Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 19
ОглавлениеEntscheidungen
Joe lag immer noch mit dem Gesicht nach unten auf dem erdigen Boden. Das Gefühlschaos der letzten Stunden, er konnte die Zeit inzwischen beim besten Willen nicht mehr einschätzen, hatte zu einer Art Schutzstarre geführt. Er lag einfach dort und wartete darauf, dass sein Leben zu Ende gehen würde. Hin und wieder fragte er sich beiläufig, ob es wohl wehtun würde oder ob es schnell gehen würde. Bestimmt würde es nicht wehtun. Er hatte schon so starke Schmerzen, da kam es wahrscheinlich auf eine weitere Verletzung auch nicht mehr an. Interessanterweise nahm er die Schmerzen inzwischen kaum noch als solche wahr. Sie schienen ein Teil seiner selbst geworden zu sein. Vielleicht war das eben so, wenn der Tod bevorstand und man die letzten kostbaren Augenblicke im Leben an einer Hand abzählen konnte. Schade, dass er so müde war. Er war jetzt ständig müde, konnte kaum die Augen offen halten. Aber warum auch? Wenn er sie schloss, hatte er zumindest die Bilder in seinem Kopf. Seine Erinnerungen an bessere Zeiten. Als er satt und gesund war und gemeinsam mit Linc die Gegend erkundete. Linc … wie es ihm jetzt wohl ging? Irgendwie spürte Joe, dass sein Mentor nicht tot war. Das beruhigte ihn ein wenig und seine Gedanken glitten zu seiner Mutter, die jetzt vermutlich alleine in dem sterilen, kleinen Zimmer saß und wie immer eines ihrer wirren Bilder malte. Ihre Bilder waren immer sehr bunt … so wunderschön …
Er musste eingeschlafen sein. Als er erwachte, wurde er gerade von zwei Paar Armen unter die Achseln gestützt ins Freie geschleppt. Joe hatte nicht die Kraft, sich hilfreich an dem kurzen Gang wohin auch immer zu beteiligen, seine Beine wollten ihn nicht tragen. Nur ganz am Rande seines getrübten Bewusstseins fragte er sich, wo man ihn wohl hinbrachte. Wirre und finstere Überlegungen begannen, sich in seinem Kopf zusammenzuspinnen. Vielleicht dachten sie ja, es würde sich nicht mehr lohnen, ihn umzubringen, weil er ohnehin schon so gut wie tot war. Also brachten sie ihn jetzt bestimmt in den Wald, wo er dann einfach sterben konnte. Und alle wären außer Gefahr. Der Gedanke war nicht sehr angenehm. Joe bevorzugte inzwischen eindeutig einen schnellen Tod, keinen langsamen und qualvollen. An Qualen hatte es schließlich in letzter Zeit nicht gemangelt, also sollte man ihm doch wenigstens einen schnellen Abgang gönnen.
Schließlich setzte man Joe unter freiem Himmel auf einen harten Stuhl mit breiten Armlehnen. Er ließ den Kopf hängen, während man seine Arme und Beine an dem Stuhl festband. Die Mühe könnt ihr euch sparen, dachte er matt. Diesmal musste er nicht so tun, als ob er schwach wäre. Er war tatsächlich kaum im Stande, den Kopf zu heben, also ließ er es lieber gleich bleiben. Das bisschen Kraft, das er noch hatte, wollte er sich bewahren. Wofür, das wusste er auch nicht. Sein Instinkt, in seiner Fantasie eine ältere, biedere Ausgabe von ihm selbst, schaute Joe ratlos an und sein Körper hatte inzwischen keine Meinung mehr, er hatte auf taub gestellt. Gab es überhaupt einen Grund, weiterzukämpfen? Weiterzuleben? Joe wusste es nicht mehr. Da war nichts mehr in ihm.
Doch … da gab es noch etwas. Ihre Anwesenheit, die Joe mit einem Mal deutlich spürte. Sie war ganz in seiner Nähe, Maja.
