Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 39
Der Alte Pfad
ОглавлениеEs fiel Haif schwer, sich nicht einfach umzudrehen und nach Hause zu gehen.
Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte gewinnbringende Geschäfte abschließen und nicht nach einem Menschen suchen, dem sowieso nicht mehr zu helfen ist!
Doch der kleine Sortaner war sich auch bewusst, was geschehen würde, wenn Koros sein Portal öffnete und dieses ihm die Macht des Transzendenten verleihen würde. Er hatte zwar keine Vorstellung davon, was die Macht der Transzendenz alles bewirken konnte, doch Gutes fand sich mit Sicherheit nicht darunter.
Haif kam recht zügig voran. Er entschied sich, nicht den direkten Weg von Fara-Tindu zur Barriere im Nordwesten zu nehmen. Stattdessen wollte er zum Alten Pfad, der vermutlich auch von der Armee von Koros Cusuar gewählt wurde. Der Alte Pfad führte von Fara-Tindu durch Wälder zunächst etwas weiter nach Norden in die Nähe des Palastes von Koros Cusuar und dann in Küstennähe weiter nach Westen zur Barriere von Valheel. Früher einmal eine belebte Straße, wurde sie mit einem Wimpernschlag nutzlos, als die Ahnenländer von Truchten abgetrennt wurden. Koros würde nur ungefähr die zweite Hälfte des Pfades in Anspruch nehmen, denn sein Ausgangspunkt war weiter nördlich von Fara-Tindu. Dort, wo sich sein kleines, korruptes Reich befand. Und genau diese Stelle wollte Haif kreuzen. Er hatte vergessen, eine Karte mitzunehmen. Aber auch ohne diese orientierte er sich problemlos. Er würde den Pfad schon finden.
Haif versuchte sich die Zeit mit Selbstgesprächen zu vertreiben. Doch ihm fiel kein passendes Gesprächsthema ein, das er mit sich selbst erörtern könnte. Also probierte er es mit Singen. Leider musste er auch das aufgeben, weil sämtliche Vogelarten in einem breiten Umkreis vor seinem Gejaule geflohen waren.
»Was kann ich noch tun?«, fragte er in den Wald.
»Ich sollte eine gruselige Geschichte erzählen. Ja, darin bin ich ziemlich gut!« Es war kein schlechter Einfall. Er erfand einfach eine langweilige Schauergeschichte, die er selbst ziemlich einschläfernd fand. Er musste sich irgendwie ablenken.
Er wollte dem Wald schon mit einer neuen Idee drohen, als sich jäh sein Wunsch nach Abwechslung ganz von selbst erfüllte.
Zuerst dachte er, es wären seine gefiederten Freunde, die so einen Lärm in der Wildnis verursachten. Doch nach genauerem Hinhören vernahm er nicht mehr ein einziges Zwitschern. Es war etwas anderes. Etwas, das eine Art Grollen erzeugte.
Ein Gewitter machte keine derartigen Geräusche. Haif konnte trotz seines exzellenten Gehörs nicht den Ursprung der Lärmquelle ausmachen, die definitiv auf ihn zu schwappte.
Er befand sich gerade auf einer Lichtung. Das Grollen kam näher. Es klang nicht gerade harmlos, sondern irgendwie aggressiv. Deswegen entschloss er sich, im Dickicht Schutz zu suchen, um nicht wie dummes Freiwild auf sein mögliches Ableben zu warten.
Die brüllende Welle rollte unaufhaltsam auf ihn zu. Er warf sich auf den Erdboden und hüllte sich mit Laubwerk ein. Dann wartete er.
Das tosende Etwas konnte nicht mehr weit sein. Immer lauter wurde es.
Auf einmal verdunkelte sich der Himmel schlagartig. Haif blickte nach oben. Zuerst schaute er in die falsche Richtung, aber dann sah er sie. Eine schwarze Wolke sauste hoch über ihm hinweg. Sie verhinderte, dass die Sonnenstrahlen die Erde berührten, auf der Haif zusammengekauert lag.
Es war so dunkel geworden, dass Haifs Augen erst einen Moment benötigten, um sich an das veränderte Licht zu gewöhnen.
