Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 11

Vergangenheit und Zukunft

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Während Antilius Gilberts Richtungsanweisungen folgte (den Spiegel hatte er mittlerweile in seine Brusttasche verlegt) und durch die zahllosen verwinkelten Gassen von Fara-Tindu wanderte, war er mit seinen Gedanken weit weg von diesem Ort. Er war bei sich zu Hause, als er noch ein Kind war. Wo immer dies auch gewesen sein mochte, er konnte sich nicht erinnern. Nur einzelne Bruchstücke seiner Kindheit waren noch in seinem Gedächtnis.

Das Fischen hatte ihm besondere Freude bereitet. Er hatte noch ein Bild vor Augen, wie er als kleiner Junge manchmal den ganzen Tag damit zugebracht hatte. Es war auch heute noch für ihn nahezu die einzige Möglichkeit, sich richtig zu entspannen.

Nicht ganz die einzige. Die Sterne. Schon seit seiner Kindheit war er von ihnen fasziniert. Unzählige Nächte hatte er sich als kleiner Junge nach draußen ins Freie geschlichen, hatte sich auf die Wiese vor seinem Zimmer gelegt und in den endlosen schwarzen Nachthimmel mit seinen vielen kleinen Kristallpunkten geschaut, die zu ihm hinunter gestrahlt hatten. Er war, sogar wenn er heute noch als Erwachsener dieses Ritual durchführte, in der Lage, sein Zeitgefühl völlig zu verlieren. Wie paralysiert lag er stundenlang auf seinem Rücken, unter sich die kühle, feuchte Erde. Der Gedanke, dass sich dort oben in diesem beängstigenden und zugleich faszinierenden Nichts noch andere Welten um eine Sonne drehten, die vielleicht fast genauso aussahen wie diese hier, ließ ihn wohlig schaudern.

Er versuchte, diese Gedanken, die ihn von seiner Aufgabe ablenkten, beiseite zu drängen und wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

Leider mit wenig Erfolg.

Gilbert lästerte die ganze Zeit über Pais: Wie »dämlich« er doch sei, und seine unverständlich naive Einstellung zu diesen »Würmern«. Jemand, der mit Würmern spiele, sei doch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Er sei völlig »beknackt«.

Antilius nahm davon jedoch nur Bruchstücke auf.

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Gilbert irgendwann.

»Was? Ja, klar. Du kannst Pais nicht leiden. Das habe ich bereits mitbekommen. Vielleicht solltet ihr euch beide einmal richtig aussprechen.«

»Das ist sinnlos! Außerdem hasse ich ihn nicht. Eigentlich kann ich ihn sogar sehr gut leiden, und ich schwöre dir, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Er will es nur nicht zugeben, und das macht mich wütend.« Gilbert kniff die Augen zusammen.

»Aber es könnte doch sein, dass er dich wirklich nicht leiden kann.«

»Pah! Nach allem, was ich für ihn getan habe?«

»So? Was denn?«

»Halt! Hier musst du reingehen!«

Gilbert hatte Glück, dass sein Meister direkt auf die Dichtergilde zuging. So musste er nicht weitere unangenehme Details seiner Vergangenheit preisgeben. Antilius drehte seinen Kopf zur Seite, und sein Blick fiel auf eine hölzerne Schrifttafel, die über einer kleinen Tür an einer Hauswand hing. Das Haus war in einem erbärmlichen Zustand. In einem Fenster fehlten die Glasscheiben. Die Veranda war an mehreren Stellen eingebrochen.

Etwas war einmal auf diese Tafel geschrieben worden, doch Antilius konnte es nicht mehr lesen.

»Hier lebt sie also?«, fragte er ungläubig.

