Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 16
Das Flüsternde Buch
ОглавлениеDer massige ovale Tisch war umgeben von insgesamt dreiundzwanzig Stühlen. Nur ein einziger war besetzt. Koros Cusuar saß allein gebückt am Tisch und schlang sein Abendmahl hinunter. Man konnte ihm am Gesicht nicht ansehen, ob es ihm schmeckte oder nicht. Essen war für ihn nur eine Pflicht, kein Genuss. In Anbetracht dessen, in was er erhoffte, sich zu verwandeln, war Essen nur eine dumme, unvermeidbare Pflicht eines Menschen zum Überleben.
Sein dunkles Haar hing ihm chaotisch ins Gesicht. Er legte nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten.
Seine Karriere hatte er als einfacher Dieb begonnen. Ein Dieb, der im Verborgenen arbeitete. Und jetzt, zwanzig Jahre später, hatte er es zu einigem Reichtum gebracht. Seine telepathischen Fähigkeiten waren ihm auf diesem langen Weg mehr als nur einmal sehr nützlich gewesen. Schon immer hatte er sich zu Höherem bestimmt gefühlt. Und jetzt war er seinem Ziel so nahe wie nie zuvor.
In den Speisesaal seines neu erworbenen Palastes fiel das letzte Licht des Tages ein. Koros schaute ab und zu zum Fenster hinaus, während er aß, aber nicht etwa, weil er den Sonnenuntergang nicht versäumen wollte, sondern weil er nach einem Gorgen Ausschau hielt, der ihm hoffentlich bald erfreuliche Nachrichten bringen würde.
Koros’ Blicke wechselten immer wieder zwischen den Fenstern und einer Tür rechts von ihm, hinter der sich eine kleine Kammer verbarg. Es befand sich darin. Das Flüsternde Buch. Er fühlte sich magisch angezogen von dem Buch, das er gefunden hatte, und das, so wie er glaubte, für ihn bestimmt war. Nur für ihn.
Aber wenn man sagte, er hätte das Buch gefunden, dann war dies aus seiner Sicht sicherlich nicht ganz zutreffend. Es war umgekehrt. Das Buch hatte ihn gefunden. Ja, so war es. Das Buch hatte ihn ausgewählt. Das Buch, das aus einer fernen Vergangenheit stammte und Dinge wusste, die es nicht mit jedem teilte.
Koros schaute wieder zum Fenster. Schließlich wischte er sich grob seinen Mund mit einer schmuddeligen Serviette ab und stieß seinen Teller von sich, so heftig, dass er beinahe auf der anderen Tischseite wieder heruntergefallen wäre.
»Wrax!«, brüllte er wütend.
Seine beiden Dienerinnen, die sich an der Tür zum Vorzimmer postiert hatten, fuhren durch sein Gebrüll leicht zusammen. Sie fassten sich jedoch schnell wieder, um sich vor ihrem Herrscher nicht ein Zeichen von Schwäche anmerken zu lassen. Koros hasste Schwäche. Er hielt eigentlich nicht viel von Dienern, aber sein Berater und Verbündeter Wrax, nach dem er gerufen hatte, hatte ihm dazu geraten, um seinen Anhängern seine Macht und Stärke zu demonstrieren. Außerdem gehörte es sich angeblich so für einen Mann in seiner Position.
Seine Untertanen sollten ihn zwar nicht lieben, aber sie sollten Ehrfurcht vor ihm haben. Und das mussten sie ihm jeden Tag zeigen. Wer nicht seine Ehrerbietung glaubhaft machen konnte, wurde beseitigt. Nur auf diese Weise gelang es dem Herrscher, sein archaisches Selbstbild in den Mienen seiner Untergebenen widerzuspiegeln.
»Wrax!«, schrie Koros wieder. Er war erzürnt, dass Wrax nach seinem ersten Ruf noch nicht bei ihm erschienen war.
Nach einer Weile sprang schlagartig die Tür auf und Wrax eilte keuchend herein. Er war schon beim ersten Aufruf seines Ersten - so wollte Koros stets genannt werden - losgelaufen, aber der Palast war so verschwenderisch weitläufig gebaut, dass er einige Zeit benötigte, um den Speisesaal zu erreichen.
