Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 29
Die Largonen
Оглавление»Hat es geklappt?«, fragte Gilbert.
Antilius schaute sich mit einem Anflug von Enttäuschung um. Er trat aus dem offenen Würfel heraus. »Ich weiß es nicht, aber sieh mal, was mit dem Korridor passiert ist.«
Gilbert folgte der Aufforderung seines Meisters und war verblüfft zu sehen, dass der Dunkle Tunnel nicht mehr stockfinster, sondern mit zahlreichen Fackeln hell erleuchtet war. »Das ist doch ein gutes Zeichen. Eventuell hat es ja doch funktioniert. Wir sind durch die Zeit gereist. Eine andere Erklärung kann es nicht geben.«
»Na, dann werden wir uns mal umschauen.« Antilius lief den langen hellen Tunnel zurück, zwar mit einem unguten Gefühl, aber dennoch hoffnungsvoll, die Zeitreise erfolgreich gemacht zu haben. Im Hellen hatte der Dunkle Tunnel keine bedrohliche Ausstrahlung mehr. Das Tor, welches ihm vorhin noch den Rückweg versperrt und von Pais getrennt hatte, war offen. An der Treppe angekommen, blieb er vor der ersten Stufe stehen.
Pais war fort. Noch ein Indiz dafür, dass die Zeitreise erfolgreich gewesen war. Aus dem darüber liegenden Erdgeschoss drangen tiefe Stimmen zu ihm hinunter.
»Hörst du das, Gilbert? Da oben ist jemand.«
»Ja. Geh hoch und sieh nach. Sei aber vorsichtig.«
Antilius hörte auf diesen Rat und schlich sich nach oben, wobei er sich an der linken Wandseite hielt. Die Stimmen wurden lauter. Er erreichte die oberste Stufe und lugte um die Ecke. Von hier hatte er einen ausgezeichneten Blick auf den großen Saal, den er mit Pais zuvor im Dunkeln durchschritten hatte. Der Saal war jetzt aber nicht dunkel, sondern von großen Kerzenkronleuchtern beleuchtet. Und er war nicht leer. Etwa ein Dutzend Riesen saß an einem ebenfalls riesenhaften Tisch und diskutierten heftig miteinander. Es waren Largonen. Sie waren vom Körperbau her den Menschen ähnlich. Ihre Haut war trocken wie Pergamentpapier und grau. Außerdem wuchs ihnen jeweils ein kleines Horn aus der Nase, das von unten nach oben gebogen war. Ihre fast kahlen Köpfe bildeten einen sonderbaren Kontrast zu ihren stark behaarten Beinen. Antilius schätzte aus dieser Entfernung, dass die Riesen ihn ungefähr um das Dreifache überragten.
»Largonen. Was machen die denn hier? Ich dachte, die Späher aus dem Stein der Zeit haben sie verschwinden lassen?«, wunderte sich Gilbert.
»Sprich bitte ein wenig leiser! Ich will diese Ungetüme nicht auf mich aufmerksam machen. Ich weiß auch nicht, was die hier machen. Vermutlich sind wir in die Vergangenheit gereist, als die Largonen hier noch gelebt haben.«
Gilbert kratzte sich am Kopf. »Also von diesem ganzen Zeitreise-Zeugs bekomme ich Kopfschmerzen. Das ist alles ziemlich verwirrend. Aber hast du nicht gesagt, die Späher hätten sie aus der Zeit entfernt? Wenn sie entfernt sind, warum leben sie dann noch in der Vergangenheit? Das ist doch auch Zeit«, flüsterte Gilbert.
»Ich versteh das Ganze auch nicht«, sagte Antilius mit pochendem Herz.
Gilberts Einwand war mehr als gerechtfertigt. Waren sie tatsächlich durch die Zeit gereist? Zweifel machten sich bei Antilius breit.
»Was willst du denn jetzt machen?«
»Ich werde Brelius suchen. Ich hoffe, er ist hier irgendwo. Der Sandling wird mich nicht umsonst losgeschickt haben.«
»Willst du dich an den Largonen vorbei schleichen, oder willst du ihnen sagen, was du hier machst?«
»Bist du verrückt? Ich werde auf keinen Fall mit denen sprechen. Pais hat mir gestern erzählt, dass Largonen keine Menschen in ihrer Nähe mögen. Ich muss versuchen, hier unentdeckt herauszukommen«, flüsterte Antilius zurück.
»Was machen sie denn gerade?«
Gilbert und Antilius lauschten der Unterhaltung der Riesen am anderen Ende des übergroßen Saals.