»Es sieht so aus.«

»Ist sie etwa ein Mitglied so einer dubiosen Sekte?«

»Es ist die Dichtergilde, die so etwas Ähnliches ist wie eine Denkfabrik. Soweit ich weiß, ist es eine von vier auf ganz Thalantia.«

»Was wird hier genau gemacht?«

»Nun ja, sie produziert Gedanken. Genauer gesagt, ist es ein Zusammenschluss von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Dichtern. Sie haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die kreativsten und absonderlichsten Geschichten auszudenken, als auch neue Dinge zu erforschen und auf Papier zu bringen. Hier wird alles Mögliche geschrieben. Wer in dieses Haus eintreten will, muss all jenes draußen lassen, was ihre Kreativität stören könnte. Streit, Neid, Wut oder Hass sind in diesen vier Wänden absolut tabu«, erklärte Gilbert.

»Na, dann sollte ich dich nicht mit hineinnehmen«, sagte Antilius trocken.

»Aber Meister, ich verspreche, dass …«

»Beruhige dich. Das war nur ein kleiner Scherz.«

»Ich hätte fast gelacht«, grummelte Gilbert. Er hatte sehr wohl bemerkt, dass die kleinen Streitereien zwischen ihm und Pais seinem Meister gehörig gegen den Strich gingen. Er nahm sich vor, sich etwas mehr zu beherrschen.

Antilius klopfte mehrmals gegen die Tür, doch es antwortete niemand.

»Mach einfach die Tür auf«, riet Gilbert.

Das tat Antilius dann auch nach einigem Zögern und betrat das Haus. Als er das Innere erblickte, wurde seine zuvor in seinem Kopf umhergeisternde Vorstellung einer alten verstaubten Bibliothek, die unter Lichtmangel litt, schnell revidiert. Es war nicht staubig und schon gar nicht dunkel. Im Erdgeschoss dieses Hauses gab es nur ein einziges großes Zimmer, und in jeder Ecke des Raumes flackerte ein kleines Feuer in einem bröckligen Kamin. Im ganzen Raum waren bequeme Sessel wahllos verstreut, die aus feinsten Stoffen gefertigt waren. Bücherregale oder andere Möbel gab es nicht. Ein perfekter Ort, um sich zu entspannen, aber nicht um zu schreiben, dachte Antilius bei sich und fühlte sich sofort behaglich, was für ihn eigentlich ungewöhnlich war.

Es schien niemand anwesend zu sein. Doch als er, einen Bewohner suchend, einen der vielen Sessel umkreiste, fiel sein Blick auf zwei kleine Gestalten. Sie waren je kaum größer als Antilius’ Hand und sahen sich beide zum Verwechseln ähnlich. Von ihrem Körperbau und ihrer Fellbehaarung hätte man sie wohl am ehesten mit Lemmingen vergleichen können.

Es waren Rijas. Genauer gesagt war es ein Rija. Diese beiden Geschöpfe waren nämlich telepathisch fest miteinander verbunden, und zwar derart, dass sie als ein Wesen sprachen und dachten. Es war also ein Rija mit zwei Körpern.

Antilius war sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob diese Wesen überhaupt in der Realität existierten, oder ob sie nur Fantasiegestalten waren.

Einer der beiden saß entspannt zurückgelehnt in dem für ihn viel zu großen Sessel und zog dunkelblauen Rauch aus einer winzigen Pfeife ein. Der andere saß daneben und schrieb auf einem kleinen Block. Das Pfeife rauchende Rija bemerkte den Besucher schnell.

»Einen Augenblick, bitte!«, rief er mit geschlossenen Augen und konzentriertem Blick.

Der andere schreibende Rija sprach mit derselben Stimme weiter, ohne seinen Blick von seinen Notizen abzuwenden. »Ich bin gerade dabei, eine äußert komplexe Satzkonstruktion zu vollenden.«

Antilius wartete geduldig ab, bis sich das Gesicht des rauchenden Rijas entspannte und sein Freund eifrig etwas aufschrieb. »So. Jetzt ist es wirklich perfekt«, schwärmte der Schreibende.

