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Gewissheit

Maja war sauer auf Jason. Sie hatte nicht mehr einschlafen können und auf ihn gewartet, nachdem er sie aus dem Vorratskeller, der nun eine Gefängniszelle war, geschickt hatte. Es hatte ihr nicht gefallen, wie ihre Leute mit dem jungen Mann umgegangen waren. Hatten sie denn nicht gesehen, wie es um ihn stand, als sie ihn in den Keller brachten? Er war dem Tod näher als dem Leben, und dennoch hatten sie ihn nicht versorgt, ihn sogar noch verletzt sowie gefesselt und ihn dann eingesperrt wie ein Tier. Obwohl, wenn sie es recht bedachte, dann behandelten sie die Tiere hier doch deutlich besser, selbst wenn es um die Schlachtung ging.

Natürlich wusste Maja, warum sie es tun mussten. Wenn es wirklich sein konnte, dass er ein Spion des Zentrums war, dann hieß das, dass sie alle in großer Gefahr schwebten. Alle seine Sinne und Instinkte waren in diesem Fall darauf ausgelegt, Majas Familie in den Untergang zu treiben. Und die unmenschliche Behandlung des Gefangenen war natürlich auch nicht der Grund, warum sie sauer auf Jason war. Der Mann konnte von Glück reden, dass Mike oder Chris ihn nicht schon im Wald umgebracht hatten. Das hatte der Fremde vermutlich Billy zu verdanken. Maja merkte, dass sie nicht nur auf Jason wütend war. Aber auf ihn am meisten und zwar, weil er ihr verboten hatte noch einmal zu dem Gefangenen zu gehen, bevor er nicht sicher sein konnte, dass dieser keine Gefahr darstellte. Jason wollte, dass BJ ihn sich genau ansah, bevor man ihm die Augenbinde abnahm und zuließ, dass die anderen Bewohner der Siedlung mit ihm in Kontakt kamen. Und Maja sollte erst recht nicht mit den Fremden in Verbindung kommen, wenn es nach Jason ging. Zum ersten Mal seit Maja denken konnte, ließ Jason es nicht zu, dass sie die Entscheidung mit traf. Er hatte ihr erzählt, was der Mann gesagt hatte und auch, dass er nicht das Gefühl hatte, dass er log. Aber er hatte zudem gesagt, dass die Forscher und Erfinder im Zentrum ihre ganz eigenen Methoden hatten, um an ihre Ziele zu kommen, und dass die letzten Jahre einfach zu wenige Menschen entkommen waren, als dass die Ankunft dieses Mannes ein Zufall sein konnte. Dass Jason ihn nicht nach seinem Namen fragen konnte, war ein zusätzliches Ärgernis. Zum einen hätte der Mann vermutlich nicht die Wahrheit gesagt, zum anderen war die Frage nach dem Namen eines Menschen ein automatischer Notfallcode. In der Regel war es nicht nötig, dass man sich gegenseitig nach den allgemeinen Personendaten befragte, weil man diese dank der implantierten Technik automatisch übermittelt bekam.

Die Sicherheit der Siedlerfamilie stand an erster Stelle. Natürlich wollte Maja nicht, dass ihnen etwas zustieß. Also fügte sie sich zwar Jasons Anordnung, sie war allerdings nicht damit einverstanden, außen vor gelassen zu werden. Und das hatte sie Jason nachdrücklich mitgeteilt. Was sie ihm nicht gesagt hatte, war, dass sie seit der Ankunft des Mannes in der Siedlung eine Art Gewissheit verspürte. Ihre Nervosität und Unruhe waren auf einmal verschwunden und an ihre Stelle war diese Gewissheit getreten. Im Moment konnte Maja noch nicht sagen, was genau sie da eigentlich wusste. Nur, dass es mit dem Mann zu tun hatte und dass sie unbedingt mit ihm reden musste, um ein paar Antworten zu erhalten.

