Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 15
Der Mythos vom Transzendenten
ОглавлениеAm darauf folgenden Abend erreichte die kleine Reisegruppe endlich das Ende des letzten Waldes, den es in Richtung Süden gab. Vor ihnen erstreckte sich eine grasbewachsene Endmoränenlandschaft, auf der nur vereinzelt Bäume wuchsen.
Sie schlugen ihr Nachtlager auf. Haif hatte keine Probleme damit, sich ungefragt von den Rationen von Pais und Antilius zu bedienen.
Es war fast dunkel, und Antilius war furchtbar müde.
»Was weißt du eigentlich noch über dieses Zeittor?«, wollte er trotz seiner Erschöpfung von Haif wissen.
»Es gibt viele Mythen, die sich um das Zeittor ranken«, sprach der Sortaner geheimnisvoll.
»Erzähle uns einen«, forderte Pais ihn auf.
»Ein Mythos berichtet vom Transzendenten.«
»Was soll das denn sein?«, fragte Gilbert neugierig.
»Es war ein Wesen, das vor vielen Hundert Jahren hier auf den Inselwelten sein Unwesen trieb. Es war angeblich unsterblich, unbesiegbar, und es beherrschte Zeit und Raum. Sein einziger Wille war, zu unterdrücken und zu zerstören. Es tyrannisierte viele Jahre lang die Bewohner der Inselwelten.«
»Woher kam es?«, fragte Antilius etwas skeptisch.
»Das weiß wohl niemand so genau. Wie ihr wisst, gibt es nur wenig, das wir aus der Zeit der Könige und dem Zeitalter unmittelbar danach wissen, weil praktisch keine Aufzeichnungen mehr existieren.«
»Und was hat dies mit dem Zeittor zu tun?«, fragte wieder Gilbert gespannt.
Haif ließ sich einen Augenblick Zeit, um die Spannung etwas zu heben. Dies schien er sichtlich zu genießen. »Die Bewohner der Inselwelten beschlossen, nach Jahren der Tyrannei den Transzendenten zu vernichten. Ein kleiner Mönchsorden schmiedete daraufhin einen Plan, der sogleich in die Tat umgesetzt wurde. Sie bauten ein Portal, das den Transzendenten wieder dorthin schicken sollte, wo er hergekommen war.«
»Etwa das Zeittor, nach dem wir suchen?«, fragte Gilbert aufgeregt.
»Nein, lass mich ausreden! Mit vereinten Kräften bauten die Inselbewohner das gewaltige Portal und zwar genau dort, wo heute die Ahnenländer liegen. Es gelang ihnen, dem Transzendenten eine Falle zu stellen, indem sie ihn in das Portal lockten und dort vernichteten. Doch es lief etwas schief. Der Transzendente wurde zwar getötet, doch seine übernatürliche Kraft und Bosheit wurden auf das Portal übertragen. Die Macht des Transzendenten kann nicht vernichtet werden, sodass es den Bewohnern nicht mehr gelang, auch das Portal zu zerstören, weil es diese Macht von nun an in sich trug.
»Und dann?« Gilbert klebte an seinem Spiegel.
»Es war ihnen jedoch möglich, das Portal mithilfe eines speziellen Schlüsselsteins zu versiegeln und in zwei Teile zu zerlegen. Zwei Tore.«
Antilius wurde blass in Anbetracht dessen, was Haif noch erzählen würde.
»Die beiden Tore wurden an geheimen Orten vergraben. Doch viele Jahre später gelang es einem üblen Machthaber, eines der Tore zu finden. Er experimentierte damit und fand angeblich heraus, dass man es für Reisen durch die Zeit benutzen konnte.
Ein geheimer Orden, der das Schicksalsportal gebaut hatte, entriss dem Dieb das Tor wieder und betete zu seinem Gott Valheel, dass er dem Orden Weisheit geben würde, damit das Tor nicht wieder gestohlen werden konnte. Valheel erschien einem der Ordensmitglieder, als er im Gebet war, und er sagte ihm, er solle das ausgegrabene Tor den Largonen überlassen. Sie sollten ab diesem Tage dafür verantwortlich sein, dass nie wieder ein Fremder auch nur in die Nähe des Tores kommen konnte.«
»Und was war mit dem Schlüsselstein? Es ist doch derselbe Schlüssel, den Brelius gefunden hat, nicht wahr?«
»Der Schlüssel, der sowohl das Portal als auch das Zeittor wieder öffnen konnte, befindet sich nach diesem Mythos nur in einem bestimmten Gebiet dieser Inselwelt, nämlich in den Ahnenländern. Die Mönche brachten den Schlüssel dorthin. Valheel spaltete die Ahnenländer vom Rest der Inselwelt Truchten ab und schuf eine unüberwindbare Klippe um die Ahnenländer herum. So ist die Schlucht entstanden zwischen dieser Inselwelt und den Ahnenländern, die heute als Barriere von Valheel bezeichnet wird. Die Bewohner der Länder waren zwar fortan vom Rest der Welt getrennt, aber dafür konnte sichergestellt werden, dass niemand mehr den Schlüssel mit dem Tor auf der anderen Seite der Schlucht benutzen konnte.«
»Und was geschah mit dem zweiten Tor? Also jenes, das vergraben wurde?«, fragte Pais.