»Der Jahrespreis der Gildenvereinigung ist mir schon jetzt sicher.« Es folgte ein selbstzufriedenes Gelächter von beiden kleinen Dichtern, das in einer derart hohen Tonhöhe durch den Raum schallte, dass Antilius Gänsehaut bekam.

»Aber nun zu dir«, begann der Rauchende, und der andere bemerkte Gilbert in dem Spiegel. »Ich korrigiere mich: zu euch. Ich nehme mal an, dass ihr ein Autogramm von mir haben wollt. Nun, ihr habt Glück. Es ist zwar nicht leicht, bei dieser enormen Nachfrage jeden zufriedenzustellen, aber ganz zufälligerweise habe ich einige hier.« Während die ganze Zeit ein und dieselbe Stimme sprach, wechselte praktisch nach jedem Satz der Sprecher. Ein gewöhnungsbedürftiges und zugleich faszinierendes Erlebnis.

Antilius musste sich erst einmal an die ungewöhnliche Art der Kommunikation gewöhnen.

»Also eigentlich suche ich jemanden«, begann er achtsam, um das hünenhafte Ego der beiden Winzlinge nicht zu beleidigen.

»Ihr habt ihn gefunden.«

»Nein, ich suche eine junge Frau. Sie schreibt hier auch. Sie beschäftigt sich wohl mit Kräuterheilkunde, soweit ich das weiß.«

Die beiden kleinen Dichter beäugten den Fremden misstrauisch.

»Ihr meint wohl Telscha. Was wollt ihr denn von ihr? Wollt ihr denn nicht erst ein Autogramm von mir?«

Gilberts Geduldsfaden riss: »Hör mal Kleiner, dein Autogramm interessiert uns nicht. Wir wollen mit Telscha reden. Wo ist sie?«

»Gilbert! Sei doch nicht so unhöflich!«

Die beiden Winzlinge machten synchron ein entsetztes Gesicht.

»Ihr wollt kein Autogramm von mir?«, stammelten sie abwechselnd.

Die beiden Besucher schüttelten den Kopf.

»Kennt ihr denn überhaupt meine Werke?«

Kopfschütteln.

»Wisst ihr denn nicht einmal, wer ich bin?«

Wieder Kopfschütteln. Und ein betretener Gesichtsausdruck bei Antilius.

Die beiden Miniatur-Dichter (oder der Miniatur-Dichter) schnappten (schnappte) kurz nach Luft, fingen (fing) sich dann jedoch wieder rasch, jedenfalls nach außen hin.

»Sie ist oben, im ersten Stock. Sie schreibt, glaube ich, gerade an einem äußerst faszinierenden Buch über die Fortpflanzungsmethode der Steppen-Ringelblume. Wirklich sehr spannend! Ich wusste ja gar nicht, dass ihre Werke meine Popularität mittlerweile schon übertroffen haben. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, denn ich habe ja bereits jeden Preis gewonnen, den man nur gewinnen kann, obwohl euch das anscheinend nicht interessiert«, sprach der rauchende und schreibende Rija abwechselnd mit völlig beleidigter Stimme. »So, und jetzt dürft ihr gehen, denn ich habe keine Lust, meine Zeit mit zwei Analphabeten zu verschwenden!«

Beide Rijas (oder der eine Rija) wandten (wandte) ihren (seinen) Blick von Antilius und Gilbert ab und gaben (gab) vor, sich wieder auf das Schreiben zu konzentrieren. In Wahrheit versuchten beide Gestalten, den brodelnden Ärger zu verarbeiten.

Antilius wandte sich ab, ohne noch etwas zu erwidern und stieg die einzige Treppe des von außen zerfallen wirkenden Hauses nach oben in den ersten Stock.

»Wie kann man nur bei einer Größe eines Hamsters so aufgeblasen und selbstverliebt sein?«, schimpfte Gilbert, als sie sich außer Hörweite befanden.