Ängstlich aber neugierig lugte er noch einmal durch seine Laubdecke.
Das war keine Wolke. Es war ein Heuschreckenschwarm. Ein gigantischer schwarzer Heuschreckenschwarm. Doch Haif wusste genau, dass es keine schwarzen Heuschrecken gab. Und keine so großen. Und dann, nachdem er seine Aufmerksamkeit auf die dunkle Wolke, die über seinem Kopf hinwegfegte, konzentriert hatte, lüftete sich das Geheimnis. Er ärgerte sich, weil er es gleich hätte erkennen müssen.
Es waren Gorgens. Nicht Hunderte. Nein.
Es waren Tausende.
Sie flogen ungewöhnlich hoch, deshalb hatte Haif das Geräusch und den Anblick der schwarzen Wolke fehlinterpretiert.
»Das muss ja halb Gorgonia sein, das sich auf den Weg zur Barriere gemacht hat«, murmelte er erschrocken.
Wie ein Schwarm Fledermäuse flogen die Gorgens Richtung Norden. Sie wollten sich vermutlich mit dem Rest von Koros' Gefolgschaft treffen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Schwarm vorübergezogen war. Haif musste nicht fürchten, entdeckt zu werden. Gorgens waren mit schlechter Weitsichtigkeit ausgestattet. Außerdem war aus der enormen Höhe der kleine Sortaner in dem goldbraunen Teppich aus Laub so gut wie unsichtbar.
Geschwind rappelte er sich hoch und streifte sich die Blätter vom Fell. »So ein Mist! Das dauert ewig, bis ich den Dreck wieder aus dem Fell kriege«, fluchte er. Seine Fellpflege war ihm sehr wichtig.
Er verbrachte noch einige Minuten damit, sein Naturgewand zu reinigen, bis ihm wieder einfiel, dass er sich sputen musste, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Mit den Blättern im Fell sah er einem gerupften Huhn nicht unähnlich. Nein, er war mit Sicherheit nicht die Art von Held, wie man sie in Geschichten vorfand. Er war klein, ängstlich und etwas zu dick.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend nahm er die Verfolgung auf.
Wenige Stunden später erreichte er auch schon den Treffpunkt von Koros Cusuar und den Gorgens. Hinter einem Hügel versteckt und aus sicherer Entfernung legte sich Haif auf die Lauer. Und was er auf dem Alten Pfad sah, ließ ihm seine Fellhaare zu Berge stehen. Wie eine riesige Giftschlange schlängelten sich zahllose finstere Figuren durch den Wald. Koros’ Armee zog von Haif aus gesehen von rechts nach links Richtung Westen.
Die Gorgens waren gerade dabei, vor dem Kopf dieser Schlange zu landen.
Borus waren auch dabei. Es waren anspruchslose, plumpe Reit- und Lasttiere, die vom äußeren Erscheinungsbild mit keiner anderen Tierart vergleichbar waren. Die meisten von ihnen waren beladen mit Säcken und Kisten. Andere waren vor zwei seltsame haushohe Geräte gespannt. Sie sahen aus wie Gerüste. Eine kleine Gruppe Menschen schritt hinter einer Horde Piktins her. Die Menschen sahen selbst aus der großen Entfernung, aus der Haif schaute, extrem verwahrlost aus. Er glaubte zwar nicht, dass der Gefangene dabei sein würde, aber ein genauerer Blick würde sicherlich nicht schaden. Haif zog sein Fernrohr aus seinem Rucksack. Schon beim ersten Blick durch die Linse war ihm klar, dass es sich um Gedankenwandler handelte. Mit Menschen hatten diese Typen nicht mehr viel gemein. Sie verfügten über die Fähigkeit, die Gedanken anderer Lebewesen zu beeinflussen. Allerdings beschränkte sich diese Begabung nur auf Tiere. Die Piktins, die ungewohnt friedlich vor ihnen her trotteten, standen unter ihrer telepathischen Kontrolle.
Antilius oder Pais waren glücklicherweise nicht unter ihnen.
Haif schwenkte seinen Feldstecher weiter nach rechts.
