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Die Strafe der Zeit

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Antilius ging weiter und spürte bei jedem Schritt den stechenden Schmerz in seinem rechten Fuß. Er blickte an seinem Bein hinab und konnte ohne genaues Hinsehen erkennen, dass der Knöchel geschwollen war.

Nach einer sehr langen Weile vernahm er freudig Gilberts Stimme, ohne die er wohl niemals seinen Spiegel wiedergefunden hätte. Er lag an dem Hang, an dem sein Meister ihn verloren hatte.

»Antilius! Du meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass du so schnell laufen kannst!«, rief Gilbert aufgeregt.

»Das wusste ich bis dahin auch noch nicht. Weißt du, was mit Pais geschehen ist?«

»Ja, Pais lebt noch. Er hat vor Kurzem noch meinen und deinen Namen von irgendwoher gebrüllt. Ich habe versucht zurückzurufen, doch er hat mich wohl nicht gehört. Ich denke, er sucht uns.«

»Gut«, sagte Antilius beruhigt.

»Als der Spiegel aus deiner Tasche geschleudert wurde und du nicht mehr zurückgekommen bist, habe ich gedacht, das wäre dein Ende. Ehrlich. Wie bist du den Viechern bloß entkommen?«

Antilius hielt sich den Spiegel vors Gesicht und entlastete sein rechtes Bein. »Ich bin mir nicht sicher. Es war sehr seltsam. Plötzlich tauchte vor mir ein riesiger Fels auf, der die Form eines Stalagmiten hatte.«

»Der Stein der Zeit? Dort, wo die Späher leben?«

»Ja! Was weißt du darüber?«

»Es gibt lediglich Gerüchte, dass er existieren soll. Alten Sagen nach leben darin die Späher der Zeit.«

»Zeit«, grummelte Antilius verächtlich.

»Hast du etwa mit ihnen gesprochen?«, Gilbert schaute seinen Meister völlig perplex an.

»Oh, ja! Allerdings verstehe ich unter einer vernünftigen Unterhaltung etwas anderes. Diese Wesen behaupteten, dass Brelius an einem Ort sei, an dem es keine Zeit gibt oder so ähnlich. Sie wissen jedoch nicht genau, wo er ist. Angeblich versteckt er sich außerhalb der Zeit. Er ist wohl doch noch einmal durch das Zeittor gegangen. Vielleicht wollte er in die Vergangenheit reisen, um sich selbst daran zu hindern, den Schlüsselstein zu benutzen. Und wenn es stimmt, was die Späher gesagt haben, dann ist dieser Plan wohl gründlich schiefgelaufen, denn er ist nicht mehr zurückgekommen.«

»Ein Ort außerhalb der Zeit? Verlorenend!«, sprach Gilbert ehrfurchtsvoll. Antilius schaute ihn fragend an.

»Verlorenend. Kennst du diesen Namen denn nicht? Hier auf Truchten kennt ihn fast jedes Kind.«

Antilius schüttelte den Kopf.

»Als ich noch ein kleiner Junge war − oh wie lange ist das schon her – hat mir meine Mutter nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil ein Gewitter wütete und der Regen lautstark auf das Dach unseres Heimes prasselte, ein Lied vorgesungen. Es handelt von dem König Tarador. Er war ein guter König, der von seinen Untertanen respektiert und geliebt wurde. Er hatte eine Tochter, Parima. Sie starb eines Tages, als ihre Kutsche, die sie zu Taradors Geburtstagsfeier bringen sollte, an einem Pass in die Tiefe stürzte. Ein Rad am Wagen brach, obwohl es erst gerade neu eingebaut worden war.

Der König kam nie über ihren Tod hinweg und war so verzweifelt, dass er beschloss, Kontakt mit den bösen Geistern des Landes aufzunehmen. Er bat sie um Hilfe. Er wollte, dass sie den ungerechten Tod seiner Tochter wieder rückgängig machten. Er war bereit, jeden Preis dafür zu zahlen, sogar sein eigenes Leben.

Doch die bösen Geister wollten etwas ganz anderes. Der Preis, den sie verlangten, war seine Gutmütigkeit, sein Mitgefühl und seine Menschlichkeit. Tarador willigte ein.

Seine Tochter erwachte wieder zum Leben, so als sei nie etwas geschehen. Und der König verlor alles, wofür seine Untertanen ihn geachtet hatten. Er begann, die Todesstrafe wieder einzuführen, führte einen Krieg gegen das Nachbarreich und war nicht mehr in der Lage, Gefühle wie Freude, Zufriedenheit und Liebe zu empfinden.

So geschah es dann, dass die guten Geister erschienen, um Tarador zur Strafe für seinen Pakt mit den bösen Geistern nach Verlorenend zu verbannen. Ein Ort, an dem Zeit keine Bedeutung hat und aus dem es kein Entkommen gab.

Niemals hat jemand danach wieder versucht, Kontakt mit den bösen Geistern aufzunehmen, und so gerieten sie in Vergessenheit, und niemand wurde wieder nach Verlorenend vertrieben.«

Antilius benötigte einen Augenblick, um dieses Märchen in Verbindung zu den aktuellen Ereignissen zu bringen.

»Die Botschaft dieses Liedes ist jedenfalls klar«, begann er. »Glaubst du, dass Brelius jetzt an diesem Ort ist? Diesem Verlorenend?«

Gilbert zuckte nur mit den Achseln.

»Ich bin jedenfalls noch keinen guten Geistern begegnet«, sagte Antilius.

Gilbert lief in seinem kleinen Zimmer einmal auf und ab und kratzte sich dabei an seinem Kinn.

»Und was ist mit den bösen Geistern? Bist du denen schon begegnet?«, fragte er, und seine Stimme hallte in Antilius’ Ohren wider.

Böse Geister? Koros, der ihn die Klippe hinunterstürzte? In seinen Träumen war er ein Geist, aber im realen Leben gab es ihn wirklich.

»Ich denke schon«, sagte Antilius.

Bis jetzt hatte er Gilbert noch nichts von seinem zweiten Traum erzählt. Er entschied sich, ihm nun doch davon zu erzählen. Er berichtete ihm von seinem Traum, in dem Koros ihm ein leeres Buch in die Hand gegeben hatte.

Gilbert schien zu verstehen, dass Antilius’ Schicksal offenbar unmittelbar mit dem von Koros verbunden war.

Er überlegte lange.

»Das ist ziemlich unheimlich. Koros weiß offenbar, dass du ihm gefährlich werden kannst. Es muss irgendetwas mit dem zu tun haben, an das du dich nicht mehr erinnern kannst.

Wie dem auch sei. Ich werde dir immer zur Seite stehen«, sagte Gilbert, weil ihm nichts Besseres einfiel. Aber es war genau das Richtige.

Antilius lächelte erschöpft.

»Danke. Zusammen werden wir das schon schaffen«, sagte Antilius, ohne davon im Geringsten überzeugt zu sein.

»Ja«, sagte Gilbert nachdenklich.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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