Die Tür des ersten Zimmers im oberen Stockwerk stand weit offen und ein seltsam sumpfiger Geruch stieg Antilius in die Nase. Es war stickig heiß und schwül. Der kleine Raum zeigte sich voll mit Pflanzen unterschiedlichster Art und Größe. Ein Wunder, dass sie hier gedeihen konnten, denn es war relativ dunkel in dem Raum. Hinter einem Farngewächs saß eine junge Frau mit unordentlichem dunklen Haar an einem kleinen wackeligen Tisch und untersuchte durch ein Vergrößerungsglas ein gelbgrünes Blatt.

Antilius räusperte sich: »Entschuldigung.«

Die Frau löste sich rasch aus ihrer starren Haltung, legte das Glas beiseite und schaute den Besucher überrascht an. »Ihr seid Antilius. Habe ich recht?«, sagte sie.

»Ja. Es scheint so, als ob mich hier schon fast jeder kennt. Woher wisst Ihr, dass … nein, lasst mich raten: Brelius hat Euch von mir erzählt. Euer Vater, meine ich.«

»Ich habe meinen Vater noch nie so aufgelöst erlebt. Und ich habe ihm auch noch einen Hinweis gegeben, der ihn ins Verderben geführt hat.«

»Ihr meint die Geschichte mit dem Zeittor?«

»Ja. Es war einfach nur eine verrückte Idee, aber er war davon besessen. Er wollte mir beweisen, dass er fähig ist, den großen Durchbruch zu schaffen. Dieser Stein, den er gefunden hat; er ist wirklich verhext. Er hat meinen Vater verhext.« Telscha blickte besorgt aus dem Fenster.

»Was könnt Ihr mir über diesen Stein - das Avionium - erzählen?«

»Darüber weiß ich leider überhaupt nichts. Er hat mir nichts weiter erzählt, als dass es Gegenstände leichter machen kann, aber das wisst Ihr vermutlich schon.«

»Hat er Euch von seinen Albträumen berichtet?«

»Nur kurz bevor er zu seiner letzten Reise aufgebrochen ist. Er sah so zerstört aus. Er war ganz blass und ausgemergelt. Er klagte, dass er zu einem Werkzeug des Bösen gemacht worden wäre. Er hätte das Tor zur Hölle geöffnet. Deshalb wollte er noch einmal losziehen, um seinen Fehler wieder rückgängig zu machen. Er schien mir aber nicht wirklich überzeugt davon zu sein, dass er es schaffen würde.

Und er hat mir von Euch erzählt«, sagte Telscha und schaute Antilius skeptisch an, vermied es aber dabei, ihm in die Augen zu sehen.

Antilius’ Gesichtszüge versteiften sich: »Was hat er über mich gesagt?«

»Er hätte von Euch geträumt. Ihr wäret der Einzige, der noch verhindern könne, dass das Böse über dieses Land zieht. Ihr seid ihm in mehreren seiner Träume erschienen. Erst in seinem letzten Traum hat er auch Euren Namen in Erfahrung bringen können.«

»Aber er kannte mich doch gar nicht.«

»Das hat mich auch sehr verwundert. Er wusste ganz genau, wem er den Hilferuf schicken sollte. Ihr habt die Nachricht bekommen?«, fragte Telscha und schaute wieder aus dem Fenster.

»Ja. Sie klang sehr verzweifelt.«

»Mein Vater verriet mir Euren Namen, Antilius. Er gab mir die Anweisung, Euch zu sagen, Ihr sollt die Largonen-Festung aufsuchen, wenn er nicht zurückkehren würde. Und leider ist er bisher nicht zurückgekehrt. Ich mache mir große Sorgen.«

»Largonen-Festung? Was ist das?«

»Die Largonen leben weit im Süd-Westen von Truchten. Es sind Wesen, die etwa dreimal so groß sind wie wir Menschen.

