Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 36

Regeneration und Wiedervereinigung

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In Verlorenend, einer Welt zwischen der endlichen Wirklichkeit und der Endlosigkeit der Träume, schritt Antilius dem Unbekannten entgegen.

»Wann wird es hier hell?«, fragte er seine Begleiterin.

»Es gibt hier keine Sonne, die auf- oder untergehen könnte. Die Lichtverhältnisse hier sind so, wie du es für dich gerade wahrnimmst. Für mich ist alles ganz normal.« Die Frau ohne Namen musste ein wenig grinsen.

»Wieso lachst du? Ich bin schließlich neu hier«, verteidigte er sich ein wenig flachsend.

»Entschuldige. Ich fand es nur amüsant, weil du doch eigentlich bereits alles weißt.«

»Ich weiß nichts über diese Welt. Ich kann mich nicht einmal an meine eigene Vergangenheit erinnern. Aber davon wusstest du wahrscheinlich auch schon, bevor wir uns getroffen haben.«

Die Namenlose nickte und grinste dabei ein wenig. »Warte nur. Du wirst es noch begreifen. Und was deine Vergangenheit betrifft: Das Orakel wird dir vielleicht helfen können. Versprechen kann ich es dir aber nicht. Hab Geduld, Antilius.«

»Wenn du meinst. Und womit vertreibst du dir die Zeit, wenn du nicht gerade unwissende Neuankömmlinge verunsicherst?«

»Zeit?«

»Ja. Kennst du das etwa nicht?«

»Es gibt hier keine Zeit. Zeit ist bedeutungslos.«

Antilius blieb stehen. »Moment Mal! Soll das etwa heißen, dass hier die Zeit stehen geblieben ist und es deshalb nicht hell wird?«

»Nein. Die Zeit schreitet nicht voran. Sie bleibt auch nicht stehen. Es gibt sie nicht, zumindest nicht in dem Sinne, wie auf Thalantia. Die Zeit kann diesen Ort nicht erreichen, wenn du es so verstehen willst.«

»Keine Zeit? Wie können wir aber dann hier ohne Zeit überhaupt existieren?«

»Hier kann alles existieren. Alles lebt. Du kannst diese Welt nicht mit deiner vergleichen. Verlorenend ist ein Multiversum von unendlich vielen Möglichkeiten. Du wirst seine Wahrheit schon noch verstehen, glaube mir.«

Antilius seufzte. Wieder überkam ihn das Gefühl, die Namenlose irgendwoher zu kennen. Er würde sie noch danach fragen, aber nicht jetzt.

Eine ganze Weile lang gingen er und die schöne, merkwürdige Frau nebeneinander her, bis sie vor einem kleinen Holzhaus Halt machten. Zu Antilius’ Verwunderung war es das einzige Haus weit und breit. Im Gebäude brannte kein Licht.

»Was denkst du, wenn du das Haus betrachtest?«, wollte die Namenlose neugierig wissen.

Antilius begriff nicht, worauf diese Frage abzielte. Vielleicht war es eine Art Prüfung. »Ich weiß nicht. Ein einsames Haus. Klein. Aus Holz. Ein bisschen heruntergekommen.«

»So ist es. Es fühlt sich nicht gut«, flüsterte sie.

Antilius legte die Stirn in Falten und senkte auch seine Stimme: »Was? Das ist ein Haus. Ein Haus! Was soll es denn fühlen?«

»Ich habe dir doch gerade gesagt, dass hier alles lebt. Das gilt auch für das Haus. Alles hat eine Seele.«

Antilius musterte daraufhin mit zweifelnder Miene die Holzhütte erneut. Es machte keinen lebendigen Eindruck. Er zuckte mit den Achseln. »Tja, wenn es sprechen könnte, würde ich dir vielleicht glauben«, lästerte er.

»Warum sprichst du dann nicht mit ihm?«

Antilius fühlte sich auf den Arm genommen. »Das kann ich ja gerne tun, aber es würde mir mit Sicherheit nicht antworten. Und du würdest mich mit Sicherheit wieder auslachen.«

»Du musst es nur wollen«, insistierte die Unbekannte. Ihr Mienenspiel war ernster geworden. Dennoch wirkte sie gelöst.

»Da verlangst du zu viel von mir«, warf er ein und machte Anstalten weiterzugehen, aber plötzlich vernahm er aus dem Haus ein Grollen. Antilius drehte sich wieder um und erstarrte:

Das Haus bewegte sich. Holzbalken bogen sich ächzend. Späne wurden aus den Ritzen gedrückt. Zwei Fenster unter dem Dachfirst leuchteten auf. Sie sahen aus wie zwei Augen.

