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Von den Finsteren Ebenen

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Die Tage gingen vorüber. Antilius merkte davon nichts, weil er sich, seit er in das Zeittor bei den Largonen gegangen war, nicht mehr im normalen Zeitgefüge befand.

Jemand anderes bekam die Zeit dagegen deutlich zu spüren:

Wrax’ Augenhöhlen wurden von Tag zu Tag dunkler. Er war ununterbrochen damit beschäftigt, die Weisungen seines Ersten auszuführen. Kein Zweifel, Koros hatte Großes im Sinn. Daran wagte Wrax nicht eine Sekunde lang zu zweifeln. Immer neue Ideen kamen dem Herrscher in den Sinn, immer neue Pläne, neue Strategien, wie er die bevorstehende Schlacht gegen die Dreizehn Häuser der Ahnenländer für sich entscheiden wollte.

Sein Berater hatte die Aufgabe, so viele Sympathisanten wie möglich zu sammeln, egal woher sie kamen. Eine große Armee sollte entstehen. Wrax hatte in allen Städten für die Pläne seines Ersten werben lassen. Mit Erfolg. Es gab viele, die einen Groll gegen die Dreizehn Häuser hegten. Sie hatten den Ruf, von arroganten, selbstgefälligen Schwächlingen regiert zu werden. Sie lebten in verschwenderischem Luxus, besaßen Essbesteck aus Gold, hieß es. Dekadent.

Nichts davon entsprach den Tatsachen, aber es war für Koros eine willkommene Propaganda.

Die meisten Rekruten sammelte Wrax jedoch in den Finsteren Ebenen. Eine üble Gegend im Nordosten, um die man besser einen großen Bogen machen sollte, wenn einem das eigene Leben lieb war. Denn Leben hatte dort nur wenig Bedeutung. Und das war auch gut so. Koros brauchte Söldner, die für ein paar Münzen ihr Leben hingaben. Ohne zu überlegen. Ohne zu zögern.

In den Finsteren Ebenen gab es vorwiegend nur Wegelagerer, Plünderer, Meuchler und dazu noch all jenes Getier, das einem sonst nur beim Schlafen in einem Albtraum begegnet.

Und so schwer es Wrax auch fiel, er musste sie rekrutieren. Insbesondere die Gorgens, die eine eigene Stadt in den Finsteren Ebenen, in Küstennähe im Nordosten von Truchten, gegründet hatten. Die Gorgens waren in den Augen von Koros die Qualifiziertesten unter dem ganzen Abschaum, den Wrax für seinen Ersten sammelte. Fast die gesamte Stadt Gorgonia war bereit, dem Herrscher in den Krieg zu folgen.

Krieg? Nein. So wollte Wrax es nicht bezeichnen. Widerstand war zwar zu erwarten, aber dieser war in Anbetracht der Übermacht, die er zusammentrieb, nutzlos.

Das hoffte er zumindest.

Die Tatsache, dass Koros die Ahnenländer angreifen wollte, nicht weil er sie erobern wollte, sondern um das Portal in der Nähe der dortigen Adler-Berge aufzubauen, hatte Wrax während seiner harten Arbeit stets verdrängt. Aber innerlich beunruhigte ihn der Gedanke. Er hatte noch keine Ahnung, was Koros genau anstrebte. Die Zeittore und das Avionium im Adler-Gebirge bei den Ahnenländern - beides konnte er nicht in einen Zusammenhang bringen.

Er vertraute aber dessen ungeachtet seinem Ersten. Koros war es einst gewesen, der ihn nach seiner Flucht aus der Stadt der Seelenlosen bei sich aufgenommen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass Wrax wieder Selbstbewusstsein schöpfen konnte.

Es stellte sich heraus, dass Wrax ein außerordentlich gutes planerisches Geschick besaß, was Koros natürlich förderte und ihn somit zu seinem engsten Vertrauten machte. Es war seinem Ersten egal, ob Wrax ein Mensch war oder nicht, denn das wusste Wrax selbst nicht. Äußerlich sah Wrax eigentlich wie ein Mensch aus. Wenn da nicht seine feuerrot glühenden Augen gewesen wären. Seine Augen, wegen denen er als Kind ständig gehänselt wurde. Sie waren auch der Grund, warum die meisten, denen er in seinem Leben begegnet war, Angst vor ihm hatten. Manche glaubten, er sei eine Ausgeburt eines schrecklichen Dämons. Und manchmal, ja manchmal, da ging es Wrax so schlecht, dass er das sogar selbst geglaubt hatte.

