Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 11

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Spurensuche

Sechs Tage! Sechs verdammte Tage suchte Joe nun schon nach irgendeinem Lebenszeichen, nach Spuren von Zivilisation in diesem großen, menschenleeren Wald. Er schien sich unendlich über das hügelige Land zu ziehen. Und Joe wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er im Kreis herumlief. Auch wenn das eigentlich nicht sein konnte. Er war diesem merkwürdigen Drang gefolgt, den er seit Wochen, vielleicht schon seit Monaten, wahrgenommen hatte. Seine Mutter hatte es ihm nicht richtig erklären können, aber auf ihre Weise hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie darauf gewartet hatte und dass er dem Drang folgen sollte.

Also hatte Joe sich darauf eingelassen, hatte seinem Instinkt vertraut, der ihm gesagt hatte, dass seine Zukunft nicht in der Vorstadt lag, und damit angefangen, sich vorzubereiten. Er hatte natürlich nicht damit gerechnet, nach zwei oder auch drei Tagen am Ziel zu sein. Doch er hatte zumindest angenommen, dass er auf irgendwelche Hinweise stoßen würde, irgendetwas, das ihm signalisieren konnte, dass er auf der richtigen Fährte war. Aber er hatte nichts gefunden, das auf die Anwesenheit von Menschen, oder irgendeine Form der Zivilisation schließen ließ. Gestern Abend hatte er etwas getan, das er sonst niemals getan hätte. Normalerweise versuchte er sein Glück auf der Jagd und lief, solange seine Füße ihn trugen. Doch dieses eine Mal hatte er der Müdigkeit und der sinkenden Moral nachgegeben, drei Fallen aufgestellt und sich ein provisorisches Lager in einem Baum eingerichtet. Dort hatte er den größten Teil des Abends und die Nacht verbracht. Ihn hatte für ein paar Stunden der Mut verlassen und er hatte mit dem Gedanken gespielt, einfach umzukehren und sich seiner Strafe auszusetzen. Es war ein furchterregender Gedanke. Der Soldat in ihm hatte verlangt, dass er weiterlief und niemals aufgab. Doch er hatte sich nicht dazu aufraffen können weiterzugehen. Noch nie hatte er eine so weite Strecke ohne Transportmittel überwunden. Zwar war er noch nie geflogen, das war denen im großen Turm vorbehalten, aber die Transporter erreichten sehr hohe Geschwindigkeiten und waren verlässliche Fahrzeuge. Natürlich verfügte er über eine ausgezeichnete Kondition und war im optimalen Trainingszustand zu seiner Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Und der Drang war immer größer geworden, sein Ziel zu erreichen, doch sein Körper schaffte es kaum, den ungewohnten Nährstoffmangel zu verkraften. Dieses seltsame Gefühl, das er nicht beschreiben konnte, konnte ihm auch keine Richtung weisen. Es trieb ihn lediglich zur Eile an. Sein Hunger war einfach zu groß geworden und der Durst brannte ebenfalls stark in seiner Kehle. Seine knappen Vorräte, bestehend nur aus einer Flasche Wasser, etwas Trockenfleisch – dafür hatte Linc vermutlich sein Leben riskiert – und einer Packung Instasoup ohne einen definierbaren Geschmack, waren schon nach zwei Tagen aufgebraucht gewesen. Lediglich zwei Feuerkits hatte Joe stibitzen können und es war ihm seit zwei Tagen nicht mehr gelungen, ein richtiges Feuer in Gang zu bringen. Ein Jammer, dass Linc ihm nicht den Case hatte mitgeben können. Dann hätte er sich um solch profane Dinge wie Essen und Trinken keine Gedanken machen müssen. Seinen in den letzten Tagen immer stärker brennenden Durst hatte er notdürftig, und nur wenn es nicht anders ging, am Fluss gestillt. Ohne Feuer zum Abkochen des Wassers wollte er lieber kein Risiko eingehen. Eine Magenverstimmung konnte er sich beim besten Willen nicht erlauben, und davor hatten sie ihn schon früher in der Ausbildung immer wieder gewarnt. Linc hatte es ihm erst einen Tag vor der Flucht noch einmal eingeschärft: „In der Wildnis kein Wasser trinken, wenn du es nicht abkochen kannst. Vergiss das nicht.“ Er war der Einzige gewesen, dem Joe von seinem Vorhaben erzählt hatte. Der einzige Mensch, bei dem er sich sicher war, dass er ihm vertrauen konnte. Linc hatte zunächst versucht, ihn davon abzubringen, doch er kannte Joe gut genug, um zu wissen, dass die Entscheidung, die er einmal getroffen hatte, nicht rückgängig gemacht werden konnte.

