Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 35
Verlorenend
ОглавлениеEr war angekommen.
Das Erste, was Antilius wahrnahm, war ein leises Rauschen von Blättern im Wind. Es war ein sehr angenehmes Geräusch. Er fühlte sich gut. Sein Geist war von allen Sorgen und Ängsten losgelöst.
Er lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen, und aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, sie zu öffnen. War es die Schwere, die ihn befallen hatte, oder war es dieses angenehme Gefühl, das ihn wie eine warme Decke umwickelte, das ihn zögern ließ, die Augen zu öffnen?
Wo war er? War er allein?
Antilius wollte den Boden mit seinen Händen abtasten. Er konnte aber keinen Boden fühlen. Unter ihm war nichts, das er fühlen konnte. Er spürte einen Anflug von Beunruhigung. Jetzt war sie doch wieder da - die Angst. Er drehte sich zur Seite, öffnete seine bleiernen Augen und blickte unter sich. Dorthin, wo er den nicht tastbaren Boden vermutete. Doch da war nichts. Weit, weit unter sich sah er ein tiefschwarzes Loch. Seine Augen weiteten sich. Es war kein Loch. Das schwarze Nichts waberte gleichmäßig. Es war Wasser. Wasser überall! Schwarz wie Teer.
Das kann nicht sein! Das ist etwas schiefgelaufen, dachte er. Wie bin ich hierhergekommen?
Er drehte sich wieder um und schloss seine Augen. Das Säuseln der Blätter. Darauf wollte er sich wieder konzentrieren. Er hatte es doch gehört. Wo war es? Wo waren die Blätter? Oder kam das Rauschen von der wabernden Schwärze unter ihm?
Es gelang ihm, das angenehme Geräusch wieder zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, dass er sich genau dort befand, wo diese Bäume waren, durch die der sanfte Wind streifte. Er stellte sich vor, dass er unter einer Gruppe von Trauerweiden lag, und dass ihre tief hängenden Äste dicht über ihm den Wind einfingen.
Seine Hände suchten wieder festen Boden - und fanden ihn. Sand rann durch seine Finger.
Er fasste wieder Mut und öffnete erneut seine Augen. Ein prachtvoller Sternenhimmel breitete sich hinter den Blättern einer Trauerweide über ihm aus. Es war dunkel, aber nicht sehr. Es kam ihm vor wie eine helle Vollmondnacht, aber es gab keinen Mond. Er suchte die Lichtquelle am Himmel, aber er fand sie nicht. Und die Sterne? Es waren keine Sterne. Sie waren größer. Sie strahlten anders und glitzerten auf unnatürliche Weise.
Zögernd stand Antilius auf und schaute sich um. Er befand sich am Rande eines kleinen Waldes, seine Füße versanken leicht in weißem Sand.
Er war nicht mehr auf Thalantia, das spürte Antilius deutlich.
Sollte dies das Ende aller Wege sein? War dies jener Ort, an dem sich alles zusammenfügte? War dies vielleicht sogar eine Art Jenseits?
Er ordnete seine Gedanken. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er ja nicht ganz allein war. Er hatte den Spiegel noch immer bei sich. Hastig zog er ihn aus seinem Gürtel und schaute hinein. Gilbert war aber nicht zu sehen. Nur das leere Bett, der Stuhl und der Tisch. Das Fenster war geschlossen.
»Gilbert, bist du da?«
Sein Ruf blieb aber ungehört. Gilbert war fort. Er war nicht mehr in seinem Gefängnis, dem Spiegel. Hatte er einen Weg herausgefunden?
Dutzende von Möglichkeiten schwirrten Antilius durch den Kopf, darunter immer wieder eine, die ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ, sodass er diese Möglichkeit gleich wieder aus seinem Kopf strich. Gilbert war nicht dumm. Womöglich ergab sich für ihn die Möglichkeit, seinem Gefängnis zu entkommen, als Antilius in diese Welt übergetreten war. Er würde es ihm jedenfalls wünschen.
Aber was ist, wenn …? Wenn er durch das Fenster gestiegen ist? Und dann …
Im Nichts kann auch nichts existieren.
»Schluss damit! Du musst jetzt das Orakel suchen!«, sagte er sich.
Er prüfte erneut seine Umgebung. Niemand war zu sehen. Kein Mensch. Kein Tier.
War er hier das einzige Lebewesen? Brelius könnte sich auch geirrt haben. Immerhin war er nicht mehr vollständig Herr seines eigenen Verstandes. Hatte er ihn an den falschen Ort geführt?
»Ganz ruhig. Sieh dich erst mal ein wenig um«, beruhigte er sich selbst.
Er ging los. Irgendwohin. Die Richtung bestimmte sein Gefühl.