Sie leben sehr zurückgezogen. Ihre Stadt ist von einer riesigen Mauer umgeben. Viel mächtiger als die Mauer von Fara-Tindu. Soweit ich weiß, hatten sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zur Außenwelt.«

»Wieso sollte ich dort hinreisen? Ist Brelius dort hingegangen? Ist dort etwa das Zeittor, von dem er gesprochen hatte?«

»Das Zeittor befindet sich dort, ja. Also wird er auch dort sein«, sagte sie, als wisse sie es ganz bestimmt. Sie drehte sich dann endlich zu Antilius um und schaute ihm dieses Mal in die Augen.

Was er in ihrem Gesicht sah, war das, was er erwartet hatte, aus ihrer Stimme aber nicht entnehmen konnte. Schmerz las er aus ihren wunderbar grünen Augen, die von dunklen Augenringen umgeben waren. Sie hatte wohl in letzter Zeit nicht sonderlich gut schlafen können, und viel geweint hatte sie auch, das konnte er sehen. Sie versuchte vergeblich, es sich nicht anmerken zu lassen, und Antilius bemühte sich vergeblich, so zu tun, als hätte er es nicht bemerkt.

»Was wisst Ihr über das Tor?«, fragte er fast flüsternd.

»Wie ich aus einigen sicheren Quellen erfahren habe, existiert dieses Tor, und es wird von den Largonen bewacht. Wahrscheinlich leben sie deshalb so abgeschieden vom Rest der Welt. Sie sind die Wächter des Zeittores, schon seit Jahrhunderten.«

»Aber wenn die Largonen es bewacht haben, wie ist es dann Brelius gelungen, durch das Tor zu treten, ohne von ihnen bemerkt zu werden? Er hat jedenfalls nichts in seinem Stimmen-Kristall darüber aufgezeichnet. Er sagte, die Stadt, in der er sich befunden hatte, wäre unbewohnt, und er sprach nur von einem unterirdischen Raum, in dem er gewesen sein will.«

»Er hat mir nichts davon erzählt. Er erwähnte keine Riesen. Ich weiß nicht, wie mein Vater es gemacht hat. Ich weiß nur, dass er das Zeittor benutzt hat.«

»Wem gehört die Stimme, die Brelius in seinen Träumen gehört hat? Die Stimme, die ihn manipuliert hat und befohlen hat, zum Zeittor zu gehen, meine ich.« Antilius war am ganzen Körper angespannt.

»Ich bin mir ziemlich sicher, wer dahinter steckt«, sagte Telscha. »Sein Name ist Koros Cusuar. Er ist ein Mensch, der über ein kleines Reich im Norden dieses Landes verfügt. Er war früher einmal die rechte Hand des Kanzlers von Truchten. Er gab sich jedoch nie mit seiner zweiten Position zufrieden und trennte sich von ihm, um sein eigenes Reich zu gründen. Ein Reich der Gesetzlosigkeit.«

»Aber wie hat dieser Koros es angestellt, Brelius in seinen Träumen zu erscheinen?«, warf Gilbert ein, der äußert gebannt Telschas Ausführungen gefolgt war. Er hatte sich eigentlich vorgenommen zu schweigen, aber die Neugier ließ die Frage aus ihm herausbrechen.

Nicht sonderlich überrascht darüber, einen Mann in einem kleinen Spiegel zu sehen, antwortete sie: »Ich habe erfahren, dass Koros über telepathische Kräfte verfügt. Er ist der einzige Mensch auf der Fünften Inselwelt, von dem gemunkelt wird, dass er über diese besondere Fähigkeit verfügt.«

Sofort lief Antilius wieder ein kalter Schauer über den Rücken, und er erinnerte sich an seinen Traum von der Schlucht und dem Mann ohne Gesicht.

»Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin davon überzeugt, dass Koros Brelius irgendwie gebraucht hat, um an das Tor zu kommen. Er konnte oder wollte es nicht selbst tun«, sagte Telscha.