Das Haus bekam ein Gesicht.

»Ach, mir geht es gar nicht gut«, brummte das Haus mit einer unglaublich tiefen Stimme, wobei es die Worte nur sehr langsam herausbrachte.

Antilius blieb in seiner Erstarrung festgefroren. Seine unbekannte Begleiterin jedoch grinste wieder nur hinter vorgehaltener Hand.

»Das ist ein Trick«, stammelte Antilius.

»Ich wünschte, es wäre einer«, murrte das Haus weiter. Ein schrecklich lauter und bodenerschütternder Hustenanfall schloss sich dem letzten Satz an. Aus dem Schornstein stieß stoßweise Rauch auf.

Fassungslos schaute Antilius seine Begleiterin an.

»Willst du es nicht fragen, warum es ihm nicht gut geht?«, fragte sie.

Antilius stockte der Atem. Er konnte es nicht glauben. Wenigstens war es kein Monster aus dem Dunklen Tunnel.

»Was hast du, altes Haus?«

»Ich fühle mich so alleine. Und außerdem habe ich einen schlimmen Husten.« Zur Bestätigung hustete das Haus erneut kräftig. Fast so, als suchte es Mitleid. Nein, nicht fast so - es wollte Mitleid.

»Warum bist du allein?«

»Mein Besitzer ist fort. Er hat mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr sauber gemacht. Alles ist voll Staub. Und gelüftet hat er mich auch noch nie. So kann man mich doch nicht behandeln! Das ist einem Haus wie mir doch nicht würdig, oder?«

»Nun, äh, sicher nicht.«

Das Haus prustete wieder und brauchte lange, bis es sich gefangen hatte. Es sah wirklich bemitleidenswert aus - für ein Haus.

»Ich mache das nicht mehr länger mit«, jammerte es.

»Was willst du tun?«

»Ich werde verschwinden. Ich werde mich klammheimlich aus dem Staub machen. Das werde ich tun. Vielleicht ist das meinem Besitzer mal eine Lehre, wenn er wieder betrunken nach Hause kommt und merkt, dass sein Heim plötzlich verschwunden ist. Das wäre doch eine gerechte Strafe. Ich habe schon früher darüber nachgedacht, heute jedoch werde ich Ernst machen. Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«

Das Haus besaß zwar kein Gesicht, aber Antilius hatte das Gefühl, dass ihn die leuchtenden Fenster verschwörerisch fixierten.

»Ich werde dich bestimmt nicht verraten«, versicherte er zügig.

»Ich auch nicht«, bestätigte die Namenlose mit allem nötigen Ernst.

Das Haus erzitterte daraufhin und erhob sich ächzend. Antilius konnte es kaum fassen, aber dieses wundersame Haus besaß so etwas Ähnliches wie Beine. Es waren dicke Holzbalken, die sich so stark bogen, dass Antilius fürchtete, sie würden brechen und das Haus wurde in sich zusammenstürzen.

»Also gut. Ich verschwinde. Ihr habt mich nicht gesehen, klar?«, sagte das Haus schließlich.

Antilius musste schmunzeln. Ein Haus wie dieses konnte sich wohl schlecht irgendwo hinter einem Baum verstecken. Außerdem würde es wohl auffallen, wenn ein Haus die Landschaft durchwanderte. Aber er wollte es nicht entmutigen. »Ich habe nichts gesehen«, sagte er.

Das Haus verabschiedete sich mit einem Hustenanfall und stampfte gemächlich davon und hinterließ dabei einen tief zerfurchten Acker. Antilius und die namenlose Frau sahen ihm hinterher. Irgendetwas murmelte das Haus noch, als es sich entfernte, es war aber nicht mehr zu verstehen. Wahrscheinlich verfluchte es seinen Besitzer.

»Das ist schon amüsant. Ein sprechendes Haus. Langsam gefällt mir dieser Ort hier.«

»Wenn du willst, kannst du mit allem hier sprechen. Du kannst mit Menschen sprechen, mit Tieren, Pflanzen oder mit Gegenständen. Alles ist beseelt. Es gibt keine Ausnahmen, sondern nur Möglichkeiten. Aber du musst es auch wollen«, sagte die Namenlose mit ernstem Gesicht.