Er überquerte eine breite und schroffe Hügellandschaft. Dahinter erstreckte sich ein Kornfeld. Alles war in dieses diffuse silbrige Licht getaucht, das keinen speziellen Ursprung hatte. Antilius konnte nicht erkennen, um welche Pflanzen es sich handelte. Alles schimmerte bei dem schwachen Licht in einem verwaschenen Silbergrau. Ein Weg führte am Feld entlang. Er war schnurgerade und schien unendlich lang zu sein.
»Ein befestigter Weg! Also muss es hier doch noch jemanden geben.«
Bestärkt wanderte Antilius ein wenig schneller als zuvor.
Er lief und lief und lief. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Landschaft veränderte sich nicht mehr. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass er im Kreis ging, obwohl der Weg immer nur geradeaus zu verlaufen schien. Es sah trotzdem alles gleich aus. Trat er nur auf der Stelle? War das wieder nur eine Illusion, wie vorhin das Meer, über dem er geschwebt zu sein schien? Er suchte nach einem Orientierungspunkt. Aber es gab keinen. Feld und Weg. Mehr nicht. Nichts, was ihm einen Hinweis darauf gab, wo er sich befand, oder wohin er gehen müsste. Er setzte dennoch seine Wanderung fort.
Auf einmal hörte er ein Rascheln neben sich im Feld, das zwar nur etwa hüfthoch war, dafür aber so dicht, dass man nicht hinein sehen konnte. Einige Halme bewegten sich. Was immer es war, es schlich im Schutz des Feldes parallel neben ihm her.
Und das schon seit einer ganzen Weile. Antilius machte Halt. Das Ding im Kornfeld ebenfalls.
»Wer ist da?«
Ein kindliches Gekicher erklang aus dem Feld und bewegte sich nach seinem Ruf rasch von ihm fort. Antilius beschloss, die Verfolgung aufzunehmen. Die zur Seite gestoßenen Halme verrieten den Flüchtling. »Stehen bleiben!«, befahl er laut.
Die Reaktion war wieder ein Kinderlachen. Dieses Mal noch lebendiger. Das Kind, sofern es denn eines war, blieb an einer Stelle im Feld stehen. Antilius hechtete los, um es zu ergreifen. Doch als er die Stelle erreichte, fand er nichts vor. Er durchstreifte die Gewächse mehrmals. Aber es war fort. Irgendwie hatte es ihn ausgetrickst.
Schon wieder Täuschungen. Dummkopf! Lass dich von ihnen nicht in die Irre führen! Was ist hier bloß real, und was nicht?
Antilius atmete einmal kräftig durch. Er wollte wieder zurück zum Weg gehen, doch er konnte ihn nicht mehr ausfindig machen. Er hatte die Orientierung verloren. Das Ding aus dem Feld hatte es geschafft, ihn soweit hinein zu locken, dass er nicht mehr zurückfand, und das, obwohl das Feld gerade mal halb so hoch war wie er selbst. Es war schon ohnehin schrecklich genug, nicht zu wissen, wo Norden und Süden war.
Wieder musste er eine Entscheidung treffen, einfach in irgendeine Richtung zu gehen. Wieder ging er los. Orientierungslos.
Irgendwann und irgendwie schaffte er es, das Kornfeld zu verlassen. Eine weite Ebene lag vor ihm. Doch sie schien an einer Klippe zu enden. Eine Klippe? Oder war es das Ende der Welt? Langsam schritt er auf sie zu. Er konnte bis hier oben die Brandung hören. Es war das schwarze Meer, über dem er zuvor geschwebt hatte. Ein betrübliches Gefühl übermannte ihn, das er sich nicht erklären konnte. Erst am äußersten Rand machte er Halt und schaute in die Tiefe. Es war unheimlich tief. Sein erster Traum von Koros war jetzt wieder voll präsent. Normalerweise hätte Antilius in diesem Augenblick einen Schwindelanfall erlitten, da er etwas unter Höhenangst litt, aber hier war es anders. Alles war anders. Es war nicht real. Es war aber auch kein Traum. Er verspürte keine Angst, in die Tiefe zu stürzen.
Wo war er? Was war dieser Ort, der nach einer mystischen Legende nach, Verlorenend genannt wurde? War es doch ein Traum? Ein Albtraum?
Hier waren Traum und Realität miteinander vermischt. Es gab keine Grenze zwischen diesen beiden Welten.
»Nein, es ist kein Albtraum, Antilius«, sagte eine weibliche Stimme neben ihm.
Verschreckt drehte er sich zur Seite und erblickte eine junge Frau in einem hellen Gewand, die plötzlich neben ihm stand. Antilius war unentschlossen, ob es sich eventuell wieder um eine Art Vision oder ein Trugbild handelte.