»Ich traue dem Menschling nicht. Menschlinge haben die Eigenart an sich, einem ständig nur Lügen aufzutischen«, grunzte einer der Riesen, dessen Horn, das aus seiner Nase wuchs, nach rechts gekrümmt war.
»Ob Menschling oder nicht, er hat es geschafft, den Spähern zu entkommen. Er ist clever«, sagte ein anderer. Sein Horn war nach links gebogen. Es war das einzige Merkmal, das Antilius ausmachen konnte, um die beiden Sprecher optisch auseinanderhalten zu können.
»Über wen reden die?«, fragte Gilbert.
»Bestimmt über Brelius. Welchen Menschen außer mir sollte es noch hierher verschlagen haben?« Antilius war hoffnungsvoll. Es hatte den Anschein, dass er auf dem richtigen Weg war.
Der Disput der Riesen setzte sich fort: »Er mag clever sein, aber er hat uns nicht die Wahrheit gesagt. Er hat sich feige aus dem Staub gemacht. Wenn ich ihn in die Finger kriege, dann werde ich ihn zermalmen«, sagte der Largone mit dem nach rechts gebogenen Horn.
»Er hat versprochen, dass er uns helfen würde«, erwiderte der linkshornige Riese.
»Lügen!«
»Er hat gesagt, er wisse, wer für das alles verantwortlich ist. Und er sagte, dass noch jemand kommen würde, um uns zu helfen.« Zustimmendes Gemurmel der anderen Largonen. Antilius zählte insgesamt vierzehn und zwei weitere, die als Wachen vor der gegenüberliegenden Tür postiert waren.
»Unsinn! Das sind doch nur dämliche Menschenlügen. Glaube nicht alles, was man dir erzählt, du Schwachkopf!«, grunzte ein Befürworter des rechtshornigen Largonen.
Der Largone mit dem linken Horn nahm eine auf dem Tisch stehende Kristallschale, die mindestens zwanzigmal so schwer war wie Antilius und schmetterte sie mit einem ohrenbetäubenden Wutschrei gegen die Wand. Antilius zuckte verschreckt zusammen.
»Du wagst es, mich als Schwachkopf zu bezeichnen?«, brüllte der gekränkte Largone.
Der andere Riese, der die Beleidigung ausgesprochen hatte, erhob sich von seinem Stuhl und ballte die Faust. Und das war eine Faust! »Für Schwächlinge haben wir hier keinen Platz, Feigling!«
Nun stand der linkshornige Largone auch auf und warf seinem Gegenüber einen finsteren Blick zu.
»Dir werde ich zeigen, wer von uns beiden ein Schwächling und ein Feigling ist.«
Ein Kampf stand bevor und normalerweise ging es bei einem Machtkampf unter Largonen um Leben und Tod. Die übrigen Riesen freuten sich und begannen, rhythmisch mit den flachen Händen auf den Tisch zu schlagen und dabei ständig ein Wort zu rufen.
»TULK!« Das bedeutete übersetzt soviel wie: 'Schlagt euch die Köpfe ein!'
Auch die beiden Wachen verließen ihren Standort und gesellten sich zu den Schaulustigen. Antilius begriff schnell, dass dies seine Chance sein könnte, unbemerkt zu fliehen. Egal, ob einige der Largonen, ihm eventuell helfen würden, wenn er sich ihnen vorstellte. Er wollte nicht zwischen die Fronten geraten.
»Das ist die Gelegenheit«, sagte er zu Gilbert.
Der Largone mit dem linken Horn bereitete sich auf seinen Kampf vor, indem er blitzschnell seinen Stuhl ergriff, ihn auf den Boden schlug und danach ein großes Stuhlbein abbrach. Ideal, um dem anderen damit eins überzuziehen.
Sein Gegner hob ebenfalls einen Stuhl hoch, holte kurz aus und briet ihm dem Linkshornigen über. Krachend zerbrach der Stuhl auf dem Kopf des Largonen. So laut, dass es Antilius schon beim bloßen Zuhören Schmerzen bereitete und er zusammenzuckte.
Den getroffenen Riesen schien der Angriff nicht sonderlich zu beeindrucken, und so nahm er wieder eine Kampfhaltung ein.
»Die machen keine halben Sachen«, staunte Gilbert.
Antilius vergewisserte sich zum letzten Mal, dass alle anwesenden Largonen mit dem Duell beschäftigt waren. Dann rannte er in geduckter Haltung zum gegenüberliegenden Ausgang los. Es gelang ihm, die Gruppe von Riesen zu passieren. Am anderen Ende des Saals schlüpfte er durch die halb geschlossene Tür und bog anschließend nach links ab Richtung Ausgang.