»Du meinst, das Haus konnte nur mit mir reden, weil ich mir vorgestellt habe, dass es mit mir sprechen kann?«

»Nun, so ähnlich. Aber man kann es so ausdrücken. Erinnerst du dich, wie du mit dem Sandling gesprochen hast?«

»Ja, natürlich. Woher weißt du davon?«

»Der Sandling hat mir gesagt, dass du bald hier eintreffen würdest. Er spricht nicht mit jedem. Nur jene, die frei von Vorurteilen sind, können mit ihm reden.«

»Niemand ist frei von Vorurteilen. Auch ich nicht«, sagte Antilius aufrichtig.

»Tief in dir drin, bist du es. Und genau das ist die Voraussetzung, um mit dem Haus und allem anderen, das es hier gibt, zu sprechen und mit ihm zu leben.«

Antilius glaubte, einen Einfall zu haben. War es das? War das die Lösung?

»Ist diese Fähigkeit, das Unmögliche zu akzeptieren, das, wonach ich suche? Sich mit ihm auseinanderzusetzen?«

»Er ist mehr als das. Du besitzt noch mehr Fähigkeiten, die dir nur noch nicht bewusst sind.«

Antilius’ Gesichtsausdruck signalisierte der Namenlosen, dass er ihr nicht glaubte.

»Wenn du nicht daran glaubst, wirst du deine Aufgabe nicht erfüllen können. Es würde schon ausreichen, wenn du dich nicht dagegen wehrst. Das ist der erste Schritt.«

»Ich bin bereit. Ich bin bereit zu lernen. Und ich werde glauben. Wo kann ich das Orakel finden?«, fragte Antilius jetzt wieder ungeduldig. Die Frage schien die Unbekannte zu überraschen.

»Dafür ist es noch zu früh«, sagte sie schnell.

Seine Miene verlangte nach einer Erklärung.

»Kurz nachdem du durch das Zeittor gereist bist, hat Koros es gestohlen, um es mit einem weiteren Tor zu einem Portal zusammenzubauen. Ist er erfolgreich, könnte er die ganze Welt vernichten, weil er nicht weiß, womit er es zu tun hat. Er könnte sogar für diesen Ort, für Verlorenend, eine ernsthafte Gefahr werden. Ihm ist zwar die Existenz dieses Ortes vermutlich nicht bewusst, aber er kann dich wahrnehmen. Und wenn er dazu fähig ist, dann könnte er auch herausfinden, wo du dich befindest. Deshalb ist es wichtig, dass du lernst, dich geistig von ihm abzuschirmen. Du musst einen Schutzschild aufbauen, um dich und die Bewohner von Verlorenend zu beschützen.«

Antilius ließ sich einen Moment Zeit, um über die Worte der namenlosen Frau nachzudenken.

»Du bist hier, um zu lernen, deine Fähigkeiten zu benutzen. Ich werde dich lehren. Erst danach wirst du das Orakel sprechen können, ansonsten würdest du nicht verstehen, was es dir erzählt. Das Orakel wird dir den weiteren Weg, den du gehen musst, weisen.«, sagte sie und wartete gespannt auf eine Reaktion.

»Wie lange wird das dauern? Koros könnte doch theoretisch jeden Augenblick das Portal öffnen und die Macht der Transzendenz befreien.«

»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Zeit spielt hier keine Rolle. Deine Ausbildung wird so lange dauern, wie es erforderlich sein wird. Wenn du in deine Welt zurückkehrst, um Koros aufzuhalten, dann wird es zum richtigen Moment sein. Ich habe es vorhergesehen, dass du zum richtigen Zeitpunkt dort sein wirst.«

Antilius war skeptisch. Er schwankte zwischen Glauben und Misstrauen. Andererseits hatte er keine andere Wahl. Er musste ihr vertrauen. Er fühlte sich in dieser fremden Wirklichkeit wie ein hilfloses Baby. Er war auf sie angewiesen.

»Du kannst Dinge vorhersehen?«, fragte er.

»Nur vage. Und nur mithilfe des Orakels. Wenn ich etwas sehe, dann sind es meist mehrere Versionen des jeweils selben Geschehens. Aber meistens gelingt es mir, die richtige Version herauszufinden.«

Die Frage aller Fragen: »Werde ich erfolgreich sein?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe nur ein Gefühl. Eine unschlüssige Vision. Ich möchte dich nicht verunsichern. Ich sehe viel Widersprüchliches. Ich spüre allerdings, dass Koros sich deiner Gedanken bewusst ist. Das ist sicher. Er erwartet dich bereits und hat Vorbereitungen getroffen. Es wird ein harter Kampf«, flüsterte sie mit traurigem Gesicht. Sie machte ihm damit nicht gerade Mut.

