Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 10

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Unruhe

Maja erwachte viel zu früh für ihren Geschmack. Geweckt hatte sie ein kleiner Lichtfleck, der durch ein Loch drang, das ungünstiger Weise in ihrem Fensterladen war. Genau auf Augenhöhe. Links. Es war wirklich ärgerlich. Sie hatte in dieser Woche nicht gut geschlafen. Auch gestern Nacht hatte sie sich stundenlang hin und her gewälzt, bevor sie endlich eingeschlafen war. Und dann wurde man in aller Frühe von der verdammten Sonne geweckt. Moment mal, dachte sie, verdammte Sonne? Woher kam dieser Unmut schon wieder?

In letzter Zeit war Maja irgendwie nicht sie selbst. Zwar gehörte sie zu den Menschen, die nochmal einschlafen können, wenn sie einmal aufgewacht sind, aber dieser kleine Lichtfleck machte es ihr unmöglich, einfach liegen zu bleiben. Seit wann war dieses Loch da? Bei genauerer Betrachtung handelte es sich eher um einen Spalt, der einfach zwischen den Brettern entstanden war. Holz arbeitet eben auch. Hier, in einem Holzhaus, machte sich das natürlich immer wieder aufs Neue bemerkbar. Es war normalerweise gar kein Problem für Maja, dass sie früh aufwachte. Sie schlief gerne, aber es wäre ihr sonst nicht in den Sinn gekommen, wegen so einer Kleinigkeit gleich angefressen zu sein. Sie hätte einfach den Fensterladen abmontiert, wäre zu Chris in die Werkstatt gegangen, hätte ihn repariert und dann wieder lichtfleckfrei geschlafen.

Maja stieg aus dem Bett, welches Jason ihr gebaut hatte als sie noch ganz klein gewesen war. Damals war es ihr riesig vorgekommen. Und es war wunderbar weich, denn es hatte eine richtige Matratze. Maja hatte immer leichte Gewissensbisse, weil die Bewohner der Siedlung sie so offenkundig liebten und für sie auf eigenen Luxus verzichteten. Allerdings war die Matratze die einzige Ausnahme. Sie schlief wirklich gerne. Und in einem bequemen Bett ging das einfach viel besser als auf einer Strohmatratze. Das wusste sie, weil bis vor ungefähr sechs Jahren auch in diesem Bett eine solche Matratze gelegen hatte. Wobei das Schlafen im Stroh, wenn es offen lag, ebenfalls seinen Reiz hatte.

Maja zog sich rasch eine weite graue Stoffhose an und eine hellblaue Bluse über das weiße Top, dann ging sie in das kleine Badezimmer. Es hatte keine Toilette – die befand sich in einem Häuschen hinter dem Haus – und bestand genau genommen nur aus einem alten Waschbecken und einem Spiegel in einer abgetrennten Nische ihres Zimmers. Aber es war immerhin ein Waschbecken mit fließendem Wasser, das in einen Eimer abfloss, wenn es gebraucht worden war. Ihr Haus, in dem sie gemeinsam mit ihrem Vater wohnte, war neben der Krankenhütte das einzige, welches über ein Hauswasserwerk verfügte. Allerdings gab es kein richtiges Abwassersystem, weswegen sie ihr Schmutzwasser auffingen. Das Wasser wurde abgekocht und dann für andere Zwecke verwendet, außer zum Trinken oder Kochen. Neben dem Spiegel waren auf Kopfhöhe zwei Haken an der Wand, die Maja für ein Handtuch und die Halskette ihrer Mutter nutzte. Sie war das einzige Erbstück, das sie von ihr hatte, und sie trug sie jeden Tag. Der filigrane silberne Anhänger bildete ein V aus Ranken und Blüten. Er war wunderschön und jedes Mal, wenn Maja ihn betrachtete oder gedankenverloren damit spielte, versuchte sie sich vorzustellen, wie ihre Mutter wohl ausgesehen haben mochte. Jason hatte ihr erzählt, dass sie hinter den, von offenbar vielen Qualen, verzerrten Gesichtszügen, eine Schönheit gewesen sein musste. Die Wut, die Maja eben noch beschäftigt hatte, war nun, da sie an ihre Mutter dachte, verraucht, doch machte sie einem anderen Gefühl Platz. Einem unangenehmen Gefühl, das Maja in den letzten Tagen mehr und mehr beschäftigt hatte.