Was er nicht bemerkt hatte, war, dass unmittelbar hinter der Tür eine dunkle Nische im Gang war, in der eine weitere Largonen-Wache saß und sehr über das Vorbeihuschen von Antilius erstaunt war.
»Eindringling! Wir haben einen Menschling hier!«, brüllte die Wache.
Antilius fuhr erschreckt herum und sah, wie die hünenhafte Wache auf ihn zugerannt kam. Im Saal, wo sich die beiden Largonen bis zu diesem Augenblick immer noch mit großen Gegenständen bearbeitetet hatten, wurde es still.
»Lauf, Antilius! Lauf!«, rief Gilbert.
»Ergreift ihn!«, schrie es aus dem Saal.
Antilius tat, was er tun konnte. Er rannte zum Ausgang. Er rannte um sein Leben. Er glaubte zumindest, um sein Leben rennen zu müssen. Gilbert fieberte mit seinem Meister mit und mochte sich gar nicht ausdenken, was die Largonen mit ihm anstellen würden, wenn er geschnappt werden würde.
Die Wache folgte ihm und holte auf. Aufgrund ihrer Größe war es ihr ein Leichtes, den Menschling einzuholen.
Die Ausgangstür kam in Antilius’ Sichtweite. Erschrocken musste er feststellen, dass sie nun fest verriegelt war. Unmöglich für ihn, sie zu öffnen. Panisch suchte er nach einem anderen Ausweg, aber er wusste aus irgendeinem Grund, dass diese Tür die einzige war, die nach draußen in die Freiheit führte. Er entschied sich, zurück in den zweiten, linken Gang zu stürmen. Er hatte keine Ahnung, wohin dieser Gang ihn führen würde.
Der Largone war nun bedrohlich nahe und streckte schon seinen langen Arm nach Antilius aus, um ihn zu packen. Dann sahen er und Gilbert ein für Menschenverhältnisse relativ großes Loch in der Wand.
»Schnell, da rein!«, rief Gilbert.
Antilius warf sich in letzter Sekunde auf den Boden und rutschte auf dem Bauch in das Loch in der Mauer.
Keine Sekunde später schoss die riesenhafte Hand der Largonen-Wache in das Loch und fummelte unsanft darin herum.
Antilius hatte es geschafft, sich mit letzter Kraft tief in das Loch hineinzuzwängen, sodass die Wache ihn nicht erreichen konnte.
»Warte nur, Menschling, ich mache dich platt!«
Noch eine ganze Weile versuchte der Riese, Antilius zu ergreifen, zog dann aber die Hand wieder zurück und entfernte sich rasch.
»Ich kriege dich da schon raus!«, brummte er im Weggehen.
»Was hat der vor?«, fragte Gilbert.
»Er holt bestimmt irgendwas, um an mich heranzukommen.«
Antilius untersuchte die dunkle kleine Höhle nach einem anderen Ausgang, aber es gab keinen. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl.
»Was ist das für ein Loch?«, fragte Gilbert misstrauisch.
»Was interessiert mich das? Ich habe im Moment ganz andere Sorgen.« Antilius spähte aus seinem Schutzbunker hervor, um festzustellen, wo die Wache geblieben war. Er konnte niemanden sehen.
»Du musst hier wieder raus!«
»Wohin denn? Dort hinten ist wieder eine versperrte Tür.«
»Ich befürchte, du kannst hier nicht drin bleiben.«
»Was redest du da?«
»Ich glaube, diese Höhle ist schon besetzt.«
»Was?«
»Erinnerst du dich an die Überreste der Riesen-Ratte?«
Antilius fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken und zwei Sekunden später stieg ihm ein übler Gestank in die Nase. Er stammte von dem Eigentümer des Lochs. Er drehte sich um und sah in zwei eitergelb leuchtende Augen. Es war eine dieser Riesenratten. Nur diesmal nicht tot wie im Kellergeschoss, sondern quicklebendig.
Sein Fluchtinstinkt befahl ihm, das Rattenheim auf der Stelle zu verlassen. Er stürzte hinaus und rannte damit der zurückgekehrten Largonen-Wache direkt in die Arme. Die Wache ließ sich nicht zweimal bitten und packte zu. Ihre starke Hand drückte Antilius die Luft aus den Lungen. Er keuchte.
»Na, wen haben wir denn da? Ein ziemlich hässliches, winziges Menschlein«, sagte der Largone.
»In Ordnung, du hast gewonnen!«, presste Antilius hervor.