Doch nun hieß es, geduldig abzuwarten, bis Jason grünes Licht gab. Er hatte am Morgen ganz fürchterlich mit Tobi geschimpft, weil dieser bei der Wache eingeschlafen war und somit nicht mitbekommen hatte, dass Maja ihm die Schlüssel abgenommen und sich in die Zelle geschlichen hatte. Tobi wollte sich damit rausreden, dass der Gefangene schließlich geschlafen hatte und gefesselt gewesen sei, und dass er unmöglich von innen die Tür aufbekommen hätte. Aber er hatte dabei doch reichlich zerknirscht ausgesehen. Maja wusste, dass Tobi seinem älteren Bruder in Sachen Ehrgeiz um nichts nachstand. Darüber hinaus wollte er immer beweisen, dass er mithalten konnte. Im Gegensatz zu Chris, der ein großer, muskulöser Typ war, wirkte Tobi immer schwach und zu dünn für seine Größe. Auch hörte man ihm noch nicht wirklich an, dass er bereits dreiundzwanzig war, was so manche Sticheleien seitens der anderen Jungs provozierte. Maja wusste natürlich, dass hinter seiner schlaksigen und drahtigen Figur ein kräftiger, flinker und scharfsinniger junger Mann steckte. Doch irgendwie konnte Tobi sich selbst nicht gut einschätzen und dachte immer, er müsse mehr als alle anderen geben, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Um ihrerseits den Verstand nicht zu verlieren, widmete sich Maja nun mit vollem Eifer der Arbeit auf der Obstplantage. Es musste etwa gegen zehn Uhr morgens sein und am blauen Himmel war weit und breit keine Wolke zu sehen. Es verhieß erneut ein warmer, sonniger Tag zu werden. Kurz dachte Maja, dass es nun beinahe eine Woche her war, seit es das letzte Mal geregnet hatte. Es war mal wieder an der Zeit für ein paar Tropfen. Aber sie genoss die Sonne viel zu sehr, als dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hätte. Man sollte das Schicksal schließlich nicht herausfordern.

Während Maja einen der Brombeerbüsche vom Unkraut und abgestorbenen Blättern befreite, kam Chris zu ihr herüber. Maja hatte ihn nicht bemerkt, deswegen erschrak sie kurz, als er sie ansprach.

„Hey Maja, ich wollte nur Hallo sagen. Wir sind gestern Abend erst spät zurückgekommen, deswegen bin ich nicht früher zu dir gekommen“, sagte er, als müsste er sich rechtfertigen, dass er nicht direkt zu ihr gelaufen war, um sie zu begrüßen.

„Das macht doch nichts“, entgegnete Maja und schluckte ihren ungerechten Frust über ihn und die Jungs rasch herunter. „Jetzt bist du ja hier. Wie war eure Jagd?“

Sie umarmten sich zur Begrüßung, wie sie es immer taten. Maja fand, dass Chris sie ein klein wenig zu lang und zu fest drückte, aber es störte sie nicht wirklich. Er wusste vermutlich manchmal seine Stärke nicht richtig einzuschätzen.

„War eigentlich ganz gut“, sagte Chris, als er sie losgelassen hatte. „Wir konnten zwei Wildschweine und drei Hasen erbeuten. Wurde ganz schön eng in den Rucksäcken. Da sollten alle etwas Fleisch auf ihre Teller bekommen.“

Chris strahlte und Maja registrierte, wie sie es häufiger in letzter Zeit getan hatte, wie gut Chris aussah, wenn er so lachte. Seine goldbraunen Augen bekamen dann ein warmes Leuchten und sein Lächeln überspannte beinahe sein ganzes Gesicht. Er war groß, verströmte durch seinen athletischen Körperbau eine Art von natürlicher Überlegenheit, und doch wusste Maja, dass dahinter ein freundlicher und hilfsbereiter Mann steckte, dem die Sicherheit seiner Mitmenschen über alles ging. Maja mochte ihn wirklich sehr und auf einmal spürte sie die ehrliche Freude darüber, dass er und die anderen gesund nach Hause zurückgekehrt waren. Über den ganzen Trubel mit dem sterbenden Gefangenen hatte sie beinahe ihre Sorgen um die Jungs, die doch wie ihre Brüder waren, vergessen.

„Ich freue mich, dass ihr wieder da seid“, sagte sie nun und legte ihre Hand auf Chris’ Arm. Er ließ den Arm sinken, sodass Majas Hand in seine rutschte, dann streichelte er sie mit dem Daumen. Maja kam das etwas seltsam vor. Es fühlte sich aber auch nicht vollkommen falsch an, also ließ sie Chris gewähren.

