Gedanken lesen kann. Deshalb werden wir uns ganz normal unterhalten. Von Freund zu Freund.«

Antilius senkte den Kopf. Koros war nicht hier, um ein Schwätzchen zu halten. Vielleicht wollte er es jetzt zu Ende bringen. War es jetzt vorbei? Wollte er ihm die Wahrheit über sich erzählen, um ihn danach umzubringen, damit Antilius sein Wissen mit ins Grab nehmen würde?

»Setz dich!«, forderte Koros ihn auf.

Antilius setzte sich. »Was ist es bloß, dass dich zu alldem treibt?«, fragte er.

»Was glaubst du wohl? Das, was jeden Bösewicht treibt. Niedere Instinkte. Die Gier nach Macht«, sagte Koros und grinste, ohne erfreut zu wirken.

»Das ist nicht die Wahrheit, oder?«

Erstmals wandte Koros sich vom Anblick des Meeres ab und durchlöcherte Antilius mit seinen Augen. »Nein, das ist es nicht. Es ist das Wissen, nach dem ich mich sehne. Ich will das Geheimnis von Thalantia lüften. Den Sinn des Lebens will ich erfahren. Den Sinn meines Lebens! Ich will wissen, was in euren Köpfen vorgeht. Was ihr denkt. Ich will wissen, was du denkst«, fauchte er mit geballten Fäusten.

Für den Bruchteil einer Sekunde vermochte Antilius diese Worte nachzuvollziehen. Verrückt, aber es war so.

»Ich frage mich, was du hier eigentlich treibst, Antilius. Meine Armee wird schon bald die Barriere erreichen. Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wir das Portal auf der anderen Seite aufstellen werden. Bald werde ich der neue Transzendente werden. Und du? Du liegst hier betrunken und schläfst. Und dabei merkst du nicht, wie die Zeit unter deinen Fingern verrinnt.« Koros Augen waren starr geworden. Nichts hätte sie von Antilius mehr ablenken können.

»Zeit? Hier gibt es keine Zeit«, sagte Antilius. Aber er ahnte Übles, als er das sagte.

Koros brach nach kurzem Schweigen in maßloses Gekicher aus.

»Das gibt es doch nicht! Du bist tatsächlich auf sie hereingefallen«, rief er amüsiert.

»Auf wen?«

»Auf die Frau ohne Namen, die ständig versucht, dich vom Orakel fernzuhalten. Sie hat dich nach Strich und Faden belogen.«

»Wieso sollte sie das tun? Sie hat keinen Grund, mich zu belügen. Du bist der Lügner!«, wehrte sich Antilius.

»Denke an meine Worte! Ich habe dich nicht, und ich werde dich nicht belügen. Die Wahrheit ist es, die uns verbindet.«

»Wieso sollte sie mich belügen?«

»Weil sie Angst hat, Antilius. Weil sie an etwas festhalten möchte, das schon lange verloren ist. Genau wie du.«

»Aber sie hat mir versprochen zu helfen«, insistierte er.

Koros schüttelte verneinend den Kopf: »Sie glaubt nicht, dass du die Fähigkeit besitzt, mich zu besiegen. Sie denkt, alles wäre verloren. Sie will dich hierbehalten, um dich zu beschützen. Sie glaubt, hier wärst du sicher. Sie hofft, ich würde diesen Ort und euch niemals finden, auch wenn sie in ihrem Inneren weiß, dass es nicht so kommen wird. Sie gaukelte dir vor, dass Zeit an diesem Ort nicht existieren würde. Vielleicht ist sie sogar davon selbst überzeugt, wenn man das zu ihrer Verteidigung anbringen möchte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Früher einmal gab es in Verlorenend tatsächlich keine Zeit. Aber jetzt, da die Dinge in Bewegung geraten sind, fängt die Zeit sogar hier wieder an voranzuschreiten. Mal schneller und mal weniger schnell. Aber im Augenblick schnell genug, um deine Zeit, Antilius, sinnlos verstreichen zu lassen. Du bist noch nicht mal einen Tag hier, aber auf Thalantia sind schon fast zwei Dutzend Tage vergangen. Alles gerät in Bewegung. Und damit meine ich nicht nur meine Pläne, das Portal zur Transzendenz zu öffnen. Nein. Du wirst lachen, wenn ich dir sage, seit wann die Zeit in Verlorenend wieder erwacht ist. Es fing an, als du auf dem Felsen der Splitternden aufgetaucht bist. Deine Rückkehr vor sechs Jahren hat das bewirkt. Der Tag, an dem deine Erinnerungen wieder einsetzen. Du bist die Ursache, dass alles wieder in Bewegung gerät. Und deine Ankunft hier in Verlorenend hat die Zeit endgültig in Bewegung versetzt.«

»Woher weißt du von den Splitternden?«, fragte Antilius schockiert.

»Das Flüsternde Buch hat es mir gesagt.«

»Das kann nicht sein. Wie sollte ich die Zeit hier an diesem Ort beeinflussen können?«, flüsterte Antilius gequält.

Koros empfand etwas wie Mitleid für ihn. Nur so eine Art Mitleid. Kein echtes. »Ich weiß, es ist schwer. Die Last, die du zu tragen hast, ist schon groß genug. Aber glaube mir, es ist besser, dass du es weißt.«

»Ach ja?«, schrie Antilius zornig. »Für wen ist es besser? Für dich? In deinem kranken Kopf ist mein Schicksal doch längst beschlossen. Du genießt es, dass ich keine Ahnung von den Geschehnissen um mich herum habe. Worauf wartest du also noch? Bring es endlich zu Ende!«

Koros verweilte einen Moment in Stille. »Also gut. Ich möchte, dass du dabei bist, wenn es geschieht. Wenn ich die Macht des Portals am Fuße der Berge des Avioniums freilasse. Ich will mich an diesem Ort mit dir messen. Dort soll es zu Ende gehen.