Der Morgentau war nicht nur hübsch anzusehen sondern auch ein willkommener Flüssigkeitsspender. Joe neigte das Blatt eines kleinen Strauches ein wenig und setzte vorsichtig die Lippen an die Spitze. Man machte sich keine Vorstellung davon, wie dieses frische Wasser schmeckt. Es war das Beste, das Joe jemals getrunken hatte. Keinerlei Beigeschmack trübte den Genuss dieser Erfrischung. Doch es war viel zu wenig.

Joe war in einer erwartungsvollen und zugleich peinlich berührten Stimmung aufgewacht. Erwartungsvoll, weil der Drang erneut stärker geworden war. Heute spürte er ihn besonders intensiv, schon fast schmerzhaft brannte er in seinen Muskeln. Vielleicht würde er heute finden, wonach er suchte. Und peinlich berührt, ja, auch da wusste er, warum er so empfand. Er war mehr als nur froh darüber, dass Linc gerade nicht bei ihm war. Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass sein bester Freund einfach aufgegeben hatte.

„Du? Der Härteste unter der Sonne? Du gibst nicht auf. Das ist nicht Teil der Abmachung.“

Joe musste lächeln. Ja, so etwas oder etwas Ähnliches würde er wohl sagen. Er vermisste Linc jetzt schon. Den gnadenlosesten aller Ausbilder und den besten Freund, den man haben konnte. Ohne ihn wäre die Flucht niemals geglückt. Joe hoffte, dass er ihn eines Tages wiedersehen würde.

Nachdem er seinen Durst für wenigstens eine Stunde gestillt hatte, beschloss er, die Fallen aufzusuchen. Er hatte sie in den letzten hellen Stunden des Tages aufgestellt und sich dann seiner Trübsal ergeben. Noch immer nagte dieses Gefühl von Scham an ihm. Ja, er schämte sich dafür, nicht wenigstens die halbe Nacht weitergelaufen zu sein, so wie sonst auch. Eine nach der anderen suchte er seine Fallen auf, mit der Hoffnung, vielleicht bei einer davon Glück zu haben. Ursprünglich hatte er geplant, sich auf sein Jagdglück zu verlassen. Aber dass er kein Case bei sich hatte, bedeutete, dass er keine Waffen bei sich hatte, die er für die Jagd hätte einsetzen können. Er war geschickt genug gewesen, einen brauchbaren Speer aus einem Ast herzustellen. Mit Hilfe eines scharfkantigen Steins hatte er ihn am einen Ende gespalten, wodurch er kleinere Tiere und Fische hatte aufspießen können. Der Speer war schon vor drei Tagen zerbrochen und da er ja nun auch kein Feuer mehr hatte, war Joe die Arbeit, einen neuen Speer zu machen, den Zeitaufwand nicht wert gewesen. Der Drang, weiterzugehen und schnell an sein Ziel zu kommen, war einfach zu stark gewesen.

Er hatte es vor zwei Tagen geschafft, sich an ein Eichhörnchen heranzuschleichen und es mit den Händen zu fangen. Doch dann hatte er es nicht über sich gebracht, das kleine unschuldige Tier mit diesen befremdlich niedlichen Knopfaugen zu erschlagen. Er hatte es frei gelassen und Ausschau nach Ratten oder ähnlich widerlichen Tieren gehalten. Aber das Anschleichen war ihm zunehmend schwerer gefallen, weswegen er sein ungewöhnlich weiches Herz bitter bereut hatte. Vermutlich hatte er sich deswegen für die Fallen entschieden. Es war wirklich ein gravierender Unterschied, ob man seine Beute aus der Ferne oder Auge in Auge tötete. Er fragte sich, warum er sich darüber überhaupt Gedanken machte, schüttelte den Kopf und ging weiter.