„Jason hat dir bestimmt schon erzählt, dass wir noch etwas anderes erbeutet haben“, meinte er und schaute Maja mit einem sehr merkwürdigen Blick in die Augen, irgendwie vorsichtig, abschätzend.

„Ja, das hat er. Ich war bei ihm.“

Als sie das sagte, ließ Chris ihre Hand abrupt los.

„Was? Wann ist das gewesen? Ich dachte, du lagst im Bett und hast geschlafen, als wir ankamen.“ Ein wenig erschrocken über den harschen Tonfall, den Chris an den Tag legte, ging Maja automatisch in eine Verteidigungshaltung. Sie schürzte die Lippen, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe genau wie jeder andere hier das Recht, mit dem Gefangenen zu reden“, schnappte sie kühl.

„Aber der Typ ist vielleicht gefährlich für uns alle“, knurrte Chris zurück. „Du solltest nicht mit ihm reden, bis wir nicht wissen, was es mit ihm auf sich hat.“

Es klang fast wie ein Befehl. Diese Seite mochte Maja ganz und gar nicht an ihm. Zwar war ihr bewusst, dass er sie nur beschützen wollte, doch sie nahm von niemandem Befehle entgegen. Jason bildete, was das anging, die einzige Ausnahme, wobei er seine Befehle niemals wie solche klingen ließ.

„Du bist nicht der Einzige hier, der sich Sorgen macht, Chris.“ Sie funkelte ihn finster an. „Aber falls es dich beruhigt, Jason hat mir schon verboten, nochmal zu ihm zu gehen.“

Es ärgerte sie, dass sie es nicht schaffte, den Trotz und die Wut über diese Tatsache zu verbergen. Chris hingegen musste sich beeilen, seine Genugtuung zu unterdrücken. Er war ein paar Jahre älter als Maja und spielte sich immer mal wieder wie der große Bruder auf, den Maja bis zu einem gewissen Punkt auch in ihm sah. Doch er war es nicht und hatte ihr somit nichts vorzuschreiben. Und manchmal wollte Maja ihm das ganz unmissverständlich klar machen. Ihr Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Chris streckte eine Hand nach Majas immer noch verschränkten Armen aus. Sie drehte sich weg.

„Komm schon, das ist nur zu deinem Besten. Jason weiß immer, was er tut, oder nicht?“, sagte Chris nun deutlich sanfter und durch seine raue Stimme wirkten die Worte einschmeichelnd.

Natürlich hatte er vollkommen Recht, und Maja wusste das auch ohne seine Erinnerung. Sie gab ihren kleinen Schmollanfall auf und widmete sich wieder der Arbeit an den Büschen. Eine Weile redeten sie noch über die zwei Fallen, die der Gefangene aufgestellt hatte, und die Mike als Erster im Wald entdeckt hatte. Chris meinte ein wenig abfällig, sie wären beide nicht besonders einfallsreich gewesen. Maja hingegen dachte, dass sie ausgereicht hatten, um ein Kaninchen zu fangen, behielt dies jedoch für sich. Sie wollte nicht, dass Chris womöglich noch dachte, sie würde an seinem Urteilsvermögen zweifeln.

„Kommst du später noch rüber? Ich bin jetzt fast fertig.“ Chris, der für die Gartenarbeit, wie er es nannte, nicht viel übrig hatte, wollte in seine Werkstatt, um eine alte Schrotflinte weiter zu restaurieren. Er hatte wirklich einen Faible für Waffen und alles Handwerkliche und war neben Ben der Beste, wenn es um Restaurationsarbeiten ging.

„Mal sehen, wie ich fertig werde“, antwortete Maja unbestimmt. Chris winkte, dann ging er hinüber zu dem großen, scheunenartigen Gebäude. In den vielen Jahren hatte er ein ansehnliches Repertoire an Werkzeugen und Materialien für seine Arbeit mit den Waffen angesammelt. Er stellte am liebsten Armbrüste, Pfeile und Jagdbögen her oder hielt sie in Stand.