Sie versuchte es abzuschütteln, indem sie sich die Zähne putzte. Maja hatte eine Zahnbürste, jedoch keine Zahnpasta. Das war kein Übel, wie sie fand, denn sie mochte keine Zahnpasta. Diese komische Konsistenz und dann der Schaum im Mund – einfach ekelig. Außerdem war Zahnpasta scharf. Es war Maja ein echtes Rätsel, dass es Menschen gab, die scharf gewürztes Essen mochten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Maja Zahnpasta benutzt hatte, musste sie gegen den Würgereiz ankämpfen, der sich durch diesen verdammten Schaum einstellte. Sie fand es nicht schlimm, dass sich nur äußerst selten welche auftreiben ließ, und sie verzichtete gerne. Ihre Zähne waren auch ohne dieses widerliche Zeug gesund, stark und weiß. Man musste nur ordentlich schrubben. Es gab außerdem ein Stück Seife und etwas in einem kleinen Glastöpfchen, das ihr Kim vor ein paar Jahren geschenkt hatte.

„Das ist Make-up, Maja. Damit können wir uns schöner machen. Es ist angeblich eine Frauen-Wunder-Waffe“, hatte ihre beste Freundin erklärt und dabei geklungen wie jemand, der nicht recht glaubte, was er sagte. Kim hielt eigentlich nichts von solchen Sachen. Mädchenkram, wie sie es nannte, doch Maja vermutete schon lange, dass das eigentlich nicht so ganz stimmte. Jetzt, da Kim schwanger war, zeigte sie ihre Gefühle viel offener. Vielleicht lag das an den Hormonen. Aber Maja, die sich von Kim hatte aufklären lassen, was es mit diesem Make-up auf sich hatte, fand den Gedanken ganz nett, sich ein bisschen hübscher machen zu können. Damals war sie fünfzehn gewesen. Kim hatte ihr den kindischen Gedanken wohl angesehen, deswegen hatte sie Maja ja auch eines der Töpfchen, die sie wie durch ein Wunder bei einem äußerst gefährlichen Manöver in der Vorstadt hatte erbeuten können, geschenkt.

„Dir ist aber schon klar, dass du das nicht nötig hast, oder Schatz?“, hatte sie gesagt und Maja den Tiegel in die Hand gedrückt. „Könntest es Jason aber mal empfehlen“, hatte sie noch mit ihrer üblichen spitzen Zunge hinzugefügt. Maja hatte das Zeug noch nie benutzt und wahrscheinlich war es schon längst steinhart.

Auch jetzt schenkte Maja der Frauen-Wunder-Waffe keine Beachtung, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und eilte dann durch die Wohnküche nach draußen und in das Toilettenhäuschen. Sie wusste selbst nicht genau, woher ihre Unruhe schon wieder kam und warum sie es auf einmal so eilig hatte, zu frühstücken und raus aufs Feld zu gehen. Eigentlich war heute einer der wenigen Tage, an denen es die Siedler lieber mal etwas langsamer angingen. Das beschlossen sie manchmal, wenn alles gut lief.

Als Maja in die Hütte zurückkehrte, erschrak sie beinahe, als sie Jason und Janosh zusammen am Tisch sitzen sah. Die beiden schauten sie fragend und belustigt zugleich an und Maja schaute ebenso fragend, jedoch nicht belustigt zurück.

„Habt ihr grade schon hier gesessen?“, fragte sie verwirrt und schon brachen die beiden Männer wieder in prustendes Lachen aus. Maja zog die Brauen hoch. Was war bitteschön so witzig?

„Ja, wir haben allerdings schon hier gesessen und uns gefragt, ob du dir vielleicht den Magen verdorben hast?“ Jasons Stimme zitterte, denn er versuchte angesichts von Majas Miene ein erneutes Lachen zu unterdrücken. Janosh hielt sich eine Hand vor den Mund, um sein Grinsen zu verbergen, aber seine Augen hüpften beinahe vor Vergnügen. Maja schüttelte kurz den Kopf, um die erneute Wut über die beiden albernen Männer zu verscheuchen und rannte dann beinahe in ihr Zimmer, um sich ihre Arbeitssachen anzuziehen. Dabei handelte es sich um eine robuste schwarze Jeans und ein beiges Leinenhemd, das sie über ein schlichtes weißes Top zog. Die blaue Bluse hatte sie achtlos fallen lassen, was sie normalerweise niemals tun würde. Stoffe waren wertvoll und mussten schonend behandelt werden, doch Maja fehlte heute Morgen ihre normalerweise übliche Struktur.