Solange du noch Zeit hast, solltest du etwas Sinnvolles damit anfangen. Setzte deine Suche fort! Finde, wonach du suchst, auch wenn es nur ein Bruchteil von dem sein sollte, dass du zu finden erhofft hast. Und dann kehre in die wirkliche Welt zurück. Ich werde dich dort erwarten, an der Barriere von Valheel. Ich gebe dir eine faire Chance, Antilius.

Ich gebe zu, dass ich dich zuerst wirklich loswerden wollte. Aber nun, da ich dich besser kennengelernt habe und diese sonderbaren Dinge über dich im Flüsternden Buch gelesen und gehört habe, bin ich davon überzeugt, dass du es verdienst hast, dich mir zu widersetzen.«

Das Gefühl, Koros ständig unterlegen zu sein, hatte bei Antilius seinen Höchststand erreicht. Weitere Fragen seinerseits waren überflüssig geworden. Mit gutem Zureden würde Antilius nichts mehr bewirken können. Doch allmählich leuchtete ihm ein, dass der Herrscher einen wunden Punkt besaß. Eine, und mit ziemlicher Sicherheit die einzige Möglichkeit, noch etwas ausrichten zu können, lag in ihm selbst.

Koros war fasziniert von dem Fremden von der Vierten Inselwelt. Sein ständiges Wiederkehren zu Antilius, das Eindringen in seine Träume und der Drang nach der Konfrontation lenkten den Herrscher ab. Sie kosteten Zeit und Energie. Es war wirklich eine Chance. Eine Chance für Antilius, selber über Macht zu verfügen. Nämlich die Energie seines Widersachers im richtigen Moment und am richtigen Ort gegen ihn zu verwenden.

Schlagartig wandelte sich Antilius’ Gefühl der Unterlegenheit in Zuversicht.

Der wunde Punkt. Das musste er sein. Koros glaubte, ihn richtig einschätzen zu können und seine Zukunft vorhersagen zu können. Seinen Charakter und seine Vergangenheit durchleuchtet und seine Ängste reflektiert zu haben. Doch gab es noch tausend andere Dinge, die er nicht wusste.

Koros war wie betrunken ob der Macht, die er für sich reserviert glaubte. Er dachte nicht im Entferntesten daran, dass Antilius irgendetwas gegen ihn ausrichten könnte, auch wenn dieser mehr über sich erfahren würde. Denn Koros wusste, dass es zu spät sein würde. Viel zu spät. Dennoch wollte er, dass Antilius es wenigstens versuchen würde. Er beneidete ihn um seine Vergangenheit. Deshalb konnte er ihn nicht einfach umbringen. Deshalb und weil das Flüsternde Buch ihn davor gewarnt hat. Antilius zu töten, bevor Koros zum Transzendenten geworden war, könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben. Das hat das Buch gesagt, denn es kannte Antilius. Koros glaubte dem Buch ohne Zweifel.

Bei Antilius wuchs die Zuversicht. Wenn er auch nur einen Bruchteil von dem erfahren würde, das helfen könnte, Koros zu besiegen, dann könnte dieser Bruchteil schon ausreichend sein, so glaubte er.

Er konnte es sich selbst nicht erklären, wie er zu dieser Zuversicht gelangen konnte. Doch er erinnerte sich an die Festung der Largonen. Er erinnerte sich an die Tür, die plötzlich aufsprang, als Antilius daran dachte, dass sie sich öffnen solle. Er erinnerte sich auch daran, wie er den Kopf in das Wasserbecken instinktiv getaucht hatte, um das Rätsel gestellt zu bekommen, dessen Lösung den Weg zum Dunklen Tunnel freigab. Ja, es gab Dinge, von denen weder Koros noch er selbst wussten. Dinge, die Antilius geholfen hatten, bis hierher nach Verlorenend zu kommen. Und das alles, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wie und ob seine vergessene Vergangenheit damit in Verbindung stand.

Ein Bruchteil könnte genügen. Wenn Antilius schon so weit gekommen war, wie weit könnte er noch kommen, wenn er nur einen Bruchteil erfahren könnte?

Er erschauerte bei diesem Gedanken.

»Also? Bist du bereit, deine Suche wieder aufzunehmen?«, fragte der Herrscher ruhig.

Antilius nickte bloß wie in Zeitlupe.

Das machte den Herrscher anscheinend stutzig. Er sagte jedoch nichts.

Zweifel, Antilius zu viel verraten zu haben und damit unter Umständen seine eigenen Pläne in Gefahr gebracht zu haben, wischte er trotzig beiseite. Bald würde er ein Gott sein, und dann würde er keine Fragen mehr stellen und keine Zweifel mehr hegen müssen.

»Ich werde dich mit aller Macht bekämpfen«, sagte Antilius kalt.

»Nichts anderes erwarte ich von dir, mein Freund«, erwiderte Koros stolz über Antilius’ Entscheidung.

»Ich werde da sein. Wenn das Ende gekommen ist.«

Koros strahlte sein Gegenüber an: »Ich bin begierig darauf.«

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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