Maja verstand nicht viel davon und Chris erklärte es nicht gerne, er zeigte es lieber. Aber Maja hatte bei der vielen täglich anfallenden Arbeit kaum die Gelegenheit, ihm mal richtig zuzuschauen. Und wenn sie es dann doch einmal tat, ärgerte es sie ein wenig, dass Chris ihr nie anbot, es selbst mal zu versuchen. Er ging ganz in seiner Arbeit auf und versank in ihr. Er mochte es nicht, wenn man ihn dabei unterbrach oder Fragen darüber stellte, warum er etwas so machte, wie er es machte. Wenn etwas nicht genau seinen Vorstellungen entsprach, konnte er durchaus launisch und ungehalten reagieren. Maja hatte nicht so einen ausgeprägten Perfektionismus, war aber sehr neugierig und mochte es nicht, wenn Chris so war, wie er eben manchmal war. Daher hatte sie sich immer seltener und irgendwann dann praktisch gar nicht mehr in die Werkstatt begeben, solange er darin arbeitete. Es gab genügend Aufgaben in der Gemeinschaft, denen sie sich widmen konnte. Sie ging gerne mit auf die Jagd und die Beutezüge, um ihren Beitrag zu den Nahrungs- und Materialvorräten beizutragen. Gemeinsam mit Kim hatte sie sich immer um die anfallende Wäsche, die Arbeit auf dem großen Feld und allerlei kleinere und größere Hilfsarbeiten in der Tier- und Pflanzenpflege gewidmet. Anita und Janosh kümmerten sich hauptsächlich um die Tiere und wurden dabei meistens von Brina unterstützt. Sie sagte immer, dass Tiere die besseren Menschen seien und Maja hatte anfangs nie verstanden, was sie damit meinte. Inzwischen glaubte sie jedoch, dass Brina etwas erkannt hatte, das den anderen einfach entgangen war.

Seit die Männer vor drei Jahren die Destille mit in die Siedlung gebracht hatten, hatten Maja und Tobi sich mit Feuereifer an die Aufgabe gemacht, die hohe Kunst der Schnapsbrennerei zu erlernen. Natürlich hatten sie noch allerlei Zubehör beschaffen müssen und ohne die umfangreiche Hilfe von Janosh wäre ihnen dieses Unternehmen vielleicht niemals gelungen. Maja fand es unfair, dass Elenor nichts mehr von ihrer eigenen Entdeckung hatte. Sie hatte ein paar Tage vor ihrem Tod, als sie noch lachen konnte, gescherzt, dass ein ordentlicher Schluck ihr gut zu Gesicht stehen würde. Aber immerhin hatten sie es in diesem Jahr geschafft, einen wirklich leckeren Himbeerschnaps zu kreieren. Tobi war so stolz gewesen, als sie den Schnaps vor drei Wochen zum ersten Mal in seinem fertigen Zustand probiert hatten. Und Maja freute sich schon so sehr auf die Reaktionen der anderen, wenn sie ihn beim großen Fest am Aurentag endlich präsentieren würden.

Als Maja mit dem Brombeerbusch fertig war und sich schon dem nächsten widmen wollte, diesmal ein Himbeergebüsch, trat Selina an ihre Seite und bot Unterstützung an. Seit Kims Schwangerschaft deren Bewegungsfreiheit und Kräfte weitgehend eingeschränkt hatte, war Selina für Maja zu einer großen Hilfe geworden. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie im richtigen Alter, um sich auch an den anstrengenderen Arbeiten in der Siedlung zu beteiligen. Und obwohl sie immer ein wenig mürrisch dreinsah, erledigte sie doch jede Aufgabe ohne Zögern, sobald man sie ihr stellte, und war immer höflich und freundlich. Maja hatte schon überlegt, sie bald mal zu einem kleinen Ausflug ein wenig tiefer in die Wildnis des Waldes mitzunehmen, ihr ein bisschen was über das Jagen zu zeigen. Selina würde es bald lernen müssen. Als Maja in ihrem Alter war, ging sie bereits regelmäßig mit auf die Jagd, trotz Jasons permanent tiefer werdenden Sorgenfalten. Natürlich kannte Selina sich in den umliegenden Wäldern aus und sie leistete durch das Sammeln von Holz, wilden Beeren und Nüssen ihren Beitrag. Die Übungen mit Pfeil und Bogen, die sie in der Siedlung regelmäßig absolvierten, und das Sammeln reichten jedoch bei Weitem nicht aus, um einen wirklich relevanten Beitrag zu den Nahrungsvorräten sicherstellen zu können. Und Selina hatte immer sehr viel Geschick im Umgang mit den unterschiedlichen Waffen, die sie hier besaßen, gezeigt.