Noch mehr Borus. Teilweise beritten, teilweise als Zugtiere eingesetzt. Diejenigen, die weiter hinten waren, zogen Katapulte auf Rädern hinter sich her. Haif zählte ein Dutzend jener Distanzwaffen. Er war sich nicht ganz schlüssig, ob es wirklich Katapulte waren. Diese fast zwanzig Meter hohen Geräte waren modifiziert worden. Auf jeden Fall konnte man damit Gegenstände über große Entfernungen schleudern.
Er erspähte noch weitere Gruppen von Tieren oder menschenähnlichen Geschöpfen.
Nachdem ihm die Horde von Gorgens schon einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, glaubte er zu erahnen, was noch auf seine Entdeckung warten würde. Aber mit einem derart gewaltigen Aufgebot hätte er nie gerechnet. Es schien so, als ob sämtliche Bewohner der Finsteren Ebenen gemeinsam in den Kampf ziehen würden.
Ein sumpfiger Gestank stieg ihm in die Nase. Eine Mischung aus Moder und Fäulnis. Es waren die Ausdünstungen der Schergen des Herrschers. Koros brachte nicht nur sämtliche Kreaturen der Finsteren Ebenen mit, sondern auch noch ihr Aroma. Ein Duft von Tod haftete ihnen an. Und jetzt klebte er auch an Haif. Er drang in sein Fell ein. Er hätte es sich am liebsten ausgerissen.
»Verdammt! Wo bist du?«, sagte er gereizt. Es gelang ihm nicht, den Anführer dieser Armee des Schreckens ausfindig zu machen.
Routiniert justierten seine pummeligen Finger die Linse des Fernrohrs nach.
Nach einer Weile richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Mitte der Schlange. Dort sichtete er ein paar schlankere Borus, die auf den ersten Blick herrenlos waren.
Plötzlich ertönte in kurzen Intervallen ein tierisches Geschrei, und kurz darauf machte die gesamte Masse Halt.
Haif machte sich auf seinem Beobachtungsposten so flach wie möglich, weil er für einen kurzen Moment glaubte, entdeckt worden zu sein.
Wie zu Stein erstarrt wartete er ab. Dann bemühte er wieder vorsichtig seine Sehhilfe. Erleichtert stellte er fest, dass die Horde nur dabei war, eine Pause einzulegen. Dort, wo eben noch die dicken Borus gestanden hatten, waren jetzt drei Menschen zu sehen. Einer gestikulierte wild mit den Händen und schrie einen anderen an. Der Dritte war nur von hinten zu sehen.
Danach sagte der Schreiende noch irgendetwas zum Dritten, das Haif nicht verstehen konnte. Dann stampfte er davon. Der ominöse Dritte drehte sich schleppend um und schaute ganz unvermittelt direkt in Haifs Linse. Dieser erschrak so sehr, dass er das Glas fallen ließ und sich reflexartig auf den Boden kauerte.
Der Sortaner war sich sicher, dass Pais Ismendahl ihn gesehen hatte. Das war aber nicht der Fall. Das Fernrohr täuschte nur eine unmittelbare Nähe des Menschen vor.
Der ältere von den beiden Menschen war es also, der gefangen genommen worden war. Nur wieso war Pais nicht gefesselt oder sonst wie an eventuellen Fluchtversuchen gehindert worden? Er schien sich frei bewegen zu dürfen.
Der Sortaner riskierte einen weiteren Blick. Der alte Pais schwang sich gerade agil auf eines der Borus und wartete offenbar die Fortsetzung des Marsches ab. Er machte nicht den Eindruck, gezwungen oder kontrolliert zu werden. Keiner achtete auf ihn.
»Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht«, flüsterte Haif kritisch.
Erneut gab es ein hässliches Tiergeschrei, das sogar noch schlimmer war als Haifs Gesang. Die Armee setzte sich daraufhin schwerfällig wieder in Bewegung. Die Schlange kroch weiter. Nur die Gorgens mussten sich ans hintere Ende der Schlange einreihen.
Und Haif folgte ihr abseits des Pfades, wo er nicht aufgespürt werden konnte.