Die Frau lächelte. Ihr langes, glattes und dunkles Haar reflektierte das schwache silberne Licht, das keinen Ursprung hatte. Für einen Sekundenbruchteil hatte er das Gefühl, sie zu kennen. Aber dann war dieses Gefühl auch schon wieder weg.
»Weißt du, wo du bist?«, fragte sie ihn.
»Ich bin nicht mehr in der wirklichen Welt, oder?«
»Wo bist du dann?«
»Ich glaube … nein, ich weiß, dass ich in Verlorenend bin. Ich fühle es.«
»Ich habe diese Bezeichnung lange nicht mehr gehört. Aber ja, du hast recht, das ist Verlorenend. Es ist ein eigener Kosmos. Eine Parallelwelt, wenn du es so nennen willst. Bist du freiwillig hier?«
Antilius schaute sein Gegenüber verdutzt an. »Was für eine merkwürdige Frage. Ich glaube, ich kann sie dir nicht beantworten.«
»Dann ist es richtig, dass du hier bist. Als ich hierher kam, wusste ich ebenfalls nicht, wieso. Ich konnte mich lange Zeit an nichts aus meinem früheren Leben erinnern. Niemand weiß genau, wie man nach Verlorenend kommt. Es heißt, es schaffen nur die Auserwählten. Aber soweit ich weiß, ist es schon sehr lange her, dass jemand hierher gefunden hat«, sagte die Frau.
Ihre Stimme war gleichmäßig sanft, und sie sprach sehr leise. Sie schien in sich zu ruhen. Sie stand mit dieser Umgebung im Einklang. Sie war ein Teil von ihr. Antilius glaubte nicht, dass sie ihm irgendetwas vorspielte. Es fiel ihm sonst schwer, andere Menschen nach nur kurzer Zeit richtig einzuschätzen, aber bei ihr war er sich ziemlich sicher, dass sie nichts Böses im Schilde führte.
Er schaute sie lange und fasziniert an. »Subjektiv betrachtet hatte ich keine Wahl«, sagte er. »Wenn ich ehrlich bin, wollte ich etwas über mich selbst erfahren. Deshalb bin ich nach Truchten gereist, dort wo alles begann. Und jetzt? Jetzt ist der ganze Planet in Gefahr. Ich bekomme gesagt, ich hätte besondere Augen und ich wäre der Einzige, der noch etwas bewirken könnte, ein Unheil abzuwenden. Wie sollte ich da nein sagen?«
»Ich weiß, warum du hier bist. Du zweifelst an dir selbst?«
»Ich bin bisher nur Menschen und Wesen begegnet, die so viel mehr wissen als ich. Ich sehe nur die Spitze eines Eisbergs. Ich weiß nicht, ob ich jemals den ganzen Berg sehen werde. Ich verstehe einfach nicht, was ich mit der Sache zu tun habe.«
»Deine Rolle, die dir zugetragen worden ist, ist mannigfaltig. Du verlangst von dir selbst zu viel. Du bist schon so weit gekommen. Du hast dich auf die Suche nach deinem Schicksal begeben. Nur wenigen ist dies bisher gelungen«, erklärte sie und schaute dabei aufs Meer hinaus.
»Da siehst du es! Auch du weißt mehr über mich als ich selbst.«
»Ich weiß nur das, was ich aus deinen Gefühlen herauslesen kann. Die Antworten werden kommen. Lass ihnen nur Zeit. Es ist deine Bestimmung, hierher zu kommen. Ich habe deine Ankunft vorhergesehen.«
Für ein paar Sekunden schauten beide nebeneinanderstehend auf das Meer. Es war so sehr dunkel und doch besaß es eine gewisse Schönheit. Es hatte eine beruhigende Wirkung.
»Und wer bist du?«, wollte Antilius dann wissen.
Die Frau warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Wie heißt du?«, fragte er nach.
Die Frau wirkte erstaunt. »Ich hatte einmal einen Namen, aber der ist hier bedeutungslos geworden. Wir brauchen hier keine Namen aus unserem früheren Leben.«
»Und wie redet ihr euch dann an?«
Die Frau lachte daraufhin. »Komm! Ich zeige dir mehr von dieser Welt.«
»Ich muss aber zum Orakel«, sagte Antilius energisch.
»Ja, ich weiß. Ich werde dich auch zu ihm führen. Aber noch ist es zu früh.«
Antilius stimmte nur zögerlich zu. Er war neugierig auf das Unbekannte und er war froh, dass er nicht alleine war. Er vermisste seine Heimat, aber ein Novum für ihn war, dass er Gilbert noch mehr vermisste. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er sich an ihn gewöhnt hatte.