„Würde es dir etwas ausmachen, den hier zu übernehmen, Selina? Ich wollte eigentlich mal nach Kim schauen“, fragte Maja mit einem entschuldigenden Blick. Sie überließ die Arbeit ungerne einfach anderen. Aber sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mit ihrer besten Freundin zu reden.

„Kein Problem“, sagte Selina mit einem kleinen Lächeln und schob sich eine ihrer glatten blonden Haarsträhnen hinters Ohr. „Grüß sie schön von mir.“

„Mach ich“, erwiderte Maja dankbar und eilte hinüber zu dem Wohnwagen, in dem Kim zusammen mit Ben wohnte. Der Wagen war rundherum mit Holz verkleidet und mit Stroh und Lehm zusätzlich gedämmt worden. Als Kim festgestellt hatte, dass sie schwanger war, hatte Ben gemeinsam mit den anderen Männern der Siedlung einen Anbau gezimmert, der die begrenzte Wohnfläche erweitern sollte. So hätten zwei Erwachsene und ein Baby ausreichend Platz. Und bis der oder die Kleine zu groß würde, könnte man sich ja noch etwas einfallen lassen. Auch das war eines der Dinge, die Maja an den Menschen in ihrem Zuhause liebte. Sie fanden immer gemeinsam eine Lösung. Niemand stand jemals alleine da.

Maja musste verhältnismäßig lange warten, bis die Tür zu Kims und Bens kleinem Reich geöffnet wurde. Und sie erschrak über den Gesichtsausdruck, den Kim ihr präsentierte, als sie sie keuchend aufstieß. Das hatte sie wohl mit dem Fuß getan, denn die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt, um den massigen, runden Bauch zu stützen. Als Kim jedoch Maja erkannte, wechselte ihre wütende in eine leidend-genervte Miene und sie verzog den Mund zu einem, nicht ganz ernst gemeinten, Aufheulen.

„Ach, du bist’s. Dein Glück“, schnaufte sie und wedelte mit der Hand, damit Maja hereinkam. „Die Zwillinge waren heute schon zweimal hier, um nach Ben zu fragen, und ich habe ihnen geschworen, sie mit dem Kopf zuerst ins Wasserfass zu stecken, wenn sie nochmal vorbeikommen.“

Maja musste lachen. Sie wusste, wie anstrengend die beiden achtjährigen Wirbelwinde sein konnten. Tim und Tom liebten Ben, der wie ein Ersatzvater für die eineiigen Zwillinge war. Mit ihrer quirligen und lebensfrohen Art brachten die beiden ordentlich Trubel unter die Bewohner der Siedlung. Im positiven Sinne. Sie lebten bei ihren Großeltern Anita und Janosh, seitdem ihre Eltern verschleppt worden waren. Maja war so froh, dass die fröhlichen Jungs das alles nicht bewusst miterlebt hatten. Es war der schlimmste Tag in der Geschichte der Siedlung gewesen.

„Ach herrje, warum bist du denn so genervt von den Kurzen?“, wollte Maja wissen und nahm Kim zur Begrüßung in den Arm.

„Weil sie mich aus meinem Stuhl gerissen haben“, sagte Kim schmollend und erwiderte die Umarmung. „Das ist der einzige Ort … an dem ich es zurzeit noch länger als fünf Minuten aushalte. Die kleinen Quälgeister, uff, wissen ganz genau, dass sie mich damit zur Weißglut treiben und finden es … ziemlich witzig, dass ich … ihnen nicht hinterherlaufen kann, so wie sonst immer.“

Während sie das gesagt hatte, war sie schwerfällig durch den kleinen, noch nicht fertig eingerichteten Anbau geschlurft, hatte sich die zwei niedrigen Stufen in den Wagen zurückgehievt, ihre Wolldecke genommen und sich in einer sackartigen Bewegungsabfolge in ihren Schaukelstuhl niedergelassen. Dort angekommen entspannte sich ihr Gesicht sofort.

„Unsere Kleine mag es, wenn ich hier schaukle. Dann ist sie ruhiger“, seufzte Kim mit geschlossenen Augen.