Doch Koros war es einerlei, welcher Abstammung sein Berater war. Schon allein aus diesem Grunde verbot es sich ihm, seinem Ersten unangenehme Fragen zu stellen oder gar Kritik zu üben. Nein. Er durfte nicht zweifeln. Und er musste ihm folgen.

In einem Moment, in dem Wrax sich unbeobachtet fühlte, verließ er den großen Sammelplatz hinter dem Palast seines Ersten, auf dem die Katapulte und die zwei Brücken gebaut wurden. Er legte sich auf eine schlichte Holzbank. Er war sehr müde und wollte nur ein kurzes Nickerchen machen. Ganz kurz.

Ehrlich!

Aber es war ihm nicht vergönnt.

Koros Cusuar erschien unangemeldet. Er wollte sich über den Zustand seiner Armee informieren. Wrax schnellte aus seiner Liegehaltung hoch.

Warum muss er ausgerechnet JETZT kommen? Er hat sich die ganz Zeit nicht blicken lassen. Warum hat er mich nicht früher in seine Pläne eingeweiht? Dann hätte ich mehr Zeit gehabt, um alles vorzubereiten. Mehr Zeit!

»Es tut mir sehr leid, Erster! Ich ahnte ja nicht, dass Ihr so früh kommen würdet«, entschuldigte er sich.

»Schon gut, Wrax. Ihr habt in der letzten Zeit sehr hart gearbeitet. Ich verstehe, dass Eure Kräfte aufgezehrt sind, aber es wird sich lohnen, das verspreche ich.«

»Davon bin ich überzeugt, Erster«, sagte Wrax erleichtert, aber unsicher.

Koros schlenderte ungewöhnlich gelassen zum Sammelplatz, der eigentlich der riesige Park seines Anwesens war. Früher einmal musste er prächtig ausgesehen haben, bevor Koros hier eingezogen war. Heute diente der Park der Vorbereitung eines kriegerischen Angriffs. Der Sammelplatz befand sich direkt vor seinem Palast. Der Prachtbau war vor zehn Jahren noch eine verlassene Ruine gewesen, als er beschloss, es zu seinem neuen Zuhause zu machen. Das war kurz nachdem das Flüsternde Buch ihn gefunden hatte. Das Buch hatte ihm gesagt, dass die Ruine nun ihm gehören solle. Diese Ruine verberge etwas Wundervolles, sagte es. Und ja. Das Buch hatte ja so recht. An diesem Ort war das erste Fragment versteckt gewesen, das erste Zeittor.

»Dann erzählt mir, mein treuer Berater, was Ihr für mich habt«, sagte er gespannt.

Wrax war bemüht, sich trotz Müdigkeit zu konzentrieren und räusperte sich. »Ich habe wirklich eine äußerst exzellente Mischung von Kämpfern zusammengestellt. Dort hinten seht Ihr, wie sich die Gedankenwandler vorbereiten. Es gelang mir, elf von ihnen anzuwerben. Sie haben die Aufgabe, mehrere Horden Piktins unter Kontrolle zu bringen und als Vorhut in den Kampf zu schicken. Gleich daneben werden vier Katapulte gefertigt. Wenn ich mit aller Bescheidenheit hinzufügen darf: Sie entstammen meinen eigenen Entwürfen. Sie sind leichter in der Bedienung und lassen sich schneller nachladen als die alten Modelle. Mit ihnen können wir die Druckluftbomben, die Ihr entwickelt habt, Erster, über die Schlucht schießen. Die Gorgens werden sich uns dann anschließen, wenn wir aufbrechen. Ich habe mit ihnen gesprochen, und sie haben verstanden, wofür wir sie brauchen werden.«

»Sehr schön Wrax, das habt Ihr sehr gut gemacht. Ich bin beeindruckt.«

Wrax war stolz. Die Müdigkeit war vergessen. »Das ist noch nicht alles, Erster. Es ist mir ebenfalls gelungen, Borus und Greifer zu finden und hierher zu bringen. Die Borus werden als Lasttiere die Brücken zur Schlucht tragen. Und wir werden sie brauchen, um die Brücken auch aufzubauen.«

»Greifer? Von denen habe ich noch nie etwas gehört. Zeigt sie mir.«

Wrax pfiff laut einen der Greifer zu sich her. Er sah aus wie ein Mensch. Nur seine Hautfarbe war extrem blass. Fast schneeweiß. Greifer, wie sie hierzulande genannt wurden, stammten von dem Volk der Felten ab. Einem Volk, das in den Schneegebirgen der Inselwelt Panthea lebte. Koros war verwundert. »Und? Was ist so besonders an ihm?«

Der Greifer streckte seine Arme aus, die sich zu dehnen begannen. Die Arme wurden immer länger. Der Greifer stand einige Meter von dem verdutzten Koros entfernt, wobei seine Hände ihn fast berühren konnten.