»Ihr habt nach mir gerufen, Erster?«
Koros stand am Fenster und schaute zur untergehenden Sonne.
»Habt Ihr mir nichts zu berichten, Wrax?«, fragte Koros betont ruhig, wobei er auf den Sonnenuntergang starrte.
Wrax wusste, worauf Koros anspielte. »Erster, die Gorgens sind noch nicht aus den südlichen Ebenen zurückgekehrt. Ich erwarte aber jeden Moment ihre Ankunft.«
Koros drehte sich ruckartig um. »Ich! Ich erwarte ihre Ankunft! Und das schon seit drei Tagen. Wieso dauert das so lange? Ich habe mich bisher bemüht, die Ruhe zu bewahren, habe mich von Euren ärmlichen Beschwichtigungen hinhalten lassen, aber jetzt ist Schluss, Wrax!«, fuhr Koros ihn an.
Wrax nahm eine devote Haltung ein. »Aber Erster, Ihr selbst habt gesagt, ich solle eine Gruppe Gorgens auf Brelius Vandanten ansetzen, damit das Projekt geheim gehalten wird, und Ihr wisst ja, dass diese Wesen nicht viel von Pünktlichkeit verstehen, aber dafür erledigen sie ihre Aufträge immer sehr gewissenhaft.«
»Wollt Ihr mir etwa die Schuld für Eure Unfähigkeit geben?«, schrie Koros. Wrax war der einzige, den er förmlich anredete.
Wrax starrte ihn nur betreten an und schwieg. Er kannte diese Art von Wutausbrüchen nur zu gut. Dieser war nur einer von vielen, und auch der würde wieder vorbeigehen.
Koros wandte sich wieder ab und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. »Es tut mir leid, Wrax. Ich wollte Euch nicht anschreien. Die Ereignisse der letzten Zeit haben mich nicht viel schlafen lassen. Ich weiß, dass ich mich immer auf Euch verlassen konnte und auch in Zukunft verlassen kann.«
»Danke, Erster«, sagte Wrax demütig.
»Erster, jemand will Euch sprechen«, sagte eine der Dienerinnen, ohne dabei Koros direkt anzuschauen.
Koros lief rasch zu ihr und riss die Tür auf. Als Wrax erkannte, wer dort Einlass begehrte, atmete er erleichtert auf.
»Tritt ein, Feuerwind«, sagte Koros zu dem Gorgen und bedeutete den Dienerinnen mit einer knappen Handbewegung, den Raum schleunigst zu verlassen. Koros schloss eigenhändig die Tür und schob den Riegel zu, um sicher zu sein, dass niemand sie stören würde. Dann wandte er sich ungeduldig an Feuerwind. »Also, was hast du zu berichten? Ich bin äußerst gespannt auf deine Neuigkeiten.«
Der Gorgen machte ein zufriedenes Gesicht, wobei er sich leicht gebückt hielt, um mit dieser unterwürfigen Geste Koros einen angemessenen Respekt zu zollen. Es sah aber ziemlich übertrieben aus. Grotesk fand Wrax.
»Gute Nachrichten, Herr!«
Koros weitete seine Augen und straffte den Hals.
»Die Festung Mondstein ist leer. Alle Largonen sind fort. Wir haben es genau überprüft.«
»Sie sind weg? Das ist merkwürdig. Als ich Brelius telepathisch zur Largonen-Festung geleitet habe, da habe ich auch keine Largonen wahrnehmen können, die Brelius hätten aufhalten können. Wo sind sie? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich auch selber hingehen können.«
»Wir haben es nicht herausfinden können«, sagte Feuerwind. »Sie sind einfach fort.«
In Koros’ Gehirn arbeitete es. Wieso sollten die Largonen verschwunden sein? Sie waren die Wächter des Zeittores. Schnell kam er zu einer Lösung.