„Weißt du es jetzt?“, fragte Maja aufgeregt. Sigrid hatte bei jedem Ultraschall versucht, das Geschlecht des Babys zu ermitteln, aber es hatte sich partout geweigert, dieses Geheimnis preiszugeben.

„Nein“, brummte Kim. „Wir konnten wieder nichts erkennen.“ Sie öffnete die Augen und setzte eine finstere Miene auf. „Ich bin ja schon froh, dass sie uns endlich ihren zweiten Arm gezeigt hat.“

„Das war wirklich nett von ihr“, sagte Maja und dachte an die bangen Wochen, in denen sie befürchtet hatten, dass der Embryo sich nicht richtig entwickelte. Den zweiten Arm hatte Sigrid erst vorletzte Woche entdeckt und die gute Nachricht direkt per Funk an alle durchgegeben. Dieses Kind hatte schon jetzt nicht nur ein Elternpaar, dass sich Sorgen um es machte.

Maja freute es, dass Kim immer von einem Mädchen sprach. Sie selbst zwang sich oft dazu, eher neutral von dem Baby zu denken, weil sie fürchtete, sich sonst zu große Hoffnungen zu machen. Denn natürlich würde sie sich auch über einen Jungen freuen, gar keine Frage. Aber sie war froh, dass sie und ihre beste Freundin sich einig waren. Ben meinte immer nur „Hauptsache gesund“. Er freute sich riesig darauf, endlich sein Kind in den Armen zu halten, und er würde ein großartiger Vater sein, da war Maja sich sicher.

Kims Ausdruck veränderte sich, als sie Maja nun müde anschaute. „Wo hast du die letzten Tage gesteckt? Ich dachte schon, du willst nichts mehr mit deiner fetten, missgelaunten und hormongesteuerten Freundin zu tun haben“, sagte sie mit deutlich quängeliger Stimme.

Maja bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie Kim tatsächlich aus dem Weg gegangen war. Es war nicht wirklich bewusst geschehen, aber in diesem Moment wurde es ihr klar. Sie versuchte, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, als sie antwortete.

„Du weißt doch, wie das ist. Wir haben das Feld endlich fertiggemacht, die Büsche beschnitten und vom Unkraut befreit. Es ist Frühling.“

„Ja, und ausnahmsweise haben wir mal ausreichende Vorräte in den Kammern und alle können es sich ein wenig gut gehen lassen. Das bedeutet, dass auch du es ein bisschen langsamer angehen darfst, meine Süße.“ Kim zwinkerte und ihr Tonfall war nun wieder ganz normal, wie Maja ihn kannte; fröhlich und ein bisschen frech. Scheinbar nahm sie es Maja ab, dass sie einfach nur sehr beschäftigt gewesen war. „Ben hat mich zu strikter Schaukelstuhlruhe verurteilt“, fuhr sie munter zwinkernd fort. „Übrigens macht das die Schwangerschaft deutlich erträglicher.“

Maja versuchte schnell, diesen kleinen Vorwand für einen Themenwechsel zu nutzen.

„Wie lange dauert es jetzt noch?“, wollte sie wissen und setzte sich auf die kleine Bank an der Wand neben dem ausladenden Schaukelstuhl. Ben hatte ihn, gemeinsam mit Tobi und Mike, zu Beginn der Schwangerschaft aus einem normalen Stuhl für Kim gebaut. Sie hatten ihn in die eigentliche Wohn- und Essecke des Wohnwagens gestellt. Dafür konnten sie zwar den kleinen Esstisch seither nicht mehr benutzen, weil genau an der Stelle, wo dieser sonst ausgeklappt wurde, nun der Schaukelstuhl stand, aber das würde ja nur solange so bleiben, bis das Baby da war. Dann würden sie überwiegend im Anbau leben und Eltern und Kind sollten ihre Schlafplätze im Wohnwagen bekommen.

„Nein, nein, meine Süße, so einfach kommst du mir nicht davon. Ich seh’ dir doch an der Nasenspitze an, dass da was nicht stimmt.“ Auch Kim konnte Maja praktisch nichts vormachen. Neben Jason kannte sie Maja wohl am besten, vielleicht sogar ein wenig besser. Als sie noch klein gewesen war, hatte die immerhin beinahe zehn Jahre ältere Kim immer auf sie aufgepasst. Und daraus war dann die wohl innigste Freundschaft entstanden, die zwei Frauen zueinander haben konnten.