»Warum besitzt er diese besondere Verbindung ausgerechnet zu mir?«, fragte er.

»Weil ihr beide etwas gemeinsam habt. Er ist fähig, diejenigen, die über die besonderen Fähigkeiten verfügen und sie benutzen, wahrzunehmen, egal, woher sie kommen und egal, wer sie sind. Fähigkeiten, die auch er beherrscht. Er selbst hat diese Begabungen vererbt bekommen. Deshalb hat er dich auch erst vor Kurzem bemerkt, als du nach deiner Ankunft auf der Fünften Inselwelt ihm unbewusst deine Fähigkeit offenbart hast. Damit hat er nicht gerechnet.«

Antilius’ Kehle fühlte sich an wie ein ausgetrocknetes Flussbett.

»Ich habe noch eine Frage an dich«, begann er.

Die namenlose Frau schaute ihn geistesabwesend an. Aber sie hörte zu.

»Was ist, wenn ihr euch alle geirrt habt? Der Sandling, Brelius und du. Was ist, wenn ich keine besonderen Fähigkeiten besitze. Was ist, wenn es nur Zufall war, dass Koros mit mir Kontakt aufnahm. Er könnte sich auch irren.«

»Lass deine Worte in deinem Innersten widerhallen. Höre dir selber genau zu. Wiederhole, was du eben bezweifelt hast und dann sage mir, was du glaubst.«

Er antwortete prompt: »Ich kann es nicht erklären, aber ich fühle, dass es kein Zufall war, was bisher geschehen ist. Ich werde es versuchen. Ich will lernen und muss herausfinden, wer ich bin.«

»Du bist ehrlich. Das ist sehr gut«, freute sich die Namenlose.

Antilius nickte entschlossen und wollte so tun, als hätte er keine Angst. Aber als er darüber nachdachte, dass er die Frau nicht ohne Weiteres täuschen konnte, ließ er es wieder bleiben. Im Übrigen war es wenig sinnvoll, sich selbst etwas vorzumachen.

»Also? Wo fangen wir an?«, fragte er stattdessen.

»Das musst du bestimmen. Überlege, welches Ereignis dich in der letzten Zeit am meisten emotional bewegt hat.«

»O, da gibt es so einiges«, stöhnte Antilius. Er ließ die letzten Tage Revue passieren. In dem Speisesaal bei den Largonen hatte er schwere Ängste durchlitten. Vom Dunklen Tunnel ganz zu schweigen. Oder die Trauer beim sterbenden Sandling. Aber dann fiel ihm das Ereignis ein, bei dem er die stärksten Gefühle empfunden hatte. »Bei meiner Ankunft auf Truchten gab es etwas, das mich sehr beeindruckt hat.«

»Was war es?«

»Eine Blüte. Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber so war es. Es war eine kleine rot leuchtende Blume mit kreisrunden Blütenblättern. Ich konnte mich gar nicht von ihrer Schönheit abwenden. Aber ihre Schönheit war nicht das Einzige. Ich habe etwas gehört. Eine Stimme. Sie schien von weit wegzukommen. Ich glaube sie …«

»Kam aus der Vergangenheit? Aus der Vergangenheit, an die du dich nicht mehr erinnern kannst?«, fragte seine Begleiterin mit leuchtenden Augen.

Antilius wurde blass und bekam plötzlich eine Gänsehaut. »Ja«, sagte er tonlos. »Ja, ich glaube, so war es.«

Die Frau drehte sich um und pflückte etwas vom Boden.

»War es so eine?« Sie hielt ihm eine graue, verwelkte Pflanze vor die Nase, die nur noch entfernt an eine Blume erinnerte. Aber Antilius erkannte, dass es sich um die gleiche Gattung handelte, die er in der Nähe des kleinen Schienenbahnhofs gefunden hatte.

»Ja. Das kann schon sein. Sie sah allerdings nicht so armselig aus wie die hier.«

»Dann versuche, ihre Kraft und ihre Schönheit zurückzuholen. Und frage mich nicht, wie du es anstellen sollst, sondern versuche es einfach.«

Er befolgte ihre Anweisungen und protestierte nicht, obwohl er keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte. Er konzentrierte sich auf die verwelkte Blume und stellte sich vor, wie sie aussehen würde, wenn sie gesund sein würde.