„Hallo zusammen“, sagte Jason mit ruhiger Stimme. „Es ist Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen. Wie ihr euch sicher denken könnt, bin ich nicht damit einverstanden, ein voreiliges Todesurteil über unseren Gefangenen zu fällen. Mir ist bewusst, dass er eine ernste Bedrohung für unseren Frieden und vielleicht sogar für unser aller Leben darstellt. Daran gibt es nichts zu deuten. Wir konnten es bei seinem Scan deutlich erkennen, als sein Zwölfer ihn zum Angriff auf uns zwang.“
Die Worte kamen zwar irgendwie leicht verzögert in Joes Gehirn an, aber sie kamen an. Er hatte Jason angegriffen? Wie war das möglich gewesen? Bevor das Gemurmel der Versammelten zu laut werden konnte, fuhr der Anführer mit seiner Ansprache fort.
„Die meisten von euch haben ihn vorhin gehört, als er gerufen hat, dass er nicht will, dass wir sterben. Maja hat ihm das geglaubt … und ich weiß, dass es einigen von euch auch so ging. Der Gefangene hat mir außerdem erzählt, dass er nur in Freiheit leben möchte, genau wie wir. Und dass er von niemandem geschickt worden sei.“ Er machte eine kurze Pause. Wahrscheinlich blickte er einmal in die Runde, um die Reaktionen auf seine Worte aufzunehmen. „Ich konnte keine Lüge in seinen Worten feststellen, als er mir das gestern Abend erzählte.“ Eine weitere Pause. Seine Stimme hatte nachdenklich geklungen. „Ich weiß auch“, fuhr er schließlich in nun verständnisvollem und versöhnlichem Ton fort, „dass ihr alle Angst habt, genau wie ich. Und das ihr, die ihr seinen Tod gefordert habt, dies nicht leichtfertig getan habt … aber ich sehe das Leid in den Augen meiner Tochter. Und es ist mein eigenes Leid. Keinem von uns sollte eine solche Aufgabe zuteilwerden. Und eben weil Maja diesen Gedanken genauso wenig ertragen konnte wie ich, hat sie BJ gefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, dem Gefangenen sein Leben und uns die Freiheit zu sichern. Und BJ hat ihr gesagt, dass es vielleicht einen Weg gibt. Nämlich eine Operation. Bei dem Versuch könnte der Gefangene ebenso sterben, als wenn wir ihn einfach direkt umbrächten. Aber er hätte zumindest die theoretische Chance, am Leben zu bleiben und uns seine guten Absichten gefahrlos unter Beweis zu stellen. Was sagt ihr dazu?“
Joe spürte, dass Majas Blick auf ihm ruhte, als Jason seine Rede an die Gemeinschaft beendete. Sie hatte ihm geglaubt, das hatte ihn am meisten gefreut, wobei er nicht dazu fähig war, diese Freude nach außen hin zu zeigen. Er hatte einige Mühe, das, was er gerade gehört hatte, zu verstehen. Hatten sie wirklich sein Überleben zur Debatte gestellt? Konnte das tatsächlich möglich sein? Ein winziger Funke der Hoffnung regte sich in ihm.
„Wir sollten abstimmen“, rief der alte Mann, den Joe sofort bewundert hatte, als er seine Stimme zum ersten Mal gehört hatte. Zustimmendes Gemurmel war zu hören, dann ergriff erneut Jason das Wort.
„Also gut, wer dafür ist, dass wir es mit BJs Methode versuchen, der hebt bitte die Hand“, rief er laut, dann herrschte Stille. Joe konnte die Spannung kaum mehr ertragen. Warum sagte Jason nichts?
„Danke“, sagte er endlich, deutlich ermattet und verhärmt.
Joe versuchte herauszufinden, ob etwas hinter dem leise und ruhig ausgesprochenen Wort steckte, irgendeine Bedeutung. Aber dann, ohne eine Vorwarnung, wurde seine Welt erneut schwarz.