Kim war ein außergewöhnliches Mädchen gewesen. Sie war eines Tages, als sie ungefähr elf Jahre alt gewesen sein musste, einfach auf der Lichtung aufgetaucht, alleine, abgemagert und zerlumpt. Und mit einem defekten Stecker im linken Ohr. Sie hatte weder gewusst, wie sie hieß, noch woher sie kam oder wie alt sie genau war. Aber sie war „zäh wie Stiefelleder“, wie Onkel Josh es ausgedrückt hatte, und mit ihrer flinken und gewitzten Art hatte sie sich schnell einen Platz in der Siedlung erobert. Ihren Namen hatte Anita ihr gegeben und ihr darüber hinaus angeboten, einen Geburtstag festzulegen, aber das hatte Kim nicht gewollt. Sie hatte stets alleine gewohnt und sich selbst versorgt, hatte sich an allen anfallenden Arbeiten beteiligt und war eben auch Majas Kindermädchen gewesen. In gewisser Hinsicht war sie sogar wie eine Ersatzmutter für Maja, die sich immer schmerzlich danach gesehnt hatte, eine richtige Mutter zu haben. Kim konnte Maja allerdings ihrerseits genauso wenig etwas vormachen. Ihrer besten Freundin ging es nicht gut.

„Okay, du hast Recht. Aber erst bist du dran. Wie lange muss ich dich noch leiden sehen?“ fragte Maja.

„Ungefähr vier Wochen. Vielleicht aber auch nur noch zwei.“

Und tatsächlich schwang nun ein beinahe hoffnungsvoller Ton in Kims Worten mit. Bisher hatte sie es vom Fleck weg abgestritten, dass es ihr nur ein einziges Mal während der Schwangerschaft nicht gut ergangen wäre. Und das obwohl man ihr teilweise angesehen hatte, dass das glatt gelogen war. Maja hatte sie sogar einmal ganz am Anfang dabei erwischt, als sie sich hinter einem der Johannisbeerenbüsche übergeben musste. Kim hatte steif und fest behauptet, das sei vollkommen normal und ihr sei auch gar nicht schlecht gewesen – sie habe nur einen Schluck verdorbene Milch getrunken. Maja musste deswegen auf die leckeren Johannisbeeren verzichten und konnte sich daher eine kleine Spitze einfach nicht verkneifen.

„Ich dachte, du genießt es so, schwanger zu sein?“

„Naja, das war auch so. Aber ganz ehrlich, Maja? So langsam nervt es doch ziemlich. Ich kann ja praktisch nichts mehr machen. Ich fühle mich fett und bin so träge“, jammerte Kim. „Ständig muss ich Ben sagen, was er machen soll, weil ich es nicht mehr kann. Und ich kann nicht beim Umbau helfen, wo Ben doch sowieso schon alles macht. Das reicht mir alles so langsam. Und meine Beine sind total dick und tun weh. Sieh nur.“

Kim schaffte es kaum, ihre Zehen zu krallen, so geschwollen waren ihre Füße. Sie klang nun ernsthaft bekümmert und Maja tat es leid, dass sie das Wunder der Schwangerschaft nicht voll und ganz genießen konnte. Maja hatte von den anderen Müttern in der Siedlung immer wieder gehört, dass es sehr schön, aber manchmal ebenfalls sehr anstrengend sein konnte, ein Baby zu bekommen. Kim, die immer strotzte vor Energie, die immer in Bewegung war und kaum mal eine Pause einlegte, war kaum wiederzuerkennen. Hier lag sie, erschöpft und mit tatsächlich ziemlich geschwollenen Füßen. Ihre tiefschwarze Haarmähne hatte sie zu einem unordentlichen Knoten auf dem Kopf zusammengesteckt. Normalerweise kämmte sie sich ihr Haar, bis es ganz glatt war und seidig glänzte.

„Vielleicht hilft es ja, wenn du die Füße hochlegst“, schlug Maja vor. „Hier, ich dreh deinen Stuhl ein bisschen, dann kannst du sie auf die Bank legen. Und ich kann sie dir ein wenig massieren.“ Sie tat, was sie gesagt hatte, dann setzte sie sich und begann, die warmen und durch die Schwellung sehr festen Füße sanft zu kneten.