Sie hatte ein schönes Zimmer mit einem großen Kleiderschrank, der allerdings nur knapp zur Hälfte gefüllt war, einem Bücherregal, auf das und auf dessen Inhalt Maja besonders stolz war, und nicht zuletzt einer kleinen Sitzecke inklusive Tisch. Die Möbel waren, wie eigentlich alles in der Siedlung, aus Holz gefertigt. Den niedrigen Tisch hatte sie erst vor drei Wochen gemeinsam mit Tobi und BJ restauriert. Chris hatte dafür sogar einen Schuss seines wertvollen Sonnenblumenöls gesponsert. Das nutzte er eigentlich nur für seine Waffen.

Als Maja sich angezogen hatte, setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Sie wusste, dass ihr Auftritt eben in der Küche seltsam gewesen war. Wie sie wohl auf die beiden Männer gewirkt hatte? Sicher hatte Onkel Josh schon bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Auch wenn er sich offenbar prächtig amüsiert hatte, er nahm meistens mehr wahr, als es den Anschein hatte. Und Jason konnte sie noch nie etwas vormachen, er kannte sie, wie kein anderer. Sie atmete ein paarmal tief ein und aus, dann ging sie zurück in die Küche, vermied den Blick auf ihren Vater und begrüßte endlich Janosh. Er war aufgestanden, offenbar wollte er aufbrechen, um nach den Kühen zu sehen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn einmal kurz und fest an sich zu drücken, dann trat sie einen Schritt zurück und schaute ihm in die Augen. Wie sie befürchtet hatte, lachte er nun nicht mehr, sondern erwiderte ihren Blick aus trüben hellblauen Augen fragend und ein wenig besorgt.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Kleines? Du siehst aus, als würdest du verfolgt.“

„Ich weiß auch nicht, Onkel Josh, ich glaube, ich will einfach schnell in die Sonne und das schöne Wetter genießen“, sagte sie und ihre Stimme klang dabei kaum aufgesetzt fröhlich, wie sie zufrieden feststellte. Janosh strich ihr liebevoll über die Wange und lächelte ihr zwinkernd zu.

„Du warst schon immer eine echte Sonnenanbeterin“, schmunzelte er, dann verabschiedete er sich von beiden.

Aber Jason konnte Maja nichts vom schönen Wetter erzählen. Er betrachtete sie mit seinen stahlgrauen Adleraugen aufmerksam und beobachtete genau, wie Maja sich verhielt, das wusste sie.

„Etwas beschäftigt dich.“ Er musste nicht fragen.

Maja schnitt sich eine Scheibe Brot ab und bestrich sie dünn mit Butter. Dann goss sie sich eine Tasse Tee ein, setzte sich und antwortete mit betont ruhiger Stimme.

„Ich weiß auch nicht, was es ist. Ich glaube, ich bin einfach aufgeregt. Wegen des Festes … und die Jungs müssten auch bald mal wiederkommen. Sie sind schon seit zwei Tagen weg.“

Sie machte sich tatsächlich Sorgen um Chris und Tobi. Aber Mike und Billy waren bei ihnen und sie mussten nicht in gefährliches Gebiet, beruhigte sich Maja selbst.

„Ihnen geht es bestimmt gut. Sie kommen sicher bald zurück. Vielleicht ja heute schon“, sagte Jason betont gelassen.

Maja wusste, dass er sie beruhigen wollte, doch seine Stimme erreichte sie heute nicht richtig. Ihre Ohren hörten, was er sagte, aber ihr Kopf wollte es nicht verarbeiten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie hörte, wie besorgt Jason selbst war. Zwar wusste sie, dass er sich immer Sorgen machte, wenn die Jungs unterwegs waren, allerdings war es diesmal etwas ganz anderes, weil sie selbst so beunruhigt war.

„Du hast wahrscheinlich recht“, antwortete sie leise.

„Hab ich das nicht immer?“, sagte Jason mit einem Zwinkern und Maja schaffte es tatsächlich, ein kleines Lächeln für ihn zustande zu bringen. Sehr schnell aß sie dann ihr karges Frühstück auf und Jason schien zu spüren, dass sie nicht in der Stimmung war zu reden.