»Mal sehen, was die anderen dazu sagen werden.«
Der Riese hielt sein Opfer mit festem Griff und lief stolz zum großen Saal zurück, in dem Antilius durch seine spektakuläre, aber missglückte Flucht unfreiwillig einen blutigen Kampf zwischen zwei Kontrahenten verhindert hatte.
»Seht, was ich Widerliches gefunden habe!«
»Ein Spion! Sehr gute Arbeit. Stell ihn hier auf den Tisch, damit wir ihn verhören können!«, sagte der rechtshornige Largone.
Die Wache folgte dem Befehl des Anführers der Gruppe und setzte Antilius auf der Tischplatte im Speisesaal ab.
Umringt von riesigen, schadenfrohen und angriffslustigen Fratzen, rang Antilius nach Luft.
»Du hast uns ausspioniert. Was hast du gehört? Sprich, Menschling!«, herrschte der Largone, dessen Horn nach rechts gekrümmt aus der Nase ragte, den Menschling an.
»Ich? Ich bin kein Spion«, keuchte Antilius.
»Es ist besser für dich, uns nicht zu belügen, Menschling!«
»Ich sage die Wahrheit!«
»Lügner! Wie bist du hier hereingekommen?«
»Ich weiß nicht genau. Ich bin durch das Zeittor gegangen, um jemanden zu suchen.«
»Nach wem? Einem Menschling? Du suchst nach einem anderen Menschling?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er heißt Brelius Vandanten und hinterließ mir eine Nachricht, in der er sagte, ich wäre der Einzige, der ihm helfen könne.«
»Du bist gekommen, um ihn zu retten?«
Antilius überlegte sich eine geeignete Antwort, entschied sich dann aber zu einem stummen Nicken.
Die Largonen warfen sich fragende Blicke zu und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Alle bis auf denjenigen, dessen Horn nach links gebogen war.
»Wir wussten gar nicht, dass Menschlinge solch einen Humor besitzen«, sagte einer mit einem besonders breiten Schädel.
»Das ist die Wahrheit!«, feuerte Antilius verzweifelt mit allem Mut zurück.
Der rechtshornige Anführer beugte sich vor. »Niemand kann diesen Menschling namens Brelius noch retten.«
Antilius war erleichtert. Sie sprachen immerhin von demselben Mann. »Wieso? Was ist mit ihm?«
Der Largone dachte kurz nach. »Sagen wir, er hat die Zeit zu oft in Anspruch genommen.«
»Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, dass er genauso wie wir gefangen ist.«
»Ihr seid gefangen? Ich dachte, dies wäre eure Heimat. Eure Stadt.«
Der Largone neigte sich mit seinem Kopf soweit vor, dass sein Horn fast Antilius’ Brust berührte.
»Ich glaube, du bist dir nicht darüber im Klaren, wo du dich gerade befindest.«
Antilius schwante Übles. »Wo befinde ich mich denn?«
»Was denkst du?«
»Ich vermutete, durch die Zeit, in die Vergangenheit gereist zu sein. Ich bin doch durch das Zeittor gegangen. Ist das hier nicht die Stadt der Largonen im Süden von Truchten? Welchen Tag haben wir?«
Die Antwort und die Fragen von Antilius lösten ein müdes Schmunzeln beim Riesen aus. Die anderen Largonen im Saal grunzten grimmig. Er wandte sich von ihm ab.
»Das hier ist nicht unsere Heimat«, sagte der andere Largone mit dem nach links gebogenen Horn leise.
»Was soll das bedeuten?«
»Dieser Raum, ja das ganze Dorf sind nicht wirklich. Sie sind eine Illusion. Geschaffen von den Spähern. Wir haben es erst dann gemerkt, als es draußen nicht dunkel wurde. Die Sonne wanderte nicht am Himmel. Sie bewegt sich nicht. Sie steht immer an der gleichen Stelle. Wir vermuten, dass die Zeit hier still steht.
Wir haben versucht, jenseits der Mauern unserer Festung zu gehen, aber eine unsichtbare Barriere hinderte uns daran.«
Dann begriff Antilius. Er befand sich nicht in dem Gebäude, das er vor wenigen Mondstunden betreten hatte. Er war in einem Gefängnis. Einem Gefängnis irgendwo außerhalb der Zeit. Ähnlich wie dem Gefängnis, in dem sich Gilbert befand.
»Du hast keine Zeitreise gemacht, Menschling. Du bist jetzt ein Gefangener, genauso wie wir«, fügte der Linkshornige hinzu.
Antilius wurde schwindelig. Amüsiert und neugierig glotzen die anderen Riesen ihn an.
Jetzt ist es vorbei. Alles umsonst.