»Es gilt bis heute als verschollen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Antilius leise.
»Koros könnte noch gefährlicher werden, als wir befürchtet hatten.«
»Koros?«, fragte Haif.
Antilius erklärte dem Sortaner, was bisher geschehen war und welche Rolle Koros dabei spielte.
»Du meine Güte!«, stieß Haif daraufhin aus. »Stellt euch mal vor, Koros könnte das andere Tor, das als verschollen galt, gefunden haben und dann noch das zweite in die Finger kriegen. Dann könnte er beide Tore wieder vereinen und damit die Macht der Transzendenz, die im Portal eingeschlossen ist, entfesseln. Und das würde bedeuten …«
Jeder in der Runde um das nächtliche Lagerfeuer wusste, was dies bedeuten würde: Die Geburt eines neuen Transzendenten.
»Und niemand hat das Zeittor der Largonen je wieder angerührt?«, wollte Gilbert wissen.
»Niemand. Die Largonen schworen ihren Eid, das Tor für alle Generationen hinweg zu beschützen. In der Halle des Schicksals verbannten sie das Tor in ein Kellergewölbe, so heißt es.«
Antilius glaubte eigentlich nicht an Mythen und Legenden. Aber seit den letzten Ereignissen, insbesondere seit seinem Traum von der Schlucht und dem Mann ohne Gesicht war er sich nicht mehr sicher, was er noch glauben sollte. Koros war dieser Mann in seinem Traum und er wollte allem Anschein nach mithilfe des Portals zum neuen Transzendenten werden. Warum sollte er dann Antilius in seinem Traum erschienen sein? Was hatte Antilius mit dieser Sache zu tun?
Tatsächlich verbarg sich hinter der Geschichte um den Transzendenten eine weitere, düstere Wahrheit, die niemand kannte, auch nicht Haif. Das Geschehen an der Barriere von Valheel vor vielen Hundert Jahren hat es tatsächlich gegeben, wenngleich kein Gott der Namensgeber für die Barriere war, sondern der Erfinder des Portals. Jenes Portals, das die Macht der Transzendenz in sich aufnehmen konnte, wodurch Thalantia vor noch viel Schlimmerem als einem Transzendenten bewahrt wurde. Bis zu diesem Tage.
Es rächte sich heute, dass niemand mehr über die wahren Zusammenhänge Bescheid wusste. Denn mit dem Schlüsselstein, den Brelius unter Zwang in das erste Zeittor bei den Largonen eingesetzt und es damit aktiviert hatte, wurden Dinge ins Rollen gebracht, die eine Gefahr für ganz Thalantia bedeuteten. Eine existenzielle Gefahr, von der niemand etwas ahnte.
Als alle (auch Gilbert in seinem Zimmer) sich schlafen legten, fiel es Antilius schwer, sich zu beruhigen. Er musste immer wieder an den Transzendenten denken. Seine Macht. Sein Zerstörungswille.
Und das Zeittor. Oder das Portal, in dem die Macht des Transzendenten gefangen war und darauf wartete, endlich wieder entfesselt zu werden.
Die Barriere von Valheel. Warum wurde sie geschaffen? Um den Schlüssel vom Rest der Welt fernzuhalten? War das alles? Anscheinend hatte Brelius diesen Schlüssel gefunden. Der Schlüssel muss also irgendwie die Ahnenländer verlassen haben.
Was sagte Brelius noch in seinem Stimmen-Kristall? Das Avionium. Der Schlüssel, den er erstand, war ein Teil des Avioniums, das es nur in den Bergen der Ahnenländer gab. Er diente dazu, das Portal zu öffnen. Ein Teil des Portals war schon durch Brelius geöffnet worden, nämlich das Zeittor der Largonen.
Und das Avionium? In großen Mengen sollte es die Schwerkraft aufheben können, glaubte Brelius. Vielleicht konnte es noch mehr. Vielleicht funktionierte das Portal nur dort, wo es auch reichlich von dem Avionium gab. Deshalb haben damals die Ordensmitglieder das Portal in den heutigen Ahnenländern aufgebaut.
Weil es nur dort funktioniert. Ob Koros dies weiß?
Der Transzendente kommt zurück. Der Transzendente.
Der Transzendente.
Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Irgendwann schlief er aber dann doch ein. Nicht ahnend, dass Koros Cusuar ihn in dieser Nacht wieder heimsuchen würde.