»Wage es nicht, mich anzufassen«, sagte er kalt.

»Verschwinde! Der Erste hat genug gesehen!«, befahl Wrax eilig, um seinen Ersten nicht zu verstimmen.

Enttäuscht zog der Greifer seine Arme wieder ein und verschwand zu den anderen.

»Sehr bemerkenswert, Wrax. Ich hoffe, diese langen Arme werden noch von Nutzen sein. Es ist Euch gelungen, mich zu überraschen.«

»Ich hoffe, Ihr seid nur positiv überrascht.«

»Aber ja. Macht Euch keine Sorgen. Ihr habt eine starke Truppe aufgestellt. Mit ihrer Hilfe, wird es ein Kinderspiel sein, die Ahnen-Tölpel zu besiegen.«

»Ganz bestimmt.«

Koros setzte seinen Spaziergang fort. Wrax folgte ihm. Wie immer.

»Was ist mit den Brücken?«

»Die Konstruktionen sind fast abgeschlossen. Ich kann Euch trotz größter Sorgfalt aber nicht versichern, dass sie stabil genug sein werden. Die Schlucht ist fast einhundert Meter breit. Starke Stürme könnten sie ins Wanken bringen. Zu große Belastung könnte sie entzweibrechen lassen.«

»Sie wird halten. Davon bin ich überzeugt«, sagte sein Herrscher beinahe gelangweilt.

Wrax machte eine Pause, um zu überlegen, wie er am behutsamsten seinen Ersten über dessen genaue Pläne befragen konnte. Eigentlich hatte er sich geschworen, nicht nachzufragen. Aber diese Ungewissheit und die ständig in seinem Kopf bohrende Frage, ob es richtig ist, das zu tun, was von ihm verlangt wurde, ließen ihm keine Ruhe.

»Sagt mir Erster, was habt Ihr vor? Was wollt Ihr mit den Zeittoren anstellen?«

Koros blieb stehen und drehte sich zu Wrax um. Dieser erschrak leicht, weil er fürchtete, seinen Ersten erzürnt zu haben. Man konnte bei Koros nie genau wissen, wie er reagieren würde.

»Kommt mit!«, forderte dieser ihn schließlich auf. »Ich werde es Euch zeigen.« Koros machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu seinem Palast. Verunsichert trottete Wrax hinterher.

»Was wollt Ihr mir zeigen, Erster?«

»Das Tor, welches wir aus der Largonen-Festung geholt haben.«

»Es ist schon eingetroffen? Haben die Gorgens es schon hierher gebracht?«

»Ja, nachdem ich beiläufig erwähnt habe, dass ich ihre Todfeinde, die Kretahns, für die Bergung des Tores engagieren wolle, waren sie bereit, für einen äußert moderaten Lohn für mich weiter zu arbeiten.

Und wie ich gehört habe, haben sie mir sogar einen Gefangenen mitgebracht«, freute sich Koros.

»Diesen Antilius?«

»Ich hoffe nicht«, sagte der Herrscher unverblümt.

»Ich verstehe nicht, Erster. Ihr hofft nicht?«

»Wenn es stimmt, was in dem Flüsternden Buch geschrieben steht, dann ist Antilius der Einzige, der wirklich eine ernsthafte Gefahr für mich darstellen kann. Einer, der mir ebenbürtig sein kann.«

»Aber ...«

»Hört auf, mich mit diesen Fragen zu löchern! Es gibt Dinge, die Ihr nicht wissen müsst. Noch nicht. Und ich möchte nicht, dass Ihr mir bezüglich dieser Person jemals wieder Fragen stellt!«, fuhr Koros seinen Berater an.

»Jawohl, Erster.« Wrax musste sich selbst verbieten, weiter über dieses Paradoxon nachzudenken.

»Das Zeittor wird mit dem Tor, das ich beim Bau meines Palastes vor zehn Jahren hier entdeckt habe, zusammengebaut«, sagte Koros.

»Das heißt, dass sich das andere Zeittor schon immer hier befunden hat?«, fragte Wrax staunend.

