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Kein Plan, keine Armee und kein Mut

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Von wegen feige! Nichts brachte ihn so sehr in Rage, wie als Feigling tituliert zu werden. Und dies kam nicht selten vor.

Dabei war er wirklich nicht gerade das, was man als mutig bezeichnen würde. Und beim ersten Anzeichen von Gefahr machte er sich stets aus dem Staub. Das war wohl ein angeborener Reflex seiner Spezies. Dies machte er sich stets glauben.

Aber ob mutig oder nicht, sein Fluchtinstinkt hatte ihm mit absoluter Sicherheit das Leben gerettet. Wenn es darauf ankam, dann konnte er rennen. Schneller als alle anderen. Sogar schneller als die Piktins. Haif Haven hatte einen rekordverdächtigen Spurt hingelegt. Er hatte diese blutrünstigen Viecher einfach abgehängt. Das glaubte er zumindest.

In Wirklichkeit war es so, dass zwei der Piktins ihn zunächst verfolgt hatten und ihn dann als einen köstlichen Mitternachtsimbiss verspeisen wollten. Doch dann verloren sie aus irgendeinem Grund das Interesse an ihm. Die meisten der Piktins hatten sich entschieden, Antilius zu verfolgen.

Der arme Antilius. Hat er mich doch vor den Gorgens gerettet. Würde mich wundern, wenn er das überlebt hat, dachte Haif traurig.

Alle Piktins wollten sich auf Antilius stürzen. Sie mussten gespürt haben, dass er anders war als die anderen. Dass er etwas Besonderes war. Ein besonderer Mitternachtsimbiss.

So lange und so schnell wie Haif gelaufen war, musste er bestimmt mehrere Pfunde Fett verloren haben.

Tagelang war er in heller Panik durch die Wälder zurück nach Fara–Tindu gelaufen. Irgendein innerer Kompass musste ihn geleitet haben. Anders konnte er sich nicht erklären, wie er dorthin gefunden hatte.

Nachdem er die Stadt erreicht hatte, erholte er sich in einem Gasthaus schnell von den beispiellosen Strapazen. Sortaner waren ein unverwüstliches Völkchen.

Eigentlich wollte er sich allmählich wieder auf den Heimweg nach Itap-West machen, doch die physische Erholung, die sich bei ihm einstellte, ging nicht mit der psychischen einher. Er war einfach weggerannt. Er hatte seine Retter zurückgelassen. Er hatte sie im Stich gelassen. Er dehnte, bog und zerschnitt diese Unwiderlegbarkeit in schlaflosen Nächten. Er konnte sie jedoch nicht eliminieren. Sie war nun einmal da. Er würde mit ihr leben müssen.

Für den Rest meines Lebens.

Er hatte sich eingeredet, dass seine Retter sehr gut ohne ihn zurechtkommen würden, dass sie irgendwie die Piktins bezwingen konnten, aber es half nicht, die Schuldgefühle wegzuwischen.

Ein paar schlaflose Nächte später erfuhr Haif eher durch einen Zufall von einem guten Bekannten, dass der Herrscher Koros Cusuar in seinem kleinen Reich etwas Unheilvolles plante. Es hieß, die Gorgens würden ihn unterstützen. Zusammen wollten sie die Ahnenländer überfallen. Sie hätten etwas aus der Largonen-Festung gestohlen und dem Herrscher einen menschlichen Gefangenen offeriert, den sie dort entdeckt hatten. Haif wusste ganz genau, was sie gestohlen hatten.

Gerüchte verbreiteten sich auf der Fünften Inselwelt äußerst rasch. Tatsachen, so wusste es Haif aber besser, verbreiteten sich doppelt so schnell.

Ein menschlicher Gefangener.

Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte:

»Na und? Menschen! Was kümmern dich die Menschen? Was haben Menschen jemals für dich getan? Warum solltest du etwas für sie tun?«

Aber es gab noch eine andere Stimme, die sagte:

»Du kannst den Menschen nicht im Stich lassen. Du hast es schon einmal getan. Einmal zu viel. Das ist deine Chance, es wieder gutzumachen. Du musst etwas unternehmen. Oder willst du, dass sie alle wieder mit dem Finger auf dich zeigen und ‚Feigling! Feigling!’ brüllen?«

Beide Argumente waren für Haif von Bedeutung. Das zweite aber noch mehr.

Er besaß keinen Plan, keine Armee und keinen Mut. Dennoch wollte er wenigstens mal nachsehen. Er wollte zum Anwesen von Koros Cusuar gehen und schauen, ob der Mensch noch lebte. Um wen es sich wohl handelte? Pais oder Antilius?

Und vielleicht, vielleicht fiele ihm dann etwas ein. Auf jeden Fall wollte er mal nachsehen. Konnte ja nicht schaden. Da konnte nicht viel passieren.

Haif wollte natürlich kein Risiko eingehen, aber er musste gehen und herausfinden, wer der Mensch war, den Koros gefangen hielt und ob es ihm gut ging.

Haif ging einkaufen. Er rüstete sich mit allerlei Utensilien aus. Ausreichend Proviant war natürlich das Wichtigste. Ein paar kleine Klingen für die Gorgens. Gift für die Piktins und natürlich noch ein Fernrohr, denn das alte hatte er beim nächtlichen Überfall der Piktins unfreiwillig zurückgelassen.

Wäre Haif nicht in Fara-Tindu geblieben und stattdessen nach Itap-West gegangen, dann wäre er vermutlich umsonst zum Reich des düsteren Koros Cusuar gereist. Denn eine Nachricht erreichte Fara-Tindu als eine der ersten Städte auf Truchten: Koros war mittlerweile mit seiner Armee zur Barriere von Valheel aufgebrochen.

Haif rechnete nach: Seit seiner Rückkehr nach Fara-Tindu waren jetzt vierzehn Tage vergangen. Koros Cusuar schien es sehr eilig zu haben. Er musste in Windeseile eine Armee zusammengestellt haben.

Es war nur ein Gefühl. Eine Intuition. Aber Haif glaubte nicht, dass der Mensch noch in Koros’ Palast gefangen war. Schließlich wusste Haif genau, warum der Herrscher zur Barriere vorgestoßen war: Das Portal, das ihm unendliche Macht verleihen sollte, sollte dort aufgestellt werden.

Pais und Antilius waren beide auf der Suche nach einem der Fragmente, aus denen das Portal bestand. Und einer von ihnen, also entweder Pais oder Antilius, war sicherlich bei Koros. Er würde den glücklosen Menschen brauchen. Er würde jeden brauchen, den er kriegen konnte.

»Das ist deine Chance, es wieder gutzumachen!«, rief die eine Stimme in seinem Kopf.

»Und ich werde sie nutzen«, sprach Haif mit einem noch verbesserungswürdigen Ausdruck von Unerschrockenheit.

Er machte sich auf den Weg zur Barriere von Valheel, welche die Ahnenländer von Truchten trennte. Ganz alleine. Er folgte der Stimme, die ihm die Chance seines Lebens beschwor. Die Chance, kein Feigling zu sein.

Die andere Stimme war verstummt.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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