Bei der ersten Falle war er noch nicht enttäuscht. Okay, dachte er, das heißt noch gar nichts. Sie hatte ausgelöst. Ein kleines Büschel filziger Haare hing noch an der Spitze des Holzspeeres. Vielleicht hatte die Wucht nicht ausgereicht, um das Tier, es war vermutlich ein Hase gewesen, ernsthaft zu verletzen, und es hatte entkommen können. Er hatte in den Trainings zwar immer passable Fallen zustande gebracht, aber da ging es ihm auch deutlich besser. In der nächsten wartete bestimmt ein Eichhörnchen für das Frühstück auf ihn.

Doch bei der zweiten Falle war das Glück ihm ebenso nicht treu. Auch diese hier hatte ausgelöst, allerdings war kein Anzeichen eines Tieres daran zu finden. Aller guten Dinge sind drei, sagte sich Joe, während sein Magen ein missgelauntes Grummeln vernehmen ließ. Bei diesem Geräusch blickte er sich aufmerksam um, denn es kam ihm unheimlich laut vor. Er hatte seinen Magen zu lange nicht mehr zur Ruhe bringen können. Es gab ein paar Knospen, die Joe kannte, und zwischendurch hatte er ein paar von ihnen abgeknabbert. Aber er wollte nicht zu viele essen, denn aus den Knospen sollten schließlich Blüten und Früchte entstehen. Außerdem würden die Tiere ihren Anteil verspeisen. Und er kannte sich nun wirklich nicht gut genug aus, um zu wissen, welche Pflanzen er essen konnte und welche eventuell giftig waren. Hätte er damals, im theoretischen Survivalunterricht, doch nur besser aufgepasst.

Bei dem kleinen Abhang angekommen, der zu der letzten Falle führte, merkte er, dass seine Kräfte ihn schon verließen. Es fiel ihm schwer, wie er es gelernt hatte, leise und vorsichtig über das Laub zu gehen. Wenn er in Form war, konnte er sich beinahe lautlos bewegen. Auch das gehörte zu der Ausbildung des Soldaten. Natürlich war die Uniform, die er jetzt schmerzlich vermisste, dabei sehr hilfreich. Aber in der Ausbildung hatten sie die Hightech-Ausrüstung nicht benutzen dürfen, weswegen er es auch ohne die Tarnkleidung beherrschte. Zu schade, dass es für ihn den sicheren Tod bedeuten würde, hätte er seine Uniform jetzt getragen. Diese Mission wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, sobald er sein Ziel erreicht hätte.