»Das Buch! Es hat mir geholfen. Es hat mir berichtet, dass sich die Späher um die Largonen kümmern würden. Die Späher haben mir tatsächlich geholfen, so wie es das Buch gesagt hat. Die Largonen haben versagt. Das Zeittor ist aktiviert und unbewacht und wartet nur darauf, von mir geborgen zu werden. Das ist fantastisch!«, sagte Koros, wobei er gar nicht merkte, dass er mit sich selbst redete.
Wrax war sich nicht ganz sicher, wen sein Erster mit den Spähern meinte. Aber das wollte er eigentlich auch gar nicht so genau wissen. Dieses Buch, mit dem sein Erster viel Zeit (zu viel Zeit, wie Wrax sich nicht eingestehen wollte) verbrachte, war ihm schon unheimlich genug.
Koros ballte die linke Hand zu einer Faust: »Ich wusste es! Ich wusste, dass es funktionieren würde. Was ist mit Brelius? Ist er wieder aufgetaucht?«
»Ja, Herr. Er hat die Festung verlassen, nachdem er den Schlüsselstein benutzt hat und wurde kurz darauf wieder in seinem Heim gesichtet. Allerdings soll er es schon wieder verlassen haben.«
»Wohin ist er gegangen?«, fragte Koros mit einem Anflug von Besorgnis.
Der Gorgen schwieg, weil er es nicht wusste und sich nicht traute, Koros zu erklären, warum er und seine Artgenossen es versäumt hatten, Brelius nach dessen Besuch der Largonen-Festung nicht weiter zu folgen. Er fürchtete, einen Wutanfall über sich ergehen lassen zu müssen.
Koros ging ein paar Schritte weg von Wrax und Feuerwind und stellte sich mit dem Kopf zur Wand. Er schloss die Augen.
Feuerwind war verdutzt. Er verstand nicht, was der Herrscher gerade tat. Wrax wusste es. Koros versuchte, telepathischen Kontakt zu Brelius aufzunehmen, so wie er es schon einmal gemacht hatte, als der Sternenbeobachter für ihn zu dem Zeittor gehen und es für ihn aktivieren musste.
Sein Versuch schlug jedoch fehl. Er versuchte es wieder. Erfolglos. Dann gab er auf und drehte sich wieder um.
»Ich kann ihn nicht erreichen. Das kann nur bedeuten, dass dieser Dummkopf ein zweites Mal durch das Tor gelaufen ist und dortgeblieben ist. Wäre er noch in dieser Welt, würde ich ihn erreichen können. Oder aber er ist tot. Und Letzteres wäre mir am liebsten.«
Koros schaute kurz grüblerisch zur Seite. »Und selbst wenn er noch am Leben sein sollte. Was soll dieser Niemand schon ausrichten? Die Späher werden sich um ihn gekümmert haben. Das Tor ist nur für mich bestimmt, das wissen die Späher. Sie werden ihn hoffentlich umgebracht haben. Ich werde das Buch nachher fragen, was mit ihm geschehen ist.«
»Da bin ich mir ganz sicher, Herr«, versuchte sich Feuerwind einzuschleimen, doch Schleimerei war bei dem Herrscher fehl am Platze. Koros sah in Feuerwind und seinen Artgenossen nicht mehr als eine von ihren primitiven Instinkten fehlgeleitete Narretei der Schöpfung. Nützlich ab und zu. Mehr aber nicht.
»Was hast du noch zu berichten, Feuerwind?«
»Das Zeittor wurde reaktiviert. Brelius Vandanten war tatsächlich im Besitz des echten Schlüsselsteins, wie Ihr es vermutet habt. Von jetzt an ist das Zeittor geöffnet. Sie können es jederzeit benutzen, Herr.«
»Sehr gut. Sehr gut«, freute sich Koros und warf dem entlasteten Wrax einen bestätigenden Blick zu. »Jetzt, da wir wissen, dass das Tor funktioniert, können wir endlich die weiteren Schritte einleiten.