„Gehst du aufs Feld?“, fragte er, als sie ihren Becher schon abgespült hatte und ihn in den Schrank zurückstellte.

Sie nickte nur und machte sich direkt auf den Weg. Die besorgten Blicke ihres Vaters schienen sie bis in den Geräteschuppen zu verfolgen.

Maja begann damit, den hinteren Teil, auf dem sie nun den Kohl anpflanzen wollten, umzugraben. Die letzten beiden Tage hatten sie und einige der anderen Frauen damit verbracht, das Stück vom Unkraut zu befreien. Sigrid und Brina, BJs Mutter, waren noch nicht da, aber es war ja auch noch früh und Maja wollte einfach etwas zu tun haben. Sie konnte nicht seelenruhig in ihrem Bett liegen bleiben oder ein ausgedehntes Frühstück genießen, wenn sie so unruhig war. So war es ihr noch nie gegangen. Sie war fahrig, kribbelig und unaufmerksam. Das Schlimmste war, dass sie es nicht leiden konnte, wenn sie an einer Situation nichts ändern konnte. Und sie wusste ja noch nicht mal, was das Gefühl ausgelöst hatte, wie also hätte sie dagegen angehen können?

Sie hatte es schon gespürt, ein paar Tage bevor die Jungs aufgebrochen waren. Da war es aber noch nicht so deutlich gewesen. Es hatte sich gesteigert, immer weiter, bis es nun unerträglich geworden war. Maja wusste nicht, was das für ein Gefühl war und was genau sie so sehr beschäftigte. Das verstärkte ihre Unruhe nur noch zusätzlich.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, an schöne Dinge zu denken und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie grub in raschem Tempo, stieß mit voller Kraft den Spaten in die schwere, feuchte Erde. Dabei ließ sie ihren Blick umherwandern. Auf dem Feld sprossen, wo sie auch hinsah, die zarten grünen Triebe und jungen Blätter der verschiedenen Gemüsesorten, die sie in diesem Jahr angepflanzt hatten. Maja entdeckte keine Stellen, an denen die Saat nicht aufgegangen wäre, und der Anblick freute sie. Dieses war ein gutes Jahr. Sie hatten genug zu essen für alle und die Vorbereitungen für das Aurenfest, das in ein paar Tagen stattfinden sollte, liefen ebenfalls besonders gut. Dieser Tag war immer schon mit Majas schönsten Erinnerungen verknüpft und entsprechend freute sie sich jedes Jahr sehr auf das Fest. Trotz des Schweißes, der ihr inzwischen über die Stirn rann, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als sie an den Schnaps dachte, der darauf wartete, die diesjährige Feier perfekt zu machen.

Hinter dem Gewächshäuschen auf dem Blumenfeld sah es auch schon wunderschön bunt aus. Dort standen allerlei nützliche Blumen und Kräuter. Anita war ein echtes Genie, was die Heilkünste der Natur anging, und Sigrid wusste die Mixturen effektiv einzusetzen.

Billy, Sigrids Mann, verstand sich auf das Fischen und er pflegte zwei Bienenstöcke. Die Bienen summten über das Blumenfeld und lieferten den Bewohnern eine willkommene Leckerei.

Ben, Kims Mann und werdender Vater einer, wie Maja hoffte, kleinen Tochter, war neben Jason und Chris der Tischler, Klempner und Instandhalter der Siedlung. Er kümmerte sich um praktisch alles und ging zusätzlich mit auf Jagd- und Beutezüge, wenn es sein musste. Aufgrund von Kims Schwangerschaft wurde in letzter Zeit aber darauf verzichtet, ihn zu solchen Ausflügen einzuladen.

Die Obstbäume wurden von allen Bewohnern gepflegt. Sie standen rund um die Siedlung verteilt und trugen bereits viele Knospen. Ein paar Blüten waren auch hier schon aufgesprungen, was wohl an den ungewöhnlich warmen Temperaturen lag. Zwischen den Bäumen und weiter in Richtung Waldrand wucherten allerlei Sträucher und Büsche, die schon bald voller Beeren hängen würden. Eine Vielzahl an Blütenknospen verhieß eine reiche Ernte.