»Aber das sieht hier doch genauso aus wie in eurer Festung«, stammelte er. Er wollte es nicht glauben.
»Diese Festung ist eine fast perfekte Kopie. Die Späher haben dafür gesorgt, dass wir es nicht sofort merkten. Wahrscheinlich dachten sie sogar, wir würden es nie merken, aber so dumm sind wir nicht.«
»Die Späher haben euer ganzes Volk hier eingesperrt? Wieso?«, fragte Antilius nachdenklich, obschon er doch ziemlich sicher war zu wissen, warum.
»Wir wissen es nicht genau. Bis zu dem Tage unserer Verbannung haben wir immer ehrenhaft über Generationen hinweg das Zeittor beschützt. Wir haben in unserer Aufgabe nie versagt. Es gab keinen Grund, uns zu bestrafen und einzusperren. Aber die Tatsache, dass du nun auch hier bist, macht die Sache schon interessanter«, sagte der Largone mit dem linken Horn, der anscheinend ihre Situation ein wenig ruhiger bewertete als sein Kollege mit dem nach rechts gebogenen Horn.
Antilius seufzte. Sollte ihn der Sandling in die Irre geführt haben? Kollaborierte er gar mit den Spähern, die ihn loswerden wollten? Hatte der Sandling ihn getäuscht und in dieses Gefängnis gelockt? Aber eigentlich waren diese Fragen im Moment egal. Brelius war auch hier. Irgendwo.
»Wo ist Brelius?«, fragte Gilbert barsch, als ob er die Gedanken seines Meisters gelesen hätte.
Antilius holte Gilberts Spiegel aus dem Gürtel.
»Lass gut sein, Gilbert. Ich glaube, es ist besser, wenn du mal einen Moment still bist«, zischte Antilius nervös.
»Wer ist Gilbert? Ist das noch ein Spion?«, fragte der rechtshornige Riese aufgeregt.
»Ich bin kein Spion, und Antilius ist auch keiner, du Spatzenhirn!«, schrie Gilbert wutentbrannt. Antilius konnte es nicht fassen, warum Gilbert gerade in einer brenzligen Situation wie dieser so einfach die Nerven verlieren konnte und riskierte, sie beide in Gefahr zu bringen.
Der rechtshornige Largone schaute sich verunsichert um, woher die Stimme gekommen war und entdeckte dann die kleine Figur im Spiegel, den Antilius in Händen hielt. Skeptisch gaffte er hinein.
»Was ist das?«, wollte der Anführer wissen.
»Ein Kobold! Ein Dämon aus der Unterwelt!«, rief einer der anderen Riesen.
Gilbert schüttelte daraufhin nur verständnislos den Kopf. »Ihr seid ja so dumm!«
»Was habt ihr denn auf einmal? Gilbert ist ein Spiegelgefangener. Es ist ein Mensch, genau wie ich«, rief Antilius.
»Nicht mal ein Menschling kann so schwachköpfig sein, einen Spiegelgefangenen mit sich zu führen. Diese Spiegel sind das Werk des Bösen. Der Menschling steht in einem Pakt mit dem Bösen!«, brüllte der Rechtshornige.
»Es ist ein verhexter Spiegel. Der Menschling betreibt dunkle Magie«, röhrte ein anderer hinter Antilius und stupste ihn unsanft in den Rücken, worauf er vornüber fiel und sich das Kinn aufschlug.
»Du meine Güte! Ich habe Steine gesehen, die waren intelligenter als ihr«, stichelte Gilbert weiter.
»Sei still Gilbert!«, schrie Antilius.
»Ich habe es geahnt. Diese Menschlinge sind an allem schuld. Wir werden nicht noch mehr Unheil bei uns dulden. Wir müssen den Spiegel zerstören«, sagte der Anführer mit dem rechten Horn. Der Largone mit dem linken Horn sagte nichts, sondern machte nur ein nachdenkliches Gesicht.
»Nein! Lasst ihn in Ruhe!«, schrie Antilius verzweifelt.
Der rechtshornige Largone riss den kleinen Spiegel aus Antilius' Hand. Ein heftiger Schmerz durchzuckte dabei seinen Arm und für einen Augenblick fürchtete er, dass der Riese ihm den ganzen Arm noch gleich mit ausreißen würde. Der Largone wandte sich vom Menschling ab und drückte den Spiegel einem seiner Befürworter in die Hand.
»Zerstöre ihn!«, befahl er.
»Na, dann viel Spaß«, sagte Gilbert gelassen.