Koros nickte grinsend. »Ja, es war schon hier, lange bevor wir beide geboren wurden, Wrax. Das Buch, das ich Euch gezeigt habe, hat mir gesagt, dass das Tor hier versteckt sein würde. Und es hatte die Wahrheit gesagt. Wobei ich es eher als Fragment, denn als Tor bezeichnen würde.«

»Was soll ein Zusammenbau mit dem Tor der Largonen bezwecken?«

»Das Flüsternde Buch sagt, dass es nur zwei Tore auf diesem Planeten gibt. Jedes für sich besitzt demnach die Fähigkeit, Lebewesen durch die Zeit zu schicken. Doch dies ist nicht möglich, weil die Späher Zeitreisen nicht erlauben. Selbst mir erlauben sie es nicht, sagte das Flüsternde Buch. Werden die Tore jedoch zusammengefügt, dann ergibt sich ein neues Tor. Ein Portal, das seine Macht nur dann entfalten kann, wenn es in der Nähe der Avionium-Berge errichtet wird. Oder das Adler-Gebirge, wie es von den Bewohnern der Ahnenländer bezeichnet wird.«

»Was bewirkt das Avionium?« Wrax wunderte sich einen Augenblick selbst darüber, dass er schon wieder nur Fragen stellte. Aber er begriff noch so wenig, dass er einfach immer wieder nachhaken musste. Zu seiner Überraschung war Koros jetzt anscheinend bereit, ihm alles zu erklären. Fast alles.

»Das Avionium. Oh, es wird Fabelhaftes vollbringen.«

»Was? Was wird es vollbringen? Erzählt es mir, Erster!«

»Ich weiß noch nicht, ob Ihr für die Wahrheit bereit seid, mein treuer Berater.«

»Ich bin es! Weiht mich in Eure Pläne ein, damit ich Euch besser verstehen und dienen kann!«

Koros blieb kurz vor dem Eingangstor seines Palastes stehen und schaute Wrax nachdenklich an.

»Es wird alles verändern. Ich werde mich verändern, Wrax. Und wenn alles so gelingt, wie ich es mir vorstelle, dann werde ich mit der Macht aus dem Portal nicht mehr der sein, den Ihr einmal kanntet.«

Wrax wurde unwohl: »Was meint Ihr damit? Werdet Ihr mich verlassen?«

»Fürchtet Euch nicht, mein treuer Freund. Ich werde Euch nicht verlassen. Ich werde immer da sein, zu jeder Zeit und an jedem Ort.« Ein wahnsinniges Leuchten in den Augen des Herrschers blendete Wrax.

»Warum tut Ihr das?«

»Weil es meine Bestimmung ist. Ich habe das Buch. Und ich habe das Tor gefunden. Es ist an mir, diese großartige Aufgabe zu übernehmen. Die Welt wird sich verändern, ich werde sie verändern. Ich muss es tun. Ich kann es Euch nicht jetzt genauer schildern. Ihr werdet es erleben, Wrax. Ihr werdet dabei sein. Die Macht, die sich im Portal verbirgt, gehört mir. Die Macht der Transzendenz. Alle werden es sehen. Alle.« Koros fühlte sich unglaublich stark, während er seinem Berater scheibchenweise mehr Informationen über sein Vorhaben gab. Nur konnte Koros Cusuar nicht wissen, dass er, sollte er erfolgreich sein, mit der Macht der Transzendenz noch etwas anderes entfesseln würde. Etwas, dem selbst der Transzendente nichts entgegenzusetzen haben würde.

Trotz des Versuchs von Koros, Wrax zu beruhigen, bekam dieser sichtlich Angst und stellte dann die Frage, die er am allermeisten fürchtete: »Wird sich die Welt zum Guten verändern?«

Koros antwortete nicht sofort und verunsicherte Wrax damit nur umso mehr. »Wenn Ihr an mich glaubt, dass die Welt sich zum Guten wenden wird, dann wird es auch so sein.«

Wrax wollte fest an ihn glauben, doch in seinem Inneren tat er es nicht. Koros’ Antwort erschütterte ihn, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er war sich über sich selbst noch nicht im Klaren. Solange er nicht genau herausfinden konnte, was Koros mit der Macht in dem Portal anfangen wollte, konnte er nicht vom Guten in Koros überzeugt sein. Vielleicht sagte Koros ja die Wahrheit, aber was, wenn nicht?

Er schob diesen Gedankenwirrwarr beiseite und konzentrierte sich zunächst weiterhin auf seine Arbeit.

Arbeit. Ja genau! Nicht darüber nachdenken. So wie früher, dachte er, als er seinem Ersten ins Innere des Palastes folgte.

Er hatte ohnehin keine andere Wahl. Er konnte nicht einfach aus dieser Sache aussteigen.

Aussteigen? Du bist verrückt, wenn du so was auch nur denkst, dachte Wrax erschüttert.

Er konnte jetzt nicht mehr zurück.

Das würde ihm sein Erster niemals verzeihen. Das durfte Wrax nicht tun.

Es wäre sein Tod.

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