Gilbert runzelte die Stirn. »Aber Moment mal! Was sollte dieser Koros denn mit dem Zeittor überhaupt anfangen?«

Telscha schaute Gilbert im Spiegel fest an. »Das liegt doch auf der Hand. Er möchte es benutzen. Wer durch die Zeit reisen kann, der kann die Vergangenheit und damit auch die Zukunft verändern.«

»Und zwar zu seinen Gunsten«, fügte Antilius hinzu.

Gilbert schwieg einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. »Verstehe. Aber Brelius sprach noch von viel Schlimmerem. Er sagte, Koros würde zu einem Wesen werden, das weder Zeit noch Tod fürchten müsse. Alleine durch Zeitreisen? Also ich verstehe das nicht richtig.«

Antilius begann, nachdenklich auf und ab zu laufen. So konnte er sich besser konzentrieren. »Du hast recht, Gilbert, da steckt noch mehr dahinter. Ich glaube kaum, dass Zeitreisen einen unsterblich machen können.«

»Und was ist mit den Largonen? Sie werden bestimmt nicht einfach zugesehen haben, wie sich jemand des Zeittores bemächtigt, wenn sie es doch beschützen wollen«, fragte wieder Gilbert.

»Es gibt hierbei noch viele unbeantwortete Fragen. Aber mich beunruhigt noch eine ganz andere Sache«, begann Telscha mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck.

»Mein Vater maß dem Fremden, der das Tor zu seinen Zwecken missbrauchen will, zwar große Bedeutung bei. Aber da gab es noch etwas anderes. Etwas Größeres, Unheimlicheres, das ihm Angst machte.«

»Was meint Ihr?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber mit diesem Tor scheint eine andere Bedrohung erwacht zu sein. Eine, die auf der anderen Seite dieses Tores schläft und nun erwacht ist oder dabei ist zu erwachen. Etwas unvorstellbar Böses wird über dieses Land ziehen. Das hat mein Vater gesagt.«

»Vielleicht meinte er aber auch diesen Koros?«, mutmaßte Antilius. Er hoffte es, aber irgendwie fühlte er, dass Koros nicht das einzige Problem sein würde.

»Das glaube ich nicht. Hier ist etwas Größeres im Spiel. Es ist nur so ein Gefühl von mir. Ich habe manchmal solche Ahnungen. Es ist wie ein düsteres Puzzle, und Koros, mein Vater und du, Antilius, sind ein Teil davon.«

Der letzte Satz ließ Antilius erschaudern. Nicht nur, was Telscha sagte, sondern dass sie Antilius jetzt mit ‚du’ anredete. Dadurch fühlte er sich irreversibel in die Pflicht genommen, dieses Rätsel zu lösen und Brelius zu finden. In diesem Moment musste er wieder an seinen Traum denken, den er zu Beginn seiner Ankunft geträumt hatte.

Was hatte Antilius selbst mit dieser Sache zu tun? Und warum war er ein Bestandteil von Brelius’ Träumen?

Es hat etwas mit deiner Vergangenheit zu tun. Es hat mit dem zu tun, woran du dich nicht mehr erinnern kannst, dachte er.

»Ich darf doch 'du' sagen, oder?«

»Sicher«, sagte er geistesabwesend, was Telscha nicht entging.

»Was hast du?«

»Das ist alles so verrückt. Das alles wirft nur noch mehr Fragen für mich auf. Eine unbeschreibbare Bedrohung und ein Fremder, der mich um Hilfe bittet«, sagte er mit verstörter Miene.

Telscha trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du musst meinen Vater finden! Bitte! Du musst gehen und ihn suchen. Nur dann wirst du deine Antworten finden.«

Antilius ging zum Fenster, aus dem zuvor Telscha geschaut hatte und versuchte, irgendwo da draußen etwas zu finden, das ihm die Entscheidung darüber abnehmen würde, was er jetzt unternehmen sollte. »Selbst wenn ich mich bereit erklären würde, Brelius zu suchen. Woher weiß ich, dass er auch dort ist? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich dort hingelangen soll, geschweige denn, wo genau sich die Festung befindet. Das ist kein Spaziergang. Gemäß dem Tagebuch deines Vaters war er wahrscheinlich über zwanzig Tage unterwegs.«

»Mein Vater wird dort sein. Davon bin ich überzeugt.