Eine ganze Zeit passierte nichts. Antilius bemühte sich, sich noch intensiver auf die Blume zu konzentrieren, aber es half nichts.

»Ich kann es nicht«, klagte er kurzatmig.

»Du darfst dich nicht unter Druck setzen. Du musst es einfach nur wollen.«

Er versuchte es wieder, und dann geschah es auch sogleich. Allmählich richtete die Blume sich auf, sie gewann wieder an Farbe und Stärke und das so weit, dass sie trotz des schlechten Umgebungslichts rot leuchtend in der Hand der namenlosen Frau lag.

Antilius war überwältigt. Er hatte ein Wunder vollbracht.

»Siehst du jetzt, dass du es kannst? Du besitzt die Fähigkeiten, von denen ich sprach.«

»Ich kann es kaum glauben!«

»Das war der erste Schritt. Das sollten wir feiern!«

»Was stellst du dir vor?«

»Bei den zehn Wasserfällen gibt es eine Taverne. Eine Gruppe Beluvianer gibt dort heute ein kleines Konzert.«

»Ihr macht Musik? Hört sich gut an! Ein wenig Entspannung könnte ich schon vertragen.«

Kurz bevor die beiden die Taverne neben den Wasserfällen, die durch eine Anhöhe verdeckt wurden, erreichten, fiel Antilius sein Spiegel wieder ein. Und Gilbert, den er vermisste.

Und in seinem Kopf ging das Gespenst um, das ihm zuflüsterte, dass irgendetwas nicht stimmte. Nur was war es?

Eins nach dem anderen.

»Ich würde noch gerne etwas wissen«, begann er. »Ich lernte auf der Fünften Inselwelt jemanden kennen. Sein Name ist Gilbert. Er war ein Spiegelgefangener, und er hat mich während meiner ganzen Suche nach dem Sternenbeobachter begleitet und mir auch sehr geholfen.«

»War er dein Freund?«

»Ja. Ja, er ist mir ein sehr guter Freund geworden. Ich habe ihn verloren, als ich in diese Welt eintrat, nachdem ich diejenige, in der sich Brelius befand, verlassen hatte. Er war einfach aus dem Spiegel verschwunden. Hast du eine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?«

Seine Begleiterin schwieg. Ihr beklemmendes Schweigen wurde nur durch das leise Rauschen der Wasserfälle hinter dem Hügel aufgeweicht. Antilius interpretierte es als Unwissenheit über das, was Gilbert zugestoßen sein könnte. Er fühlte sich verantwortlich für seinen Freund und jetzt auch schuldig, dass er ihn mit in diese Sache hineingezogen hatte.

Doch dann lächelte die Namenlose ihn an, ohne etwas zu sagen. Antilius war wieder einmal verwirrt.

Sie sah seine Verwunderung und schaute daraufhin hinüber zum Hügel. Antilius spähte ebenfalls dorthin, vermochte jedoch nicht etwas zu entdecken.

Rufe erklangen. Ganz schwach. Sie gingen fast unter dem Rauschen der Wasserfälle unter. War es ein Hilferuf? Antilius lauschte genauer. Nein, es klang so, als ob jemand lachen würde. Nun war seine Neugier geweckt, und so tigerte er eilig zur Hügelspitze. Die Namenlose folgte ihm.

Der Anblick der zehn Wasserfälle war überwältigend. Sie waren nur knapp fünf Meter hoch und ergossen sich in einen kleinen See. Das aufgeschäumte Wasser sah in dem diffusen Umgebungslicht aus wie geschmolzenes Silber. Jemand badete darin. Er planschte in voller Bekleidung wie ein kleines Kind im Wasser, tauchte unter und sprang wieder heraus und gab dabei Rufe der Freude zum Besten.

Antilius erkannte die Stimme. Der andere im Wasser bemerkte die beiden Personen, die auf dem Hügel standen und ihn beobachteten. Er schaute zu ihnen hinauf.

Antilius traute seinen Augen nicht, wer ihn in diesem Moment von da unten ansah.

Aufgedreht suchte er eine Erklärung bei seiner Begleiterin, wobei er sie mit strahlenden Augen anschaute, aber kein Wort herausbringen konnte. Er brauchte die Frage nicht zu stellen. Sie gab ihm die Auflösung für das Wunder, das er nicht für möglich hielt.

»Hier in Verlorenend gibt es keine Gefängnisse«, sagte sie schlicht.