Der Gorgen machte auf einmal einen Schritt zurück und legte eine entschuldigende Miene auf. »Nun, Herr, wir wissen zwar, dass das Zeittor wieder funktioniert, es gab dann aber bedauerlicherweise ein kleines Problem.«
»Welches?«
»Nachdem wir durch den Geheimgang, der aus dem Inneren der Festung der Largonen führt, zurückgekommen sind, verschwand der Ausgang plötzlich. Wie es aussieht, verändert der geheime Gang seine Lage jedes Mal, nachdem er benutzt wurde. Es ist eine Art Sicherheitsmechanismus. Der Zugang ist jetzt irgendwo in den Grashügeln rund um die Festung der Largonen. Wir haben ihn gesucht, nur waren wir zu wenige, als dass wir ihn hätten finden können. Deshalb habe ich mich auch um so viele Tage verspätet und habe Brelius aus den Augen verloren.«
Koros presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und stellte sich dicht vor den Gorgen. »Wozu bezahle ich euch Wilde eigentlich? Habe ich nicht ausdrücklich angeordnet, ihr sollt feststellen, wo sich der geheime Zugang befindet?«, brüllte er los.
Feuerwind begann mit seinen Flügeln zu zittern.
»Aber Herr, wir konnten doch nicht wissen, dass der Zugang seinen Standort verändern kann. Wenn wir noch einmal losziehen würden, mit ausreichend Gorgens, dann finden wir ihn bestimmt.«
Koros starrte voller Verachtung ein paar Sekunden dem Gorgen in die gelben Augen, wandte sich dann von ihm ab und schlug, so fest er konnte, mit der Faust auf den Tisch.
»Erster, wir werden schon an das Tor herankommen. Wichtig ist allein, dass wir wissen, dass es existiert und funktionsfähig ist. Die Largonen sind fort, also werden wir einen anderen Weg in die Festung finden«, versuchte Wrax seinen Ersten zu beruhigen.
»Sie haben Recht, Wrax. Gibt es vielleicht sonst noch irgendetwas, das ich erfahren sollte, Feuerwind?«
»Ja, Herr«, begann dieser vorsichtig. »Auf unserem Rückweg sind wir zwei Menschen und einem Sortaner begegnet, gut zehn Tagesmärsche vor den Toren der Largonen Festung.«
»Und?«
»Wir wollten den Sortaner ausfragen, was er soweit außerhalb der Stadt zu suchen habe, aber die Menschen kamen dazwischen und einer verletzte mich mit seiner Armbrust, sodass ich nicht mehr in der Lage war zu fliegen.«
Feuerwind öffnete seine Flügel ein wenig, um Koros seine Verwundung zu zeigen. Dieser interessierte sich jedoch nicht sonderlich dafür. »Sehr bedauerlich. Ich hoffe, es wird schnell heilen«, sagte er angewidert.
»Das ist nicht das Problem, Herr. Wie ich von ihnen erfahren habe, waren sie ebenfalls auf der Suche nach dem Tor.«
Koros wurde hellhörig: »Wieso das?«
»Sie waren auf der Suche nach Brelius Vandanten. Sie wissen irgendetwas von dem Tor. Vielleicht wollen sie es sogar selbst benutzen.«
»Was weißt du über die drei?«
»Der Sortaner ist nur ein einfacher Händler. Über den älteren Menschen konnten wir nichts in Erfahrung bringen, aber der jüngere stammt nicht von hier. Jemand vom alten Schienenbahnhof an der Westküste verriet uns seinen Namen: Antilius.«
»Antilius«, wiederholte Koros begeistert.
Wrax war verwundert über diese Reaktion. Eigentlich kannte er seinen Ersten ganz gut. Glaubte er jedenfalls.
»Ich denke aber nicht, dass diese Truppe Euch irgendwie im Weg stehen könnte, Herr.«
»Sehr gut, Feuerwind. Geh jetzt. Eine meiner Dienerinnen wird dich für deine Arbeit entlohnen. Warte in der Eingangshalle auf mich, dann werde ich dir Anweisungen für mein weiteres Vorgehen geben.«
»Oh, vielen Dank, mein Herr. «Nachdem Feuerwind den Saal verlassen hatte, bemerkte Wrax, dass Koros beunruhigt zu sein schien. »Erster, machen Euch etwa diese beiden Menschen, die nach dem Tor suchen, Sorgen?«
Koros schüttelte den Kopf. »Die Tatsache, dass sich jemand in meine Pläne einmischt, gefällt mir nicht, obwohl ich weiß, dass ich von diesen Sonderlingen sicherlich nichts zu befürchten habe. Was mich allerdings nachdenklich gemacht hat, war der Name des einen Menschen. Antilius. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Name, auf den ich erst vor Kurzem gestoßen bin.«
»Ich verstehe nicht, Erster.«
»Kommt mit«, forderte Koros seinen Berater auf und ging zur anderen Tür des Saales, die durch ein schweres Schloss gesichert war. Koros wühlte in der Tasche seines Gewands und brachte einen großen alten Messingschlüssel zum Vorschein. Er öffnete das Schloss und zog die schwere Holztür auf.