Ich habe eine Karte in der Alten Bibliothek gefunden. Sie ist zwar nicht unbedingt sehr genau, aber sie wird dich zu deinem Ziel leiten.« Telscha bückte sich nach einer alten Truhe, auf der eine Schlingpflanze wuchs, befreite den Deckel von dem violettfarbenen Gestrüpp, öffnete sie und holte ein kleines und sehr schmutziges Stück Papier heraus. Sie entfaltete das Blatt und hielt es Antilius vor die Brust.

Er zögerte. Die Karte in die Hand zu nehmen, würde für ihn endgültig bedeuten, sich gegenüber Telscha zu verpflichten, die Suche nach Brelius fortzusetzen und gleichzeitig eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Sie schaute ihm tief in die Augen und dann sprach sie das aus, von dem Antilius ahnte, dass sie es schon, als er diesen Raum betreten hatte, in seinen Augen gesehen hatte.

»Er hat dich auch in deinen Träumen heimgesucht«, sagte sie.

Antilius fuhr innerlich zusammen.

»Koros war in deinen Träumen. War es nicht so?«, hakte sie nach.

»Ja. Einmal. Als ich mit dem Schiff herkam. Woher weißt du das?«

»Ich habe diesen Blick, mit dem du mich die ganze Zeit angesehen hast, schon einmal gesehen. Bei meinem Vater. Die gleiche Furcht. Dieselbe Sorge. Dasselbe Grauen.«

Es behagte Antilius nicht, dass andere Leute in seiner Gefühlswelt herumstocherten. Ungeachtet dessen hatte sie recht, und er wollte es sich nicht eingestehen. Der Fremde, der Mann ohne Gesicht, es war Koros Cusuar. Obwohl er keine Beweise hatte, war er sich in diesem Augenblick absolut sicher, dass er es war. Als ob er ihn irgendwoher kennen würde. Er fühlte eine gewisse unerklärliche Vertrautheit. Und wie es schien, war er selbst diesem Koros auch vertraut. Vertraut genug, um Antilius’ Anwesenheit zu spüren und mit ihm über einen Traum Kontakt aufzunehmen. Und Antilius die Klippe herunterzustürzen.

Er erschauerte.

Aber es wurde Antilius auch klar, dass es nicht richtig war, sich zu drücken und wegzulaufen. Sich zu verstecken. Er würde nie wieder ruhig schlafen können, wenn er sich nicht jetzt entschließen konnte, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Er war gekommen, um etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, um seine Erinnerungen an verlorene Jahre zu suchen. Und Brelius schrieb in dem Brief, dass es Antworten geben würde.

Er nahm die Karte in die Hand und spürte, wie Telscha innerlich einen Seufzer der Erleichterung von sich gab.

Er schaute sich die Abbildung sehr genau an und kam zu dem Schluss, dass er sie kein bisschen verstand. Wo war Norden? Wo Süden? Telscha drehte die Karte einmal um hundertachtzig Grad und deutete dann auf eine kleine Burg, die am linken unteren Kartenrand eingezeichnet war. Ein Kind hätte diese Karte wohl genauer zeichnen können, dachte sich Antilius.

»Das sieht nach einem sehr, sehr langen Weg aus«, stöhnte Gilbert.

»Das kann dir doch egal sein«, gab Antilius zurück.