Ob er es jemals erreichte? Gab es sein Ziel überhaupt? Wirre Fragen und Gedanken blitzten ihm durch den Kopf und verbesserten die Funktionen seiner angegriffenen Sinne nicht. So stolperte er nun mehr oder weniger den kleinen Abhang hinunter und rutschte beinahe auf dem noch feuchten Laub aus. Bitte lass eine vernünftige Mahlzeit in dieser Falle hocken, flehte er innerlich und hatte einige Mühe, die körperlichen Anzeichen des Hungers zu kompensieren. Er war nun einmal drei ausreichend kalorienhaltige Mahlzeiten am Tag gewohnt. Die Kost war nicht besonders abwechslungsreich, aber durchaus genießbar und nahrhaft. Joe hätte sich nie träumen lassen, dass er mal echt Lust auf den Vollkostbrei hätte, den er und seine Kameraden immer als Powerschleim bezeichneten. Das gräuliche und leicht pappig schmeckende Zeug lieferte tatsächlich eine Menge Energie. Joe verstand nicht, warum man nicht wenigstens mal versuchte, ein wenig Geschmack an die Pampe zu bringen. Aber vermutlich sollte den Soldaten zu jeder Zeit ihr Platz in der Rangordnung bewusst sein. Joe ermahnte sich selbst zu mehr Disziplin und schaffte es, die letzten Schritte soldatenhaft leise zu gehen. Dann hockte er sich in das nächste Gebüsch, wohl wissend, dass er hier vor ungewollten Blicken gut verborgen war. Er war der Beste seines Jahrgangs gewesen. Und in seiner Einheit war er zweiter Kommandant … nun ja, das war er zumindest gewesen. Das musste doch etwas heißen. Ihm war natürlich bewusst, dass er rein körperlich gesehen niemals in einem derart miserablen Zustand gewesen war, doch er hatte hohe Ansprüche an sich selbst. Er schaffte es, seine Sinne erneut in Alarmbereitschaft zu bringen, indem er für einen Moment die Augen schloss und einige Male tief ein- und ausatmete. Dabei fragte er sich unwillkürlich, wofür er diese ganze Prozedur eigentlich auf sich nahm und ob er wohl das Richtige tat.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Joe die Fragen und beschloss, seine volle Aufmerksamkeit der wartenden Falle zu widmen. Er konnte die Stelle schon sehen und ein wachsamer Rundumblick versicherte ihm, dass er noch unentdeckt geblieben war. Dennoch widerstrebte es ihm sehr, seine Augen vom moosigen Wald abzuwenden, die zwei Meter zu der Falle zu huschen und seine letzte Hoffnung auf ein Frühstück erneut schwinden zu sehen. Die Falle war, wer hätte es gedacht, ausgelöst und leer. Deutliche Spuren eines Tieres, das sich mit Sicherheit nicht von allein hatte befreien können, hafteten daran. Ein ganzes Büschel blutigen Fells und Schleifspuren. Da hatte sich ein anderes Raubtier einen saftigen Bissen geholt. Und dann verlor der Soldat in ihm doch kurz mal die Kontrolle. Joe stöhnte laut und enttäuscht, richtete sich sprunghaft auf und trat gegen einen dicken Stein, der neben diesem dämlichen Fellbüschel lag. Der Stein rutschte durch den Tritt ein kleines Stück und machte dabei ein fieses kratzendes Geräusch, ganz zu schweigen von dem dumpfen Aufprall des schweren Stiefels und des nicht zu unterdrückenden Schmerzenslauts, den Joe ausstieß.

Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?, verfluchte er sich selbst und hockte sich in den Wurzelschatten der umgefallenen Fichte. Die Falle und den Stein im Rücken, presste er sich den Mund zu. Er ließ seinen Blick wachsam über das Unterholz, die Büsche und Bäume wandern. Seine Ohren waren gespitzt und er wartete mit angehaltenem Atem und einer gehörigen Portion Wut auf sich selbst, dass er so dermaßen die Deckung hatte fahren lassen, auf irgendein Zeichen von ungebetenen Gästen in der Nähe. Da hätte er auch gleich lauthals brüllend und hektisch winkend durch den Wald rennen können: „Hallo! Ihr da! Hier bin ich!“ Dämlicher Idiot! Hätte es nicht ebenfalls ungewollte Geräusche erzeugt, hätte er sich selbst ein paar saftige Ohrfeigen verpasst. Etwa eine Minute lang blieb er in seiner Lauerstellung und beobachtete mit geschärften Sinnen seine Umgebung. Alles blieb ruhig. Es gab keine ungewöhnlichen Geräusche, nichts das auf die Anwesenheit von Menschen oder sonstigen Feinden schließen ließ. Es war an der Zeit, sich zu beruhigen, und eine weitere Minute später hatte Joe sich dann wieder in der Gewalt.

