Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 17
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Mit Schmerzen im gesamten Körper und der schlechtesten aller Launen im unendlich weiten Universum war Joe aufgewacht. Er war im Schlaf zur Seite gekippt, hatte dabei den Wasserbecher umgestoßen und erst die kalte Feuchtigkeit an seinem Bein hatte ihn geweckt. Es war ganz still und sehr dunkel, registrierte Joe nun, da der Keller offenbar nicht mehr erleuchtet war. Vielleicht war die Fackel zwischenzeitlich erloschen. Er dachte doch, dass er Feuer gerochen hatte.
Mit dem Erwachen kamen neben den durch seine Verletzung verursachten Schmerzen auch der Hunger und das Brennen in seiner Kehle zurück. Die winzige Ration, die er vor Stunden zu sich genommen hatte, reichte natürlich nicht aus, um das Defizit mehrerer Tage auszugleichen. Bei der Erinnerung an die Frau mit den weichen Händen wurde ihm warm. Doch der Drang hin zu ihr war gemeinsam mit Joe ebenfalls wiedererwacht, und es frustrierte ihn mehr denn je, dass er gerade nichts an seiner unglücklichen Lage, auch im wörtlichen Sinne, ändern konnte. Gefesselt und blind wartete er auf das, was kommen mochte. Und er wartete, und wartete.
Joes Augen hatten sich schnell mit der Tatsache abgefunden, eines Großteils ihrer Funktion beraubt worden zu sein, und verlegten sich nun darauf, in hell und dunkel zu unterscheiden. Sein freies Ohr schien ebenfalls erpicht darauf, das Defizit des anderen Ohrs auszugleichen. Dadurch bekam Joe mit, dass es langsam wohl Morgen wurde, denn er hörte Vögel zwitschern, und Hoffnung keimte in ihm auf. Lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis Jason zu ihm zurückkam. Was immer ihn dann erwartete, es würde hoffentlich mit Bewegung zu tun haben. Joe war es als Soldat nicht gewohnt, länger als fünf Stunden an einem Stück zu liegen. Und im Allgemeinen bewegte er sich auch im Schlaf immer recht viel, was an den zerwühlten Laken jeden Morgen deutlich zu erkennen gewesen war. Dieses stundenlange reglose Ausharren würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Mit jedem bisschen mehr Licht, das Joe wahrnahm, schwand ein kleiner Teil der Hoffnung, die bis vor kurzem für ein wenig Linderung seiner inneren und äußeren Qualen gesorgt hatte. Sein Körper fing schon damit an, ihn um Erlösung anzuflehen, und Joe war sich sicher, er würde nie wieder die Sonne sehen.
Da endlich ging die Tür auf und er hörte Schritte. Der Mann mit dem undefinierbaren Alter, Mike, wenn Joe sich recht erinnerte, sagte, er würde oben warten. Zwei Personen betraten den Keller. Da war also eine Treppe. Das hatte Joe bisher nicht wahrgenommen. Er musste doch schläfriger gewesen sein, als er gedacht hatte, als sie ihn gestern hier hereingebracht hatten.
„Na endlich, ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen.“ Diesmal erschrak Joe nicht über den Klang seiner kratzigen, leicht rostigen Stimme.
„Keineswegs“, sagte der Anführer kurz angebunden, dann hörte Joe Leder, das hauchzart knirschte, als Jason in die Hocke ging. „Wir werden dich einem ausführlichen Scan unterziehen. Um sicherzugehen, dass es währenddessen nicht zu einem Datenaustausch kommt, werden wir dein Gesicht einfrieren. Verstehst du, was ich damit meine?“
„Facelock, schon klar. Macht schnell, bitte. Ich will mich wirklich nicht beklagen, aber langsam wird es hier drin ein wenig ungemütlich.“
Joe wusste nicht, woher er die Energie nahm, in dieser Situation noch zu scherzen. Es musste wohl an der Hoffnungslosigkeit liegen, die trotz Jasons Erscheinen nicht von der Stelle gewichen war. Er hatte gehofft, die Frau würde vielleicht mitkommen.