Unendliche Freude und Erleichterung überkamen ihn.

»Gilbert, ich bin es!«, schrie er aus Leibeskräften.

Gilbert winkte herauf. Der Meister durfte erleben, wie sein Freund den Zauber der Freiheit erleben durfte. Nach einer so langen Zeit der Gefangenschaft, deren Dauer er nur erahnen konnte, wurde es Gilbert ermöglicht, wieder das Gefühl der Freiheit zu spüren. Antilius wusste praktisch nichts über die Vergangenheit seines Freundes. Nicht einmal, wie er in den Spiegel gekommen war. Es war absurd, denn obwohl er bislang so wenig über ihn in Erfahrung bringen konnte, hatte er doch das Gefühl, einen guten alten Freund wiederzusehen.

Gilbert erkannte seinen Meister. Er stürmte in klatschnasser Garderobe auf ihn zu.

Schließlich standen sie sich gegenüber. Auge in Auge. Es gab kein Glas mehr, keine Wand, die sie trennte. Keine unterschiedlichen Proportionen. Antilius empfand es als ungewöhnlich, Gilbert plötzlich so groß zu sehen. Durch den Spiegel wirkte er immer klein und verletzlich. Gilbert erging es ähnlich, nur umgekehrt: Antilius war für ihn kleiner, als er es gewohnt gewesen war.

Sie umarmten sich.

»Du siehst gut aus«, sagte Antilius, ohne seinen Freund loszulassen.

»Ich habe mich noch nie so gut gefühlt wie jetzt«, sagte Gilbert.

»Wie hast du das bloß angestellt, aus deinem Gefängnis zu entkommen?«

»Ich habe nichts gemacht. Von einer Sekunde auf die andere erwachte ich hier neben den Wasserfällen. Es ist ein Wunder.«

»Ich freue mich für dich. Darf ich vorstellen? Das ist , äh ... ich weiß ihren Namen nicht. Sie hat keinen.«

Gilbert machte ein verdutztes Gesicht und beäugte die fremde Frau.

»Ist schon in Ordnung«, beschwichtigte sie. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Gilbert. Du hast die Freiheit verdient. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der es so lange in einem Spiegelgefängnis ausgehalten hat wie du.«

Gilbert zog misstrauisch die Augenbrauen runter. »Woher weißt du, dass ich…?«

»Lass mal gut sein. Wir werden dir gleich alles erklären, obwohl ich bei der ganzen Geschichte auch noch nicht ganz durchgestiegen bin«, sagte Antilius überschwänglich.

»So, so. Du hast keinen Namen?«, wunderte sich Gilbert.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Sie braucht hier keinen Namen, wie sie selbst sagt«, ergänzte Antilius.

»Es wäre aber schön, wenn wir sie irgendwie ansprechen könnten. Wir wäre es, wenn wir dir einen Namen geben?«

Die Namenlose war verblüfft über diesen ungewöhnlichen Vorschlag, wollte zunächst ablehnen, entschied sich dann aber um. Einen Namen zu haben, war ein verlockender Gedanke. Wie lange war es her, dass sie einen Namen hatte?

»Also gut. Was schlagt ihr vor?«, fragte sie auffordernd.

Antilius fiel kein passender Name ein, wohl aber Gilbert: »Wie wäre es mit Tahera?«

»Woher hast du denn den Namen?«, fragte Antilius zweifelnd.

Gilbert war mit einem Mal ganz woanders. Ein Schatten bildete sich auf seinem Gesicht. Ein Schatten einer Erinnerung. Sein Körper war zwar jetzt befreit in Verlorenend, aber seine Gedanken waren weit weg. »Er ist mir nur so eingefallen«, sagte er mit leeren Augen.

»Also mir gefällt er«, sagte Tahera.

»Sehr gut. Dann können wir jetzt in die Taverne gehen und auf die Freiheit anstoßen«, meinte Antilius.

Gilbert bekam leuchtende Augen. »Eine Taverne? Bier! Du meine Güte! Wie lange habe ich kein Bier mehr getrunken?«, sagte er. Der Schatten auf seinem Gesicht, der Antilius nicht entgangen war, verschwand. Aber er verschwand nicht ganz. Auch das konnte Antilius sehen. Und als er darüber nachdachte, welche Bedeutung dahinter stecken könnte, wurde ihm klar, dass ein Hauch dieses Schattens schon immer da gewesen war.

Er hatte ihn bis heute nur noch nicht bemerkt.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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