Auf der Weide grasten zwei Kühe, es gab elf Hühner und einen Hahn, zwei Schafe und eine Ziege. Seit ein paar Wochen hatten sie wieder ein kleines Schwein. Wimpy und Dotty hatten im letzten Herbst leider geschlachtet werden müssen, um den Eiweißbedarf der Siedler zu decken. Zwar waren die Jagdausflüge durchaus ergiebig gewesen, aber eben nicht ausreichend. Auf Schweine konnte man am besten verzichten, da sie außer ihrem Fleisch keinen größeren Nutzen wie Eier, Milch oder Wolle brachten. Maja hatte es sehr leidgetan, die beiden zu verlieren, allerdings ehrten sie das Opfer der Tiere, indem sie alles, was diese hatten geben müssen, verwerteten und es einem sinnvollen Nutzen zuführten. Diese Einstellung, die alle Siedler teilten, war schon immer der einzige Grund gewesen, warum Maja das Jagen und Schlachten überhaupt erst erlernt hatte.

Kim hatte das kleine, mutterlose Schweinchen, das nun gemeinsam mit den Kühen und der Ziege im Stall wohnte, entdeckt, eingefangen und mitgenommen, als sie ihren vorerst letzten Streifzug durch die nahegelegenen Wälder unternommen hatte. Vermutlich war es, auf welchem Wege auch immer, aus dem LFA entkommen, wo massenhaft Tiere in erbärmlichen Käfigen und Ställen gehalten und gemästet wurden.

„Oh, guck mal“, hatte sie geflüstert und auf eine moosige Stelle zwischen zwei Büschen gedeutet. Das Schweinchen war ganz dreckig gewesen und Maja hatte es erst auf den zweiten Blick als Tier erkannt. Kim hatte sich vorsichtig angeschlichen und es von hinten gepackt. „Ich nenne es Pips“, hatte sie über das panische Quieken und Majas Lachen hinweg gerufen und über beide Ohren gestrahlt.

Ein paar Katzen und zwei Hunde hatten ebenfalls ihren Weg in die Obhut der Menschen gefunden. Allerdings lebten sie wild und frei, so wie die Menschen, die ihnen dann und wann die spärlichen Essensreste hinwarfen. Es ging ihnen allen gut hier in der Siedlung, in ihrer eigenen kleinen, unabhängigen Welt. Maja konnte im Allgemeinen die vielen Sorgen, die ihr Leben mit sich brachte, gut in Schach halten. Sie vertraute BJ und Mike, die an erster Stelle für die Sicherheit zuständig waren, blind.

Maja war nicht blauäugig. Sie wusste, dass sie niemals wirklich sicher sein würden, nicht solange die Machthaber im Zentrum herrschten und mit ihren immer neuen Technologien Jagd auf jene wenige machten, denen es gelungen war, zu entkommen. Aber sie wusste um BJs Talente im technischen und Mikes Vorzüge im taktischen Bereich. BJ war der erstaunlichste Junge, dem Maja jemals begegnet war. Er hatte bisher auf alle technischen Probleme eine Lösung gefunden und war dabei unheimlich erfinderisch. Mike kannte sich sehr gut mit den Steckern aus und er wusste mehr als jeder andere über das Netz, das Spionagesystem des Zentrums. Dank einiger erfolgreicher und verdammt gefährlicher Beutezüge in einem der technischen Versorgungslager und in der Vorstadt verfügten sie selbst über ein ansehnliches Sicherheitsnetzwerk und halbwegs moderne Abwehrtechnologien. Mit der freundlichen Unterstützung ihres Zentrums, dachte Maja ein wenig zynisch. Aber die Technik stammte schließlich von dort. Es handelte sich um deren ausrangierte Gerätschaften. Dank des großen Einfallsreichtums der Forscher und Erfinder in den Zentralen Entwicklungslaboren und des Drucks, den sie zweifellos seitens ihrer Herren bekamen, konnten die Siedlungsbewohner praktisch unaufspürbar und unbehelligt, wenn auch versteckt und ständig auf der Hut, leben.