Wrax war gespannt, was sich hinter der Tür verbarg. Koros hatte stets dafür gesorgt, dass niemand auch nur in die Nähe dieses Raumes kam, und nun war er auf einmal bereit, ihm sein Geheimnis preiszugeben. Wahrscheinlich wollte er ihm endlich das Buch zeigen, von dem sein Erster immer sprach. Endlich würde er Wrax in seine Pläne einweihen.
Anders als Wrax es erwartet hatte, traten sie in eine winzige fensterlose Kammer ein. In diesem dunklen Raum befand sich nichts außer einem kunstvoll geschnitzten Sockel mit einem Buch darauf und einem Kerzenständer mit drei großen Wachskerzen, die Koros rasch entzündete.
Wrax starrte gebannt auf das Buch. Es war groß. Es hatte einen dunklen Ledereinband. Und es schien alt zu sein. Sehr alt. Mehr konnte Wrax bei dem schlechten Licht nicht erkennen.
»Was ist das für ein Buch, Erster?«, fragte er.
Koros schaute ihn verschwörerisch an. »Dies, mein treuer Berater, ist nicht nur einfach ein Buch. Es wird alles verändern. Es wird mich verändern. Und Euch auch, Wrax. Es wird den Planeten in eine neue Zeit führen.«
Wrax überlegte, verstand aber nicht, was Koros damit meinte.
»Erster, ich hielte es für besser, wenn Ihr mir Eure Pläne erklärt.«
»Alles zu seiner Zeit, Wrax. Ihr werdet alles früh genug erfahren.«
Wrax schwieg, und der Herrscher merkte, dass sein Berater mit dieser Antwort nicht zufrieden war. »Aber ich werde Euch zumindest das erklären, was Ihr vielleicht doch wissen solltet.«
Wrax hörte seinem Ersten konzentriert zu. Er war erregt von der Vorstellung, in Koros Pläne zumindest teilweise eingeweiht zu werden, aber ihn beschlich dabei auch ein ungutes Gefühl.
»Der Plan, Brelius als Marionette zu benutzen, nachdem ich erfahren hatte, dass er den Schlüsselstein besitzt, ist allem Anschein nach hervorragend gelungen. Niemand hat etwas bemerkt. Und niemand wird mich mit seinem Tun in Verbindung bringen.«
»Ja, Erster.«
»Und durch das Verschwinden der Largonen bleibt uns ein Krieg mit ihnen erspart. Wir werden die Gorgens zur Festung schicken und nach dem Geheimgang suchen lassen, der in das Innere der Anlage führt.«
»Aber wieso, Erster? Können wir jetzt nicht einfach bei den Largonen sozusagen einfach durch die Tür hereinspazieren? Jetzt, da sie nicht mehr dort sind.«
»Wir sollten zuerst nach dem Geheimgang suchen, denn ich traue dem Frieden, der dort herrschen soll, nicht. Die Späher könnten mich reingelegt haben. Oder die Largonen sind schlauer, als sie aussehen. Vielleicht haben sie einen Hinterhalt vorbereitet. Der Geheimgang könnte uns daher einen taktischen Vorteil geben. Ich glaube zwar nicht, dass sie noch dort sind, aber ich wähle lieber den sicheren Weg. Jetzt, so kurz vor dem Ziel will ich keine Risiken mehr eingehen.«
»Was hat es mit dem Zeittor auf sich, Erster? Was wollt Ihr damit anfangen? Welche Macht besitzt es, dass es Euch danach so sehr sehnt?«
Koros lächelte seinen Diener sanftmütig an: »Das Tor ist nicht nur ein Pfad durch die Zeit. Es ist der Schlüssel zur Ewigkeit.«
»Ihr sprecht in Rätseln. Wollt Ihr etwa eine Zeitreise mithilfe des Tores machen? Erster, ich muss Euch dringend davon abraten! Zeitreisen bringen Tod und Verderben. Das kennt man doch aus zahlreichen Gedichten und Kinderliedern.«