»Die Hälfte der Strecke kannst du mit der Amedium-Bahn fahren. Sie sollte einmal bis zum südlichen Ende der Fünften Inselwelt führen, wurde jedoch aus Gründen, die wir nicht kennen, nie fertig gebaut. Es gibt eine geheime Abzweigung mitten im Wald. Man kann sie kaum sehen, wenn man in der Gondel sitzt. Also musst du wachsam sein. Du musst nach einer alten toten Ulme Ausschau halten. Dort befindet sich die Abzweigung.«

Antilius schüttelte den Kopf: »Ich finde bei dieser ungenauen Karte nie den Weg zur Festung.«

»Das tut mir leid. Aber ich habe nichts Besseres«, sagte Telscha grimmig.

Antilius nickte. »Also schön.«

»Und noch eines: Wenn du meinen Vater gefunden hast, dann musst du das Tor zerstören.«

»Zerstören? Ich? Aber wie?«

»Er wird es dir erklären. Er wird viele Antworten auf deine Fragen haben. Du bist derjenige, der uns helfen kann. Du und niemand anderes.«

»Und was soll ich tun, wenn ich deinen Vater nicht finden kann?«

Sie schwieg. Das war auch in Ordnung, denn er kannte die Antwort. Das Tor musste auf jeden Fall vernichtet werden, bevor es Koros erreichen konnte.

»Koros wird sicherlich schon unterwegs sein, um sich des Tores zu bemächtigen. Wie viel Vorsprung, glaubst du, werde ich haben?«

»Das weiß ich nicht. Koros weiß vermutlich jedoch nichts von der kleinen verlassenen Strecke der Metallbahn. Nur mein Vater und jetzt du und ich wissen davon. Sie wird dir einen Zeitvorteil verschaffen können, wenn du rasch aufbrichst.«

»Gut.«

Antilius überlegte kurz. »Telscha, willst du nicht mitkommen? Ich weiß, dass es vielleicht gefährlich werden könnte, aber du wirst vermutlich weniger Schwierigkeiten haben, den richtigen Weg zu finden als ich, und ich kann wirklich jede Hilfe gebrauchen.«

Telscha schien auf diese Frage vorbereitet. Sie verkrampfte sich. »Als ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen habe und er mir gesagt hat, er wolle noch einmal zum Zeittor zurückkehren, da habe ich sofort meine Sachen gepackt und wollte mitgehen. Doch er flehte mich an, es nicht zu tun. Er hatte wahnsinnige Angst, dass mir etwas zustoßen könne, und ich musste ihm versprechen, dass ich niemals diesen grausigen Ort aufsuchen solle. Niemals. Es fiel mir zwar schwer, aber ich versprach ihm, hierzubleiben.

Deshalb bleibe ich jetzt auch hier und werde auf ihn warten, denn dieses Versprechen darf ich nicht brechen. Ich werde hier warten, bis er zurückkehrt, denn ich weiß, dass er zurückkehren wird.« Telschas Augen füllten sich mit Tränen und dann fixierten diese Antilius mit einer hypnotischen Entschlossenheit. »Bring ihn mir zurück, Antilius. Bring ihn mir zurück.«

Antilius verstand und verabschiedete sich unangemessen knapp. Er wollte nicht mehr länger von dem Gefühl erdrückt werden, die Last einer großen Verantwortung gegenüber Telscha zu tragen. Der Last, ihren Vater finden zu müssen.

Als er wieder auf der nun sehr still gewordenen Gasse im Freien stand, ging es ihm schon wieder ein wenig besser.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Gilbert.

»Wir werden Pais bitten, uns zu begleiten, schließlich ist er der beste Freund von Brelius.«

Uns. Das gefiel Gilbert. Er freute sich riesig, dabei sein zu dürfen, bei diesem geheimnisvollen Abenteuer. Auch wenn er es nur durch eine Glasscheibe erleben durfte.

Aus dem angebrochenen Abend wurde langsam eine dunkle Nacht. Immer mehr Sterne lugten aus dem Himmelszelt hervor.

Antilius ging zurück zum Wurmhügel und wünschte sich, er wäre nie hierhergekommen.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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