Es freute Maja ungemein, dass sie ihre Feinde mit deren eigenen Waffen auf Abstand halten konnten. Was sie dagegen nicht freute, war die Tatsache, dass scheinbar niemand wirklich gegen das Zentrum kämpfte. Maja war selbst niemals dort gewesen, auch nicht in der Vorstadt. Sie wusste offen gestanden sehr wenig von der Welt außerhalb ihrer Siedlung und dem etwa acht Tagesmärsche umspannenden Radius darum herum. Aber sie fragte sich immer wieder, warum niemand zum Kampf aufrief, warum sie selbst nicht in der Lage waren, zu kämpfen und sich ihre Freiheit zurückzuerobern. Jason sagte immer, hier wären sie so frei, wie es in dieser Welt eben ging. Aber Maja glaubte das nicht. Sie glaubte daran, dass es ein besseres Leben für alle geben musste. Eine Welt, in der jeder selbst über sein eigenes Leben und den Weg, den er gehen wollte, bestimmen konnte.

Manchmal hatte sie mit Jason über dieses Thema gesprochen, doch er hatte ihr dann immer gesagt, dass es nicht möglich sei, die Macht des Zentrums zu brechen. Es gab schlicht nicht mehr genug freie Menschen, die hätten kämpfen können. Maja wusste, dass er Recht hatte. Bewies nicht die geringe Zahl der Menschen hier, dass es unmöglich war? Wie sollten Ameisen gegen ein Brennglas ankommen?

Maja registrierte wohl, dass ihre Gedanken nun langsam wieder in die negative Richtung abdrifteten und das hatte sie ja eigentlich vermeiden wollen. Sie richtete sich auf, stieß den Spaten in den Boden, sodass er stehen blieb, und wischte sich den Schweiß und ein paar Strähnen klebrigen Haares aus der Stirn. Die Unruhe, die wenigstens kurz eingedämmt gewesen war, meldete sich sofort zurück. Glücklicherweise erschien soeben Brina, gefolgt von ihrer etwas mürrisch dreinblickenden Teenie-Tochter Selina, um sich an der Arbeit auf dem Feld zu beteiligen. Maja versuchte, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen, und begrüßte die beiden, vielleicht einen kleinen Hauch zu enthusiastisch.

„Du bist ja schon ganz schön fleißig gewesen“, sagte Brina anerkennend, als sie Maja zur Begrüßung umarmte. Selina winkte nur kurz, hob die mitgebrachte Spitzhacke und ließ sie schwungvoll in die Erde sausen. Sie sah dabei absolut gelangweilt aus.

„Ja, ich dachte mir, je früher wir den Kohl in die Erde kriegen, desto besser. Schließlich haben wir nicht immer so gutes Wetter um die Jahreszeit.“ Das klang okay, wie Maja fand. Ihre Stimme hatte sie also wiederum im Griff. Sie empfand ein wenig Erleichterung bei dem Gedanken, dass ihre Stimme sie nicht im Stich gelassen hatte. Woher kam diese Erleichterung? War es denn schon einmal passiert, fragte sie sich, während sie und Brina ihre Arbeit aufnahmen, dass ihre Stimme versagt hatte? Nein, eigentlich nicht. Aber es hatte ja auch keinen Anlass dafür gegeben. Warum dachte sie überhaupt darüber nach? Das alles ergab keinen Sinn für Maja. Ihre ganze Gefühlslage hatte sich scheinbar gegen sie verschworen.

„Bist du irgendwie nervös, Maja?“, fragte Selina beiläufig, dennoch fühlte Maja sich ein wenig ertappt.

„Wie? Oh nein, ich bin nur in Gedanken. Der Aurentag, weißt du?“, sagte sie und klang zu ihrer erneuten Erleichterung dabei ganz ruhig. Selina lächelte einmal kurz, nickte und wandte sich wieder ihrer Spitzhacke zu. Sie war nicht argwöhnisch und wie ihre Mutter nicht besonders gesprächig. Daher störte sie Majas anhaltende Schweigsamkeit nicht im Geringsten.

In Majas Kopf herrschte dagegen alles andere als Stille. Ihre Gedanken wollten gar nicht mehr zur Ruhe kommen. War es etwa Nervosität, die zu dieser Unruhe geführt hatte? Aber worauf gründete diese Nervosität? Was war der Grund? Diese vielen Fragen, auf die sie keine Antworten kannte, ermüdeten sie und führten scheinbar ins Nichts.

Maja beschloss mit einem Kopfschütteln, das auch als das Verscheuchen einer Fliege hätte durchgehen können, dass sie nicht weiter darüber nachdenken würde. Sie zwang sich dazu, eines der alten Kinderlieder, die Anita ihr beigebracht hatte, laut im Kopf zu singen, und holte weit mit dem Spaten aus.

Die Erben des Lichtervolks

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