„Na, allzu schlecht scheint es dir ja nicht zu gehen“, knurrte Jason. Da unterdrückte Joe ein ironisches Auflachen. Das ging entschieden zu weit.
An die zweite Person im Raum gewandt, fuhr Jason nun fort: „Fang an. Je schneller wir es wissen, desto schneller können wir entscheiden.“
„Bitte die Augen weit öffnen“, sagte da, dicht vor Joes Gesicht, eine ziemlich junge und noch nicht fertig entfaltete männliche Stimme. Joe tat, wie ihm geheißen, obwohl er sich noch fragte, ob das Facelock durch den Stoff überhaupt richtig funktionierte. Dann wurde alles schwarz.
Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen sein mochte, während er in diesem seltsamen leeren Raum gewesen war. Da war einfach nichts. Ob es sich wohl so ähnlich anfühlte, tot zu sein? Die Schwärze blieb, doch er konnte nun wieder hören. Das Facelock war noch aktiv, aber da der Junge sich entfernt hatte, bekam Joe einen Teil seiner Sinne zurück. Er spürte wieder die angenehm kühle Luft auf seiner verschwitzten Stirn.
Er hörte Schritte, die sich entfernten. Dann Stimmen, die sich leise und gespannt vor der Tür unterhielten. Joe konnte nicht verstehen, was sie sagten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ganz bestimmt nicht.
„Hallo?“, rief er. Doch es kam immer noch nicht die gewohnte, durchdringende Stimme, an die Joe eigentlich gewohnt war. Er war sich aber sicher, dass er laut genug gewesen war, damit ihn die Männer da draußen hören konnten. Mit beiden Händen tastete er den Verband an seinem Kopf ab, da erst bemerkte er, dass er sie bewegen konnte. Seine Hände waren frei, seine Beine waren allerdings nach wie vor gefesselt, das konnte er fühlen. Man hatte ihm auch die Augenbinde abgenommen, warum nur? Und warum sagte ihm eigentlich niemand, was los war?
„Hallo?“, rief er noch einmal, während er damit kämpfte, sich mühsam auf die Füße zu stemmen. Er schaffte es, versuchte einen kleinen Schritt nach vorne zu machen und knallte mit voller Wucht mit der Nase zuerst auf den harten Lehmboden. Seine Hände waren nicht schnell genug in ihrer Position, um den Sturz abzufedern. Offenbar hatte man seine Kniefesseln mit einem Seil an der Wand befestigt, was soeben dazu geführt hatte, dass es ihm ruckartig die Beine nach hinten weggerissen hatte. Tränen schossen Joe in die Augen und der Schmerz hinterließ blitzende Lichter an den Rändern seines noch sehr dunklen Blickfeldes. Kurz kämpfte er mit der Ohnmacht, aber er schaffte es unter der Aufbietung all seiner Willenskraft, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Jetzt wach zu bleiben war entscheidend. Die Lichter verschwanden und Joe konnte nun wieder etwas sehen. Scheinbar hatte das Facelock endgültig seine Wirkung verloren. An seinen eingeschränkten Sinnen änderte das nun jedoch auch nichts mehr.
Er drehte den Kopf, sah die Silhouetten zweier Köpfe schemenhaft, durch das blendende Sonnenlicht verzerrt. Die Tränen schränkten seine Sicht zusätzlich ein und wurden durch das grelle Leuchten nicht weniger. Mehr Stimmen kamen nun zu den diskutierenden hinzu.
Benebelt von seinem kleinen Unfall war Joe nicht in der Lage, irgendetwas von dem zu verstehen, was nun deutlich lauter als zuvor vor der Tür besprochen wurde. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Aufmerksamkeit von seiner pochenden Nase und dem metallischen, salzigen Geschmack des Blutes in seinem Mund auf die wütend klingenden Menschen da draußen zu lenken. Sie waren dabei, über sein Schicksal zu entscheiden.
„… kein Risiko eingehen. Ich sage, er muss sterben.“ Eine Frau hatte das gesagt, sie klang ernst und entschlossen. Joe bemerkte, dass seine Hände schmerzhaft kribbelten und pieksten, als ob sie eben erst wieder aufgewacht wären. Er schaute sich seine Handgelenke an und stellte fest, dass die Fesseln tiefe, blutige Einschnitte hinterlassen hatten. Es wunderte ihn, denn er hatte nicht das Gefühl gehabt, die Seile wären zu fest gebunden gewesen.