Antilius erinnerte sich daran, dass der Spiegel völlig unversehrt geblieben war, als eine Stadtwache in Fara-Tindu versucht hatte, den Spiegel zu zertreten. Er hoffte, dass sich dieses Wunder hier wiederholen würde. Mehr konnte er jetzt nicht tun.
Der befohlene Largone lief zur linken Mauer des Saals, holte einmal weit aus und haute den Spiegel mit seiner Hand dagegen. Der Spiegel fiel herunter. »Das war wohl nichts«, höhnte es aus ihm.
Der Largone musste erschreckt feststellen, dass der Spiegel noch intakt war. Jetzt versuchte der Riese es anders und trat mit einem kräftigen Tritt auf das Spiegelglas, so stark, dass Antilius durch die Erschütterung ein Stückchen vom Tisch hochgeworfen wurde.
»Lass dir mal was Besseres einfallen!«, hetzte Gilbert aus dem heil geblieben Spiegel weiter. Es machte ihm richtig Spaß.
Der Largone war jetzt richtig wütend. Seine Gesichtsfarbe verdunkelte sich bedenklich. Er lief Gefahr, sich vor den anderen lächerlich zu machen.
»Na warte! Zähle bis drei, kleiner Kobold, dann bist du tot!«, brüllte der Riese und wollte zu einem nahe gelegenen Schrank gehen, um sich dort einen Schlaghammer heraus zu holen.
»Einen Moment! Ich habe da diesbezüglich eine Frage an dich«, sagte Gilbert aus dem Spiegel, der immer noch auf dem Steinboden lag.
Der Largone blieb stehen und wartete Gilberts Frage verwundert ab.
»Komm mal ganz dicht an mich heran.«
Zögernd beugte sich der Riese, der anscheinend mit einem schlichten Gemüt beseelt war, zum Spiegel hinunter.
»Näher!«
Der Largone beugte sich weiter vor. »Frag endlich!«
»In Ordnung. Du sagtest, ich solle bis drei zählen. Sag mir doch mal, wie viel ist drei?«
Der Riese zog nachdenklich die Augenbrauen herunter und begann zu überlegen. Er wusste die Antwort nicht. Fragend schaute er seine Kollegen an, die ebenfalls intensiv nachdachten.
Was Gilbert genau mit dieser zusätzlichen Bosheit bezwecken wollte, konnte Antilius noch nicht absehen. Es offenbarte lediglich, dass Largonen wohl nicht die Hellsten waren.
»Jetzt reicht es mir!«, schrie der Rechtshornige.
Er stürmte zum Schrank, riss die Türen auf, schnappte sich einen gewaltigen Vorschlaghammer, der zweimal größer war als Antilius selbst und holte zum Schlag auf Gilberts Spiegel aus. Diesen jedoch ließ das völlig kalt. Er stellte sich in seinem Zimmer breitbeinig hin, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf ein wenig in den Nacken. Dem Anführer entging diese Verachtungshaltung nicht. Sie reizte ihn bis aufs Blut. Er konzentrierte seine ganze Kraft auf diesen einen Schlag, um dieses verfluchte Ding, das ihm dämonisch vorkam, zu vernichten.
Der Schlag hallte durch das gesamte Gebäude. Antilius konnte sich nichts auf der Welt vorstellen, was dieser Gewalt standhalten könnte. Der Anführer zog nach ausgeführtem Schlag den Hammer beiseite, um danach fassungslos festzustellen, dass der Spiegel nicht einen Kratzer abbekommen hatte. Ungläubig nahm er ihn an sich und schaute hinein. Gilbert winkte ihm fröhlich auf der anderen Seite zu und grinste dabei so breit, dass es schon fast wie eine Fratze ausschaute. Dann hauchte er gegen das Spiegelglas, um zusätzlich zu beweisen, dass der Zerstörungsversuch missglückt war.
Antilius atmete auf. Gilbert war noch da und sein Spiegel war heil geblieben.
»Tja, ich sage es ja nicht gern, aber du hast den schönen Steinboden kaputtgemacht«, sagte Gilbert vorwurfsvoll.
Verdattert schaute der Largone auf die Bodenplatte, auf die er zuvor geschlagen hatte. Sie war von der Wucht des Schlags zerschmettert. Er konnte es nicht fassen, dass es etwas gab, das stärker war als er. »Das ist Hexerei«, sagte er schwach.
»Richtig. Mein Spiegel ist unzerstörbar. Und wenn ihr noch einmal wagt, mich zu ärgern oder meinem Freund etwas anzutun, dann werdet ihr meinen dämonischen Zorn zu spüren bekommen. Ich werde euch alle mit einem furchtbaren Fluch belegen«, drohte Gilbert.