Koros fasste Wrax an der Schulter und grinste selbstherrlich. »Nur keine Sorge, Wrax. Ich habe nicht vor, eine Zeitreise zu machen. Das würden die Späher nicht erlauben, denn sie sind es, die über die Zeit wachen.«
»Aber was wollt Ihr dann mit dem Tor anfangen?«
»Ganz einfach. Ich will es hierher zu mir holen. Jetzt, da die Largonen offensichtlich fort sind, und niemand mehr über das Zeittor wacht, können meine Truppen es ungehindert entfernen und hierher in meinen Palast bringen. Sollten die Largonen wider Erwarten doch noch dort sein, dann werde ich mir das Tor mit Gewalt holen«, sagte Koros ganz sachlich, als sei es das Normalste der Welt.
Wrax wurde bei dem Gedanken an Gewalt, welche Form sie auch immer annehmen sollte, übel. »Aber wozu soll das gut sein, Erster? Es ist verboten, das Tor zu entwenden. Deshalb wurde es ja von den Largonen bewacht. Oder habt Ihr etwa vor, das Tor nun zu bewachen?«
Koros grinste breit. »Nun, so könnte man es auch ausdrücken.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, Erster. Das einzige Tor auf der Welt, das in der Lage ist, Lebewesen durch die Zeit zu schicken. Das Tor, das seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wurde und nicht benutzt werden darf.«
»Das ist nicht ganz richtig, Wrax. Es ist nicht das einzige Tor.«
Wrax schaute seinen Ersten fassungslos an. »Nicht das einzige Tor?«, wiederholte er ungläubig. »Ihr meint, es gibt noch eines?«
Koros nickte feixend. In diesem Moment fühlte er sich über alles erhaben.
»Wo ist es?«
»Ratet, mein treuer Berater.«
»Ihr seid in seinem Besitz?«
Koros nickte wieder und sein Grinsen wurde immer breiter.
»Aber, aber wozu? Wozu braucht Ihr zwei Tore, Erster? Und was hat dieses Buch damit zu tun?«
»Das Buch wird mir helfen, die Tore zusammenzubauen. Die beiden Tore sind nur Fragmente. Zwei Fragmente, die zusammen wieder ein Ganzes bilden. Und wenn dies vollbracht ist, werden wir die beiden Tore an der Barriere von Valheel aufbauen, wo die Wirkung des Avioniums am stärksten ist.«
Wrax’ Fassungslosigkeit nahm kein Ende.
»An der Barriere? Aber Erster, was wollt Ihr dort? Die Bewohner der Ahnenländer werden das nicht dulden, was immer Ihr vorhabt.«
»Ihr habt recht, Wrax. Das, was ich vorhabe, wird die Dreizehn Häuser der Ahnenländer auf jeden Fall aufschrecken lassen. Es wird sie erschüttern. Deshalb wird es Eure Aufgabe sein, Wrax, für mich eine Armee aufzustellen.«
»Eine Armee, aber warum?«
»Wrax, Eure Fragen nehmen ja kein Ende«, unterbrach ihn Koros und lachte selbstgefällig. »Wie ich schon sagte: Alles zu seiner Zeit. Kümmert Ihr Euch um die Aufstellung der Armee. Sammelt jeden ein, der bereit ist, für mich aus Überzeugung oder für Geld zu kämpfen. Ihr solltet auch kämpfende Tiere organisieren und Gedankenwandler, die sie kontrollieren. Außerdem sollen zwei Brücken gebaut werden, damit wir über die Schlucht zu den Ahnenländern gelangen können. Die Pläne dafür sind bereits ausgearbeitet, und das Material habe ich schon beschaffen lassen.