Kim schloss genießerisch die Augen. „Oh Maja, du bist wirklich einfach die allerbeste Freundin auf der ganzen weiten Welt.“

Maja musste lachen, aber dann öffnete Kim erneut die Augen und schaute sie mit einem durchdringenden Blick an.

„Und jetzt erzähl mir bitte endlich, was los ist.“

Maja zögerte, sie wusste einfach nicht, wo sie anfangen sollte. Bei ihrer Unruhe und dieser komischen Vorahnung, dass irgendwas passieren würde, oder doch lieber bei den aktuellsten Ereignissen?

„Ich weiß nicht, ob du schon mitbekommen hast, dass die Jungs gestern Abend mit einem Gefangenen im Schlepptau zurückgekommen sind“, begann sie schließlich ein wenig zögerlich.

Bei ihren Worten richtete sich Kim mühsam auf. „Wie meinst du das, sie hatten jemanden dabei?“, fragte sie spitz.

Maja war erstaunt. „Hat Ben es dir denn nicht gesagt? Er erzählt dir doch sonst immer alles, was hier so passiert.“ Normalerweise brachte er sie nach dem Frühstück, wenn er seine Morgenrunde gedreht hatte, auf den neuesten Stand.

„Ich hab ihn seit heute früh nicht mehr gesehen. Er ist schon vor Sonnenaufgang raus. Angeln gehen, du weißt schon“, erklärte Kim ein wenig verzagt.

Ja, da ging Ben immer schon sehr früh morgens los. Er meinte, dass die Fische dann einfach besser beißen. Wahrscheinlich, weil sie zum Fressen an die Oberfläche kamen. Das Angeln war seine große Leidenschaft und er nahm sich nur sehr selten einen Tag frei, um seinem Hobby nachzugehen. Vermutlich hatte er noch gar nicht mitbekommen, dass es Neuigkeiten gab.

„Na dann, muss ich dich wohl auf den aktuellen Stand bringen“, seufzte Maja, die genau wusste, dass Kim diese ganzen Tage ohne Ben nicht leiden konnte, und fing an zu erzählen.

Als sie fertig war, stimmte Kim, sehr zu Majas Verdruss, Jason in dem Punkt zu, dass sie, Maja, sich besser von dem Gefangenen fernhalten sollte.

„Warum willst du überhaupt zu ihm? Ich meine … er ist wahrscheinlich gefährlich, Maja.“ Kims Stimme klang sanft und ehrlich besorgt.

Da war sie also, die Frage die Maja selbst nicht hatte stellen können und die doch dringend einer Antwort bedurfte. Maja verstand selbst nicht so genau, warum es sie so ärgerte, dass sie nicht zu ihm durfte. Sie wusste nur, dass sie zu ihm musste. Erneut fühlte Maja diesen Druck, diesmal im Hals, und die Tränen, die sich am Rande ihres Blickfeldes aufstauten. Sie verzerrten Kims Umrisse zu einer hässlichen Fratze und tauchten sie gleichzeitig in hübsche Lichtsprenkel.

„Ich weiß es nicht, Kim.“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, begleitet von einem nur mühsam unterdrückten Schluchzen. Wenn sie so emotional war, verließ ihre Stimme sie also doch.

„Oh nein, Maja, Schatz, bitte komm zu mir, damit ich dich in den Arm nehmen und dir die Tränen wegküssen kann.“

Maja tat wie ihr geheißen und setzte sich auf die breite Armlehne des Schaukelstuhls. Kim beugte sich so weit vor, dass sie ihren einen Arm um Majas Hüften schlingen konnte, dann legte sie ihren Kopf an Majas Brust. Maja legte ihren Kopf auf den Kims und dann schaukelten sie, bis die Tränen versiegt waren.

„Dir ist schon klar, dass ich dich nicht loslasse, bevor du mir nicht alles erzählt hast. Da steckt doch mehr dahinter.“ Kims Worte waren sanft, aber eindringlich. Maja wusste, dass der Kampf verloren war, und begann endlich zu erzählen.

Die Erben des Lichtervolks

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