»Was für ein Fluch?«, wollte der Largone mit dem Hammer in der Hand wissen. Er schien tatsächlich den Unsinn zu glauben, den Gilbert sich in aller Schnelle ausgedacht hatte.
»Das werde ich mir noch überlegen. Hängt von meiner Laune ab. Und mit der ist es im Moment nicht zum Besten bestellt.«
»Ich glaube, das reicht, Gilbert«, sagte Antilius.
»Ach komm schon! Ich wollte mir gerade einen schrecklichen Fluch ausdenken.«
»Gib ihm den Spiegel zurück!«, beschloss der andere Anführer mit dem linken Horn.
Bange Sekunden wartete Antilius die Reaktion des Rechtshornigen ab.
Der Largone ging schließlich langsam auf Antilius zu und gab ihm seinen Spiegel zurück. Dann eilte er aus dem Saal. Das Gefühl der Niederlage vor den Augen der anderen konnte er nicht ertragen.
Die Stimmung war plötzlich irgendwie gekippt. Eben noch musste Antilius befürchten, sein letztes Stündlein schlagen zu hören, und dann die überraschende Wendung. Wenn auch auf ungewöhnliche Art und Weise, so hatte es Gilbert doch geschafft, eine Ordnung in der Gruppe der Riesen herzustellen, indem er den rechtshornigen Largonen vor den anderen bloßstellte.
Es wurde ruhig im Saal.
»Ich möchte mit Brelius reden. Er ist wohl der Einzige, der mir sagen kann, was hier vor sich geht«, sagte Antilius entschieden und steckte den Spiegel zurück in den Gürtel. »Wo ist er?«
»Er ist nicht mehr hier. Aber du kannst zu ihm gehen. Es gibt einen … Spiegel. Durch ihn ist Brelius gegangen und nicht mehr zurückgekehrt«, sagte der Largone mit dem linken Horn.
»Einen Spiegel? Hier? Etwa ein Spiegel, wie der von Gilbert?«
Der Riese schüttelte den Kopf. »Nein. Dieser Spiegel ist eine Art Tor. Wir fanden ihn, nachdem der Menschling Brelius hier bei uns im Gefängnis eintraf und uns erzählt hat, dass er es war, der das Zeittor aktiviert hatte, und nun noch einmal zurückgekehrt ist, um seinen Fehler wieder rückgängig zu machen. Doch auch er landete dabei hier bei uns. Brelius erkannte das Spiegeltor, das wir gefunden hatten, als eine Fluchtmöglichkeit für ihn. Das Spiegeltor ist nur für die Größe eines Menschen gemacht worden. Wir konnten Brelius demnach nicht begleiten und mussten hier warten. Einige von uns glaubten, dass Brelius uns im Stich gelassen hat oder mit den Spähern im Bunde steht. Und dass der Spiegel das Werk des Bösen ist. Deshalb unsere Furcht vor dem Spiegel deines Freundes«, sagte der Linkshornige und schaute vorwurfsvoll in die Runde von Largonen.
Antilius kratzte sich am Kinn und merkte, dass es ein wenig durch den Schubs eines der Riesen von vorhin geblutet hatte, weil er mit dem Kinn auf der Tischplatte aufgeschlagen hatte.
»Das Spiegeltor ist erschienen, nur um Brelius die weitere Flucht vor den Spähern zu ermöglichen? Und euch nicht?«
Der Riese nickte. »Brelius sagte, er wolle sich vor den Spähern verstecken. Er hätte versucht, seinen Fehler wieder gutzumachen, aber er sei gescheitert. Ist das Zeittor einmal aktiviert, lässt es sich nicht mehr schließen. Aber es bringt einen nicht durch die Zeit, sondern hat ihn hier in dieses Gefängnis geführt. Nachdem Brelius bei uns eingetroffen war, und wir ihm erklärten, dass er jetzt auch ein Gefangener sein würde, wollte er die Hoffnung schon aufgeben. Aber dann entdeckte einer von uns das kleine Spiegeltor in einem Schuppen. Brelius war sich sicher, dass dieses Spiegeltor ihn zu einem Ort führen würde, an dem er sich vor den Spähern verstecken könne. Einem Ort, an dem die Späher weder Augen noch Ohren haben. Er sagte, dass er dies aus seinen Träumen erfahren hätte, in denen jemand versuchte, ihm zu helfen.