Er beschloss, sich noch einen Augenblick hier aufzuhalten und einen Plan für sein weiteres Vorgehen zu machen. Lange konnte er diese ausufernde Wanderung nicht mehr durchziehen. Wenn er nicht bald eine vernünftige Mahlzeit bekam … er konnte sich nichts vormachen – er würde keinen weiteren Tag überstehen. Er drehte sich noch einmal zu der Falle um und dachte finster, dass er einfach zuerst bei dieser Falle hätte nachsehen sollen. Früher am Morgen hätte er bestimmt noch Beute gemacht. Frustriert raufte er sich die kurzen schwarzen Haare und sein Magen gab ein erneutes lautes Grummeln von sich. Dann traf ihn etwas sehr hartes und schweres am Hinterkopf und er dachte an nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, lag er an Händen und Füßen gefesselt seitlich auf dem klammen Waldboden. Er spürte den Staub auf seinen Lippen, ein spitzer Stein bohrte sich zwischen zwei seiner Rippen und ihm war ein wenig schwindelig. Sein Schädel dröhnte wie nie zuvor in seinem Leben und er wusste, dass er stark blutete. Oder geblutet hatte. Er konnte sich nicht bewegen und nichts sehen, was aber wohl nicht an seinen Augen lag. An den Wimpern und auf der Haut spürte er den rauen Stoff einer Augenbinde. Sie saß ziemlich stramm um den Kopf, was ihn vermuten ließ, dass man sie mit einem Druckverband für seine Kopfwunde verbunden hatte. Von dem Stoff waren auch seine Ohren verdeckt. Aber er trug keinen Sack über dem Kopf, da war er sich sicher. Er konnte halbwegs frei die angenehm warme Luft einatmen. Seine Schultern protestierten gegen ihre nach hinten gedrehte Haltung und die ungünstige Liegeposition. Die Fesseln an seinen Handgelenken saßen straff, jedoch schienen sie nicht in die Haut einzuschneiden. Joe gab keinen Laut von sich und versuchte durch den Stoff auf seinen Ohren etwas zu hören. Und tatsächlich konnte er leises Gemurmel mehrerer Stimmen ausmachen. Was sie da sagten, konnte Joe nicht verstehen, doch er hörte heraus, dass sie sich stritten. Das hieß wahrscheinlich, dass sie sich nicht sicher waren, was sie mit ihm anfangen sollten. Womöglich waren dies seine letzten Augenblicke. Aber Joe würde nicht kampflos aufgeben. Wenn sie ihn töten wollten, würde er sich mit aller Kraft, die ihm noch verblieb, wehren. Wie auch immer er das anstellen würde. Er konnte vielleicht beißen oder spucken. Nein, spucken ging nicht, dafür war sein Mund zu trocken.

Schritte näherten sich und Joe wurde grob auf den Rücken gedreht, die Beine immer noch seitlich abgewinkelt, sodass er ins helle Sonnenlicht geblickt hätte, wären seine Augen nicht verbunden gewesen. Der Stein bohrte sich noch ein wenig tiefer in seine Haut und er musste sich schwer zusammenreißen, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben. Der Stoff der Kopfbinde wurde über einem Ohr hochgezogen, sodass Joe die Stimme des Mannes, der ihn ansprach, deutlich hören konnte. Er versuchte angestrengt, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei Bewusstsein war.

„Bist du wach, Bürschchen?“

Er klang nicht wie ein junger Mann, aber auch nicht besonders alt. Wahrscheinlich in den späten Vierzigern. Joe antwortete nicht. Nicht einmal, als der Mann ihn leicht schüttelte, sanfter als erwartet. Jetzt musste Joe einen Seufzer der Erleichterung unterdrücken, denn der Stein kullerte durch die Bewegung unter seinen Rippen weg. Und irgendetwas sagte ihm, dass sie ihn vielleicht nicht einfach so umbringen würden.

„Scheint zu schlafen. Aber er lebt noch. Du hättest ihn wirklich nicht gleich k.o. schlagen sollen, Chris.“

Der Mann ließ Joes Schulter los und entfernte sich, während eine andere Stimme, deutlich jünger und rauer, in genervtem Tonfall antwortete.

„Ich hab dir doch gesagt, ich hab ’nen Trupp von diesen Wichsern nach einem ihrer Soldaten suchen sehen“, sagte der Mann namens Chris. „Die wollten ihn unbedingt finden. Und der Typ da ist kein einfacher Arbeiter. Du hast selbst gesehen, wie er sich bewegt hat, Dad. Du hast die Fallen gesehen. Ich sag dir, mit dem stimmt was nicht.“

