Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 21
Einer fehlt
ОглавлениеAntilius ging danach wieder an die Stelle zurück, an der er sich von Pais getrennt hatte und hielt dort nach ihm Ausschau.
»Pais! Haif!« Den kleinen Sortaner hatte er bis zu dieser Minute völlig vergessen.
Sein Ruf wurde jedoch nicht beantwortet.
»Gilbert, hast du gesehen, wo Pais genau hingelaufen ist?«
»Ich glaube dort entlang.«
Antilius folgte Gilberts Richtungsanzeige. Nach einer Weile fand er Pais in einer recht merkwürdigen Situation, die dem alten Mann aber das Leben gerettet hatte.
»Pais, wie ist das passiert?«
Pais Ismendahl schnaufte wütend. »Das erzähle ich dir, wenn du mich hier runterlässt.«
Antilius und Gilbert mussten sich ein Lachen verkneifen. So wie es aussah, hatte Pais, der auch von einem Piktin durch den Wald gehetzt worden war, Glück im Unglück gehabt. Bei seiner Flucht war dieser nämlich versehentlich in die Schlinge einer Baumfalle getreten, die sich prompt zugezogen hatte und ihn nun seit einer geraumen Zeit vier Meter über dem Boden kopfüber an einem Baum baumeln ließ.
»Wie soll ich dich runterlassen, ohne dir wehzutun?«
»O, bitte, lass dir irgendetwas einfallen! Wenn es sein muss, schneide dieses verflixte Seil durch, nur hol mich endlich hier runter! Ich halte das keine Minute mehr aus. Mein Kopf explodiert gleich.«
Antilius legte den Spiegel beiseite und untersuchte den Mechanismus, dem Pais zum Opfer gefallen war. Auf der anderen Seite des Baumes war ein abgesägter Holzstamm auf dem Boden, an dem das Seil festgebunden war. Er musste sich eingestehen, dass er es wohl nicht schaffen würde, ihn vorsichtig wieder herabzulassen, indem er das Seil einfach durchschnitt und festhielt, weil Pais einfach viel schwerer war als er selbst. Trotzdem musste er es versuchen.
»Ich probiere, dich langsam herunterzulassen«, sagte er.
Antilius schnitt das Seil mit der einen Hand durch, und mit der anderen umklammerte er das andere Ende des Seils. Als er es durchtrennt hatte, glitt Pais auf den Waldboden zu, wobei Antilius in die Höhe gezogen wurde. Doch das hielt der eher schlanke Ast, um den das Seil geschlungen war, nicht aus. Schließlich war die Falle nicht für zwei ausgewachsene Menschen aufgestellt worden. Der Zweig brach. Pais klatschte auf den Boden, genauso wie sein Retter, der panisch das Seil losgelassen hatte, als er merkte, dass er in die Höhe gezogen wurde. Pais hatte vor dem Aufprall eine halbe Drehung gemacht und landete auf dem Rücken. Antilius schlug mit dem lädierten Fuß auf dem Boden auf.
»Wenn das so weiter geht, werde ich mir noch alle Gliedmaßen brechen«, klagte Pais und fasste sich ans Steißbein.
Jetzt meldete sich der rechte Fußknöchel von Antilius, den er sich in der Nacht gestaucht hatte. Ein lähmender, alles erstickender Schmerz bohrte sich wie in Zeitlupe von seinem Knöchel bis in seine Stirn und ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
Antilius schrie auf vor Schmerz.
Wie Fische auf dem Trockenen, die langsam und qualvoll erstickten, wanden sich die beiden Gestürzten auf dem Boden vor Schmerzen.
Gilbert lachte dieses Mal nicht. Den Anblick, den die beiden Unglücksseeligen auf der anderen Seite seines Spiegelglases boten, war nur mitleiderregend.
Das war es dann. Die Reise ist hier beendet. Die beiden schaffen keinen Meter mehr weiter, dachte er niedergeschlagen.
Doch zum Glück sollte er sich irren. Antilius konnte eine Menge wegstecken und Aufgeben kam ihm nicht in den Sinn.
Es dauerte eine Weile, bis der Schmerz wieder auf ein erträgliches Niveau abflaute.
Nachdem sich beide wieder gegenseitig auf die Beine geholfen hatten, erzählte Antilius kurz, was er im Stein der Zeit erlebt hatte.
»Brelius ist in Verlorenend? Das ist ja unglaublich, ich hätte nie gedacht, dass es diesen Ort wirklich gibt.«
»Also ich glaube erst an die Existenz von Verlorenend, wenn ich es selber gesehen habe. Die Späher haben diesen Namen nicht benutzt. Sie meinten nur, er wäre nicht mehr in der Zeit«, sagte Antilius nüchtern.
Gilbert schaute suchend in seinen Spiegel, der ihm einen kleinen Ausschnitt des Waldes bot, in dem sich seine Freunde befanden.
»Wo ist Haif?«, fragte er.
»Ich habe ihn nicht gesehen, obwohl ich ja von da oben eine überwältigende Aussicht genießen durfte«, sagte Pais und deutete auf die Baumfalle.
»Wir müssen ihn finden«, sagte Antilius.
Mehrere Mondstunden suchten sie den Wald nach Haif ab, riefen immer wieder seinen Namen bis in die Nacht hinein. Aber sie konnten ihn nicht finden.
Ermattet setzte sich Pais auf einen umgestürzten Baumstamm.
»Ich sage es ja nicht gern, aber wir müssen wohl davon ausgehen, dass er möglicherweise von diesen Biestern erwischt wurde.«
Antilius wollte dem etwas entgegnen, aber er wusste, dass Pais vermutlich recht hatte, und so schwieg er. Sein Knöchel war mittlerweile noch mehr angeschwollen und hatte die Farbe einer verfaulten Orange angenommen. Der Schmerz zog jetzt kontinuierlich das ganze rechte Bein hoch.
Er ließ sich auf den schmutzigen Erdboden fallen. Jede noch so kleine Bewegung tat weh.
»Das ist alles eine Nummer zu groß für mich. Das ist einfach zu viel!«, wimmerte er. »Ich schaffe das nicht.«
»Du darfst jetzt nicht aufgeben!«, versuchte Pais ihn wieder aufzurichten. »Morgen suchen wir noch mal nach Haif. Und Brelius werden wir auch finden. Und dann wirst du auch herausfinden, was du mit dieser verrückten Sache zu tun hast.«
»Wie sollen wir ihn denn finden, wenn wir nicht an das Tor herankommen? Nur Haif kannte den Geheimweg«, jammerte Antilius trotzig.
»Wir werden es auch ohne ihn schaffen, wenn wir ihn nicht mehr finden sollten. Hauptsache ist, wir kommen bis zu den Pforten der Largonen-Festung.«
Antilius schwieg und rieb sich vorsichtig den Knöchel, um den Schmerz zu vertreiben. Aber das half nicht. Im Gegenteil.
»Wir halten doch zusammen. Und wir werden dich jetzt nicht im Stich lassen. Hörst du? Wir lassen dich nicht allein. Richtig, Gilbert?«
»Natürlich nicht. Wo sollte ich auch hingehen?«, sagte Gilbert.