Jetzt ist er hoffentlich an einem sicheren Ort. Aber einige von uns glauben, dass es eine Falle der Späher war, und er bereits tot ist. Andere glauben, dass er den Spähern helfen will, um uns zu schaden. Ich glaube das jedoch nicht. Wenn aber alles gut gegangen ist, wird er dich bereits erwarten.«
»Was hat er euch noch gesagt?«
»Er sagte, unsere Welt würde sterben, wenn er nicht überleben würde. Er sagte, es gebe jemanden, der mithilfe des Zeittores, das wir bewacht haben, das Portal des Transzendenten wieder errichten will. Das Portal, das die Macht der Transzendenz in sich birgt. Er sagte, er erwarte denjenigen, der die Augen hat. Wenn er kommen würde, wären seine Bemühungen nicht umsonst gewesen. Bist du derjenige, der die Augen hat?«
Antilius räusperte sich. »Ich bin mir über meine Rolle in diesem Verwirrspiel noch nicht völlig im Klaren. Wisst ihr, warum die Späher uns hier eingesperrt haben?«
»Wir waren ihnen anscheinend im Weg. So wie es aussieht, wollen sie, dass das Zeittor gestohlen wird. Sie wollen, dass es wieder einen neuen Transzendenten gibt. Anscheinend haben sie jemanden gefunden, der zu diesem Transzendenten werden soll.«
Koros, dachte Antilius.
»Sprich mit Brelius. Er wird dir alles erklären können. Er ist weise, glaube ich. Er sprach von einer Reihe von Visionen, die er in seinen Träumen hatte. In einer davon hat er anscheinend dich gesehen.«
Der Largone hob Antilius behutsam vom Tisch und setzte ihn wieder auf dem Steinboden ab. »Ich werde dir zeigen, wo sich der Spiegel befindet«, sagte der Largone ruhig. Die anderen Largonen protestierten nicht. Ihnen war klar, dass Antilius womöglich ihre einzige Hoffnung sein würde, aus dem Zeitgefängnis wieder herauszukommen. Auch wenn einige von ihnen sich innerlich weigerten, einem Menschling zu trauen, geschweige denn, sich von einem Menschling helfen oder gar retten zu lassen.
Sie gingen aus dem Hauptgebäude heraus zu einem Geräteschuppen. Hinter einer alten Decke kam das Spiegeltor zum Vorschein.
Als sie vor dem Spiegelglas standen, konnte Antilius nicht sehen, was dahinter lag. Es war dunkel.
»Wo wird er mich hinführen?«
»Zu einem Ort, an dem ihr vor den gierigen Augen und Ohren der Späher geschützt seid. Das hoffe ich zumindest.«
»Danke für eure Hilfe«, sagte Antilius, wobei er sich nicht sicher war, ob der Largone ihm wirklich freundlich gesinnt war.
»Du darfst nicht versagen, Menschling! Ich habe soeben meine Hand für dich ins Feuer gelegt. Wenn du scheiterst, werde ich bei den Largonen meinen Führungsanspruch verlieren, weil ich mich für dich eingesetzt habe. Die Vorstellung, uns von einem Menschling helfen zu lassen, bereitet uns - vorsichtig ausgedrückt - Unbehagen. Bekämpfe das Böse! Überliste die Späher! Durchkreuze ihre Pläne. Kehre zurück und befreie uns. Wir müssen das Zeittor um jeden Preis schützen. Es darf nicht in falsche Hände geraten. Ich glaube an dich. Ich glaube, dass du die Augen hast.« Er machte eine Pause. »Wir glauben, dass du die Augen besitzt.«
Der letzte Satz machte Antilius stutzig. »Schließt das auch den Großen mit dem Vorschlaghammer ein?«
Der Largone lächelte. Ein sanftes Lächeln. Ungewöhnlich für eine Kreatur seiner Statur. »Mach dir darum keine Sorgen.«
»Hoffentlich bemerken die Späher nicht, dass ich von hier verschwinde«, sagte Antilius. »Ich bin den Spähern im Stein der Zeit begegnet. Sie haben mich nicht direkt daran gehindert, das Zeittor zu benutzen. Wahrscheinlich wollten sie mich auf diese einfache Weise auch loswerden, indem ich quasi freiwillig in eurem Gefängnis lande.«
»Wir wissen, dass sich die Späher als Hüter der Zeit ausgeben. Doch das, was jetzt geschehen ist, lässt mich an ihrer Ehrlichkeit zweifeln. Finstere Mächte sind am Werk und wollen die Macht der Transzendenz befreien.
Geh jetzt, Menschling. Beeil dich!«
Ohne sich zu verabschieden, schritt Antilius durch den Spiegel.
Kurz nachdem er hinter dem durchgängigen Glas verschwunden war, vernahm der Largone noch seine Stimme.
»Ich werde euch da raus holen«, sagte sie.