Verdammt, dachte Joe, das bedeutete, dass ihnen seine Abwesenheit aufgefallen war. Sie machten bereits Jagd auf ihn und sie hatten ihre Methoden, einen Soldaten, der fliehen wollte, aufzuspüren. Zwar hatte Joe zur Sicherheit die einfache, in dunklem Grün und Braun eingefärbte Kleidung der Waldarbeiter angezogen und sich weitgehend von seinen technischen Spielereien des Zentrums getrennt; andernfalls wäre er niemals tagelang ziellos durch die Gegend geirrt. Doch er wusste nicht, inwieweit sie dennoch Möglichkeiten hatten, ihn zu orten. Sie besaßen schließlich auch seine DNA. Und dann fiel ihm Linc ein. Ob es ihm gut ging? Ob sie herausgefunden hatten, dass er ihm bei seiner Flucht geholfen hatte? Wenn ja, dann wäre das mit Sicherheit sein Todesurteil. Womöglich folterten sie ihn in diesem Augenblick. Doch Joe konnte sich darauf gerade nicht einlassen. Er würde sich später mit Lincs ungewissem Schicksal auseinandersetzen müssen. Jetzt hatte er andere Sorgen. Es galt herauszufinden, wie ernst seine Lage war und ob es eine Möglichkeit gab, wieder aus ihr herauszukommen.

„Du hast wahrscheinlich Recht, Chris, aber er trägt ganz normale Arbeiterkleidung und hat auch sonst nichts von einem Soldaten dabei. Nicht mal ein Case“, sagte der ältere der beiden Männer, die Joe bisher gehört hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass da noch mehr Männer waren. Mindestens noch einen weiteren konnte er wahrnehmen. Und tatsächlich meldete sich jemand zu Wort, dessen Alter Joe beim besten Willen nicht bestimmen konnte.

„Es könnte Absicht sein, dass er nur so notdürftig ausgerüstet ist“, sagte er ruhig, allerdings hörte Joe, dass er sich Gedanken machte.

„Du meinst, er könnte ein Spion sein?“, fragte Chris, doch es klang eigentlich nicht wie eine ernstgemeinte Frage, eher wie eine Feststellung.

„Na ja, vielleicht schon“, überlegte der alterslose Mann. „Er könnte durch die fehlende Ausrüstung von seiner eigentlichen Absicht ablenken wollen. Aber warum sollte er das tun? Was für einen Grund gäbe es, einen Spion hier raus in den Wald zu schicken? Und dann auch noch allein. Wer sich hier nicht auskennt, ist verloren, das weißt du genauso gut wie ich.“

Ja, diese Erfahrung hatte Joe bereits gemacht. Er war schließlich gerade kurz davor gewesen, in Verzweiflung auszubrechen. Dass er es jetzt nicht tat, lag einzig und allein an seiner erstklassigen Ausbildung. Wobei er sich heute wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Er musste unachtsam gewesen sein, denn offensichtlich hatten ihn diese Typen eine Weile beobachtet, bevor sie ihn sich gekrallt hatten. Und dann hatten sie wahrscheinlich in aller Ruhe seinen Rucksack durchsucht und festgestellt, dass er keinerlei wertvolle oder wirklich nützliche Dinge enthielt. Joe hoffte inständig, dass sie zu dem Schluss kamen, er wäre nur ein harmloser Arbeiter, der sein Glück in der Wildnis gesucht hatte und der angesichts seiner prekären Lage nun zum Scheitern verdammt war.

„Du hast Recht, Mike, er war offensichtlich beinahe verloren. Aber hätten wir seine Falle heute Morgen nicht aufgespürt, hätte er nun einen fetten, kleinen Hasen zum Mittagessen gehabt.“ Chris’ Tonfall ließ vermuten, dass ihm der Gedanke nicht gefallen hatte, Joe wieder bei Kräften zu begegnen. Joe hingegen versuchte die Nachricht, dass er tatsächlich einen Hasen gefangen hatte, geflissentlich zu überhören. Sie machte seinen Hunger nicht unbedingt erträglicher.

„Ich denke, wir sollten ihn mitnehmen und Jason fragen, was wir mit ihm machen sollen“, meldete sich da zu Joes Überraschung eine vierte, sehr junge Stimme zu Wort. Joe hatte nicht damit gerechnet, dass da noch jemand war. Er hatte nichts dergleichen wahrgenommen. Aber er war schließlich auch nicht ganz Herr seiner Sinne. Nicht drüber nachdenken, ermahnte er sich selbst. Diese Situation war so schon peinlich genug. Joe fand den Gedanken, schwach zu sein, immer schon abstoßend und unangenehm. Nun tatsächlich schwach zu sein, das hielt er kaum aus. Sein Kopf pochte und es klingelte immer wieder in seinen Ohren. Seine verkrampfte Körperhaltung führte ebenfalls nicht gerade dazu, dass die Schmerzen seine Sinne weniger benebelten.