„Seit wann sind wir mit einem Todesurteil so schnell bei der Sache? Ich denke, er sollte sich zumindest äußern dürfen.“ Das war die mit Abstand älteste Stimme, die Joe jemals vernommen hatte. Unglaublich alt sogar. In der Vorstadt wurden die Menschen oft nicht älter als sechzig. Wenn es doch mal jemand schaffte, die magische Grenze um mehr als ein oder zwei Jahre zu überschreiten, dann bewunderte man ihn für sein Durchhaltevermögen. Dieser Mann musste älter als sechzig Jahre sein.
„Der Meinung bin ich auch.“ Diese Stimme, ebenfalls die einer Frau, klang weicher, aber deswegen nicht weniger durchsetzungsfähig. „Wir wissen nicht, was der Junge weiß. Es ist immerhin möglich, dass er keine Ahnung von dem hat, was dieses Ding in seinem Kopf uns zeigt.“
In seinem Kopf? Was bitteschön war in seinem Kopf?
„Ach, das ist doch Blödsinn. Warum sollte einer den weiten Weg auf sich nehmen, um hierherzukommen, wenn er nicht von seinen Sklaventreiberfreunden geschickt wurde?“ Das war wiederum die erste Frau, deren Wut nun deutlich durchklang.
„Wir sollten uns alle erstmal wieder beruhigen und dann genau überlegen, wie wir vorgehen“, sagte da Jason in gebieterischem Tonfall und tatsächlich wurde es ruhiger um ihn herum. Auch Joe beruhigte sich etwas. Er musste klar denken, um alles richtig mitzubekommen. Er wischte sich die lästigen Tränen aus den Augen und erkannte nun einen grauen Haarschopf, von dem er vermutete, dass es Jasons war.
„Dad, was ist hier los?“
Da war sie, die Frau mit den weichen Händen. Joe erkannte ihre Stimme sofort und Ruhe breitete sich in ihm aus. Irgendwie wusste er, dass ihm nichts geschehen würde, solange sie in seiner Nähe war. Und tatsächlich war sie Jasons Tochter, was Joe auf merkwürdige Weise freute. Er wünschte sich so sehr, sie würde näher an den Eingang herankommen, hoffte, er könne vielleicht einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Aber das tat sie nicht.
„Er ist im Netz, Maja. Verstehst du?“ Jason sagte es ohne Umschweife, doch mit Sorge darum, wie sie es wohl aufnahm. Was hatte er da gerade gesagt? Joe war im Netz? Was bitteschön war dieses seltsame Netz, von dem Jason gestern schon andauernd gesprochen hatte?
Joe war völlig durcheinander. Was bedeutete das alles, verdammt nochmal? Maja tat ihm den Gefallen, es zu erklären, nicht. Maja … das war ein wirklich schöner Name, fand Joe.
Bleib bei der Sache, ertönte da eine ihm wohl bekannte Stimme in seinem Hinterkopf. Linc. Wie es ihm jetzt wohl ging? Der eingebildete Freund räusperte sich verstimmt.
„Ich denke schon“, sagte Maja beinahe kalt. „Konnte er unsere Position verraten?“
Sie klang wie eine Soldatin, dachte Joe und eine Woge der Zuneigung und des Respekts durchzog ihn.