Wir müssen uns jetzt beeilen. Die Zeit drängt.«
Für Wrax ergab das alles immer noch keinen Sinn. Koros wollte das Zeittor der Largonen und ein zweites, das er schon besaß, zu etwas Neuem zusammenbauen. Was mochte das bewirken? Er wollte wieder nach dem ‚Warum’ fragen, aber er ließ es bleiben. Mehr würde Koros ihm nicht erzählen. Noch nicht. Mehr wäre für Wrax wahrscheinlich in diesem Moment auch zu viel gewesen.
Doch eine Sache wollte er noch wissen: »Ich werde mich bemühen, Eure Wünsche zu erfüllen, aber gestattet mir noch eine letzte Frage.«
»Ich höre.«
»Als ich nach dem Menschen namens Antilius fragte, zeigtet Ihr mir daraufhin das Buch. Was hat es mit ihm zu tun?«
»Der Name dieses Menschen kommt in diesem Buch vor, und zwar derart häufig, dass ich Grund zur Beunruhigung habe. Ich kann Euch aber noch nichts Genaueres sagen. Ich werde das Buch noch einmal befragen.«
Koros ließ seine flache Hand sanft über das Buch streichen. Plötzlich bemerkte Wrax, dass irgendetwas in seinem Kopf zu flüstern begann. Eine Stimme. Sie war fremd. Die Stimme drang immer tiefer in ihn hinein. Wrax konnte seine eigenen Gedanken nicht mehr hören. Was sprach die Stimme? Wovon redete sie? Wortfetzen drangen durch seinen Gehörnerv. Grausame Worte. Entsetzliche Bilder schilderte sie ihm. Sie wollte nicht aufhören. Sie flüsterte ihm mehr und mehr Abscheuliches zu.
Erst jetzt bemerkte Wrax, dass die Stimme von dem Buch kam. Sie war zwar in seinem Kopf, aber er spürte, dass es das Buch war, das zu ihm flüsterte. Genauso wie das Buch schon seit Längerem zu Koros flüsterte.
Entsetzen überfiel den Berater. Das Buch war böse. Einfach nur böse. Das Buch war es, das einen teuflischen Plan ausheckte und mit Koros ein dunkles Bündnis eingegangen war.
Wrax hielt sich mit Entsetzen die Ohren zu und stürzte aus dem Raum.
Koros stand einfach nur da. Auch in seinem Kopf hatte sich die Stimme eingenistet. Doch für ihn war sie nicht gräulich. Sie war harmonisch und liebevoll. Sie sagte ihm, was er hören wollte. Sie sagte ihm, was er zu tun hatte. Sie war für ihn da.
Das Flüsternde Buch sagte ihm, was er tun musste, um zu einem mächtigen Wesen aufzusteigen. Das Buch hatte ihm vom Zeittor erzählt und vom Schlüsselstein, der plötzlich wieder aufgetaucht war. Es versprach ihm eine große Zukunft.
Es versprach ihm nicht weniger als die Unsterblichkeit.
Ja, es war das Flüsternde Buch, das hinter allem steckte. Es hielt alle Fäden in der Hand und arbeitete nun schon eine lange Zeit daran, Koros, den es nach endlos scheinender Suche auserwählt hatte, auf die Entfesselung der Macht der Transzendenz vorzubereiten.
Koros gehorchte dem Flüsternden Buch blind. Und das war auch gut so. Denn das Buch hatte ganz eigene Pläne, in die es seinen Auserwählten nicht einweihte. Während es Koros vorgaukelte, dass er mithilfe der Macht der Transzendenz zu einem unbesiegbaren Wesen werden würde, plante es in Wahrheit, die Vernichtung Thalantias in die Wege zu leiten.
Koros hätte der Stimme des Buches noch lange zuhören können, aber jetzt musste er sich um diesen Antilius kümmern. Er musste herausfinden, ob dieser seine Pläne durchkreuzen wollte. Er musste mehr über ihn erfahren.
Und dazu würde er ihn in seinen Träumen besuchen.