„Ihn mitnehmen? Ich weiß nicht, Kurzer. Das könnte uns alle in ernsthafte Gefahr bringen.“ Chris’ Stimme hatte bei dieser Antwort einen sanfteren, versöhnlichen Ton angenommen.

„Aber vielleicht braucht er auch einfach unsere Hilfe. Wie weit waren die Soldaten weg, die du beobachten konntest?“, fragte der Kurze, wie Chris ihn genannt hatte. Und tatsächlich konnte Joe nicht anders, als zu vermuten, dass er es hier noch mit einem Jungen zu tun hatte. Die Stimme konnte jedoch täuschen. Von dem Jungen gingen durchaus erwachsene Schwingungen aus. Joe hatte schon immer ein Gespür für seine Mitmenschen besessen. Er wunderte sich jedoch über die relative Klarheit, mit der er nun, da er ihn bemerkt hatte, diesen jungen Mann wahrnehmen konnte. Er freute sich auch darüber, weil es ihm in seinen eigenen Augen, und wohl nur darin, ein wenig Würde zurückgab.

„Sie waren etwa vier Tagesmärsche von hier entfernt, vor drei Tagen“, erklärte Chris nun. „Das heißt, entweder sie sind in der falschen Richtung nach ihm auf der Suche, oder aber sie sind bereits ganz in der Nähe.“ Er verstummte. Wahrscheinlich schaute er sich nun wachsam um.

„Es nützt also gar nichts, wenn wir hier unsere Zeit verschwenden und rumstehen“, sagte Chris’ Vater – noch so ein Umstand, mit dem Joe sich später würde befassen müssen – mit der ruhigen, sanfteren Stimme. „Wir nehmen ihn, so wie er jetzt ist, mit und entscheiden dann gemeinsam mit Jason und Janosh, was mit ihm geschehen soll. Ich schätze mal, es wäre nur fair, mit einem Urteil zu warten, bis er sich selbst dazu äußern kann.“

Chris schien sich mit dieser Entscheidung nicht wohl zu fühlen und murmelte noch etwas davon, dass man den manipulierten Sklaven aus dem Zentrum doch eh niemals auch nur ein Wort glauben könne. Joe bemühte sich, seine Augenbrauen nicht zusammenzuziehen. Er war sich nicht sicher, ob sein Kopfschmuck sie ausreichend verdeckte. Was meinte Chris damit? Seine seltsamen Worte gingen in der allgemeinen Aufbruchsstimmung und dem Geraschel der Rucksäcke unter und niemand ging näher darauf ein. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann wurde Joe auf zwei starke, breite Schultern gehoben und es gab für ihn kein Entkommen mehr.

Den Mann, der Joe trug, schien sein Gewicht nicht im Mindesten zu stören. Mit großen und dafür erstaunlich leisen und ruhigen Schritten ging er über den laubbedeckten, moosigen Waldboden. Er wich den hochstehenden Wurzeln und umherliegenden Steinen so geschickt aus, dass Joe vermutete, er sei ein Jäger, der den größten Teil seines Lebens in diesen Wäldern verbracht hatte. Beinahe anmutig kamen ihm die Bewegungen des Mannes vor. Über diesen Schultern zu hängen, war nicht so unangenehm, wie auf dem harten Boden zu liegen. Und so ergab Joe sich dann doch dem Schmerz und schloss unter dem dunklen Stoff die Augen. Zu seiner großen Erleichterung hielten seine Gedanken in ihrem ständigen Herumkreisen inne und eine merkwürdige Ruhe durchflutete ihn jetzt. Er spürte, dass er nicht in unmittelbarer Gefahr schwebte, und da war noch etwas anderes … etwas Gutes … Joe schaffte es nicht mehr, zu ergründen, was es war. Es dauerte nur eine Sekunde, da war er eingeschlafen.

Die Erben des Lichtervolks

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