„Nein, konnte er nicht.“ Das war doch der Junge mit dem Facelock. „Durch die Augenbinde und die Kopfwunde ist sein Zwölfer in den Standby-Modus gegangen und das bedeutet, dass er nur noch alle achtundvierzig Stunden für fünf Minuten Kontakt zur Basis aufnimmt. Es sendet dann ein Statusupdate in der Art ‚hey, ihr Arschlöcher, ich lebe noch’ und die sind zufrieden.“
„Und genau da liegt das Problem!“, mischte sich da Chris mit deutlich hörbarer Wut ein. Joe wusste zwar nicht, was ein Zwölfer war, allerdings verstand er sofort, was Chris damit meinte. „Wir haben ihn vor etwa dreizehn Stunden hierhergebracht. Er hat aber schon vor sechsunddreißig Stunden sein letztes Update gesendet. Uns bleiben also maximal zwölf Stunden, um ihn entweder auszuschalten und seine Leiche dann tief in den Wald zu bringen oder ihn von dem Zwölfer zu befreien und ihn damit aus dem Netz zu holen“, fuhr Chris unbarmherzig fort. Joe glaubte zu wissen, welche Option ihm lieber war. In seinem Kopf begannen die Gedanken wie wild zu kreisen. Vor sechsunddreißig Stunden also hatte er das letzte Mal seinen Standort an seine Verfolger durchgegeben. Das hatte er nicht gewusst. Und warum hatte er es nicht mitbekommen? War das dieser Zwölfer gewesen, von dem der Junge mit dem Facelock gesprochen hatte? War das das Ding in seinem Kopf? Warum hatten ihn seine Verfolger nicht eingeholt, als er da auf dem verdammten Baum geschlafen hatte? Das musste ungefähr sechsunddreißig Stunden her gewesen sein, wenn er Chris’ Zeitangaben glauben durfte.
„Das würde er genau so wenig überleben wie die erste Option“, rief Maja da, und Joe war sich sicher, dass ihr dieser Gedanke grundsätzlich nicht gefiel. Zwar freute ihn die Tatsache, doch es lief ihm trotzdem eiskalt den Rücken herunter. In spätestens zwölf Stunden wäre er tot. Es schien bereits eine beschlossene Sache zu sein, denn Chris hatte keine dritte Option zur Wahl gestellt und auch auf Majas Einwand hin tat es niemand.
„Es ist noch nichts entschieden“, rief Jason, ebenfalls mit bebender Stimme. Die Gefahr, die er für seine Schützlinge wittern musste, und die damit verbundene Angst konnte Joe skurrilerweise nachempfinden. Doch glaubte er, noch etwas anderes aus Jasons Worten herausgehört zu haben. Etwas, dass er nicht einordnen konnte.
„Gibt es eine Möglichkeit, seinen Tod zu verhindern?“, wollte der sehr alte Mann da wissen, auch ihm schien die Vorstellung, jemanden zu töten, nicht zu gefallen.
„Wir werden alle Möglichkeiten noch einmal besprechen und jede Option in Betracht ziehen“, sagte Jason. Es klang, als sähe er keine Hoffnung, und ein kleiner Eisklumpen begann, sich in Joes Magen zu bilden.
„Janosh, Chris, BJ, Mike, Sigrid und Maja, ihr kommt mit rein. Alle anderen gehen erstmal an ihre Arbeit zurück.“ Jason erhob die Stimme bei diesen letzten Worten. „Ich rufe euch später zusammen, dann entscheiden wir gemeinsam.“
Diesmal hatte der Anführer mit aller Macht gesprochen. Es war nicht zu überhören, dass er den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde, verdiente. Trotzdem schien es ihm nicht zu gefallen, diesen Befehlston anzuschlagen. Joe hörte wie die Versammelten zustimmend murmelten, dann verschwanden Jasons Haare aus seinem Blickfeld. Nun konnte er es nicht mehr verhindern – Panik überkam ihn.
„HEY!“, brüllte er jetzt. „Bitte schickt mich einfach von hier fort! Ich will noch nicht sterben! Und ich will auch nicht, dass ihr sterbt!“ schrie er, so laut es ihm möglich war. Doch immer wieder brach seine heisere Stimme. Er bekam keine Antwort. Die Versammlung vor Joes Zelle hatte sich offenbar bereits aufgelöst und es lag nicht in seiner Hand, was jetzt geschah. Ein Glück, dachte er, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren, bevor er starb. Es lag ein gewisser Trost in dem Bild, das sich nun vor sein inneres Auge schob. Er, mit verbundenen Augen, kniend und mit einem breiten, irren Grinsen im Gesicht auf die Kugel wartend, die wie in Zeitlupe direkt auf seine Stirn zuflog.