Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 18

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Wut

Maja kämpfte schon wieder mit den Tränen. Diesmal jedoch nicht aus Traurigkeit oder aus Angst, nein, es war Wut, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie saßen am großen Tisch und schwiegen sich mit ernsten Gesichtern an. Chris hatte darauf bestanden, dass es ein zu großes Risiko wäre, den Gefangenen einfach laufen zu lassen.

„Wenn wir ihn in die Wildnis jagen und er es nicht schafft, finden sie uns. Und er wird dann auch nicht gerade gut dastehen. Es wäre gnädiger, ihn direkt umzubringen.“

Maja hatte sich von ihm abgewandt und Jason angefleht, die Möglichkeit, den Gefangenen laufen zu lassen, zumindest in Betracht zu ziehen. Doch Jason hatte sie mit einem väterlichen, traurigen Blick angesehen.

„Es tut mir leid, Maja, aber ich glaube, dass Chris Recht hat. Der Junge ist vollkommen entkräftet und dazu noch schwer verletzt. Sein Zwölfer hat ihn bei dem Scan dazu gezwungen, uns anzugreifen. Hätten wir seine Fesseln nicht gelöst, dann hätte er seine Hände jetzt nicht mehr …“ Er schauderte leicht bei der Erinnerung und auch BJ verzog angewidert den Mund. Jason rieb sich die Augen und atmete ein paarmal tief durch. „Selbst, wenn er es wie durch ein Wunder aus eigener Kraft schaffen sollte, weit genug zu laufen, so könnten wir uns dennoch nicht sicher sein, dass seine Positionsdaten nicht gespeichert wurden. Er darf auf keinen Fall mit seinem funktionsfähigen Zwölfer von hier verschwinden. Und es würde zu lange dauern, das Ding aus ihm rauszuholen, wenn er es überhaupt überleben würde. Wir wissen einfach nicht genug, um …“ Er verstummte und schaute nacheinander Sigrid und BJ an, wie um von ihnen zu hören, dass es doch möglich war.

„Wir haben bislang noch keine Möglichkeit gefunden, einen implantierten und verwurzelten Zwölfer zu entfernen“, erklärte Sigrid mit ihrer üblichen ruhigen Art und schaute Maja ernst und um Nachsicht bittend in die Augen. „Wir konnten es immer nur theoretisch durchspielen, aber wir wissen noch nicht mal, welche Version er hat. Die Chance, dass er den Eingriff überlebt, geht gegen null.“

Maja nickte ihr zu und musste den Blick abwenden. Sie biss sich auf die Lippe und schaute zu BJ, der die Stirn in Falten gelegt hatte. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und er schaute stur auf die Tischplatte vor ihm. Immer wieder schüttelte er leicht den Kopf, als versuche er, die richtige Antwort auf eine Frage in seinem Hirn zu finden.

Jason blickte Maja nun noch trauriger an und sie wusste, wie sehr es ihm widerstrebte, sie leiden zu sehen. Doch natürlich hatte die Sicherheit aller Siedler oberste Priorität. Da kam es nicht infrage, Majas Bedürfnisse über die der Gemeinschaft zu stellen. Und ihr war klar, dass sie alle nur aus Angst den Tod dieses jungen Mannes verlangten. Sie waren nicht grausam. Doch die Welt um sie herum war es sehr wohl, also blieb ihnen tatsächlich keine andere Wahl. Maja konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Alle am Tisch waren erschrocken, niemand hatte sie jemals weinen sehen. Nicht seit dem Sturz vom Apfelbaum und schon gar nicht aus Wut oder Traurigkeit.

„Es muss eine Lösung geben. Bitte, wir können ihn nicht einfach umbringen. Er hat nichts Böses an sich. Ich weiß es einfach.“ Ihre Worte waren leise, ihre Stimme bittend, aber klar und fest. Wut half.

Chris wollte seine Hand auf Majas legen, die sie an die Tischkante geklammert hatte. Auch die anderen am Tisch sahen betreten zu Boden. Ihnen war deutlich anzumerken, wie unangenehm und surreal diese Situation für sie alle war. Maja zog ihre Hand weg und Chris konnte ein kleines enttäuschtes Seufzen nicht unterdrücken.

Es kümmerte Maja gerade nicht, sollte er ihretwegen doch eingeschnappt sein. Sie wollte nicht getröstet werden. Sie wollte hören, dass sie alle gemeinsam nach einer Lösung suchen würden. So, wie sonst auch immer. Doch niemand sagte ein Wort, also sprang Maja von ihrem Stuhl auf, lief zur Tür und riss sie auf. Dann rannte sie in Richtung Waldrand über die kleine Brücke, die über den Fluss führte, weiter einen kleinen Hügel hinauf und einen schmalen, gewundenen Trampelpfad entlang in ihr Versteck. Es war auf einem kleinen Plateau oberhalb des Bergsees, der das Herzstück der Siedlung darstellte, obwohl er genau genommen nicht in der Mitte lag. Den Trampelpfad konnte man nur entdecken, wenn man wusste, wo er begann, und Maja hatte ihn persönlich ausgetreten. Zwischen den großen Felsbrocken, die auf dem Plateau verteilt lagen, gab es eine Stelle, von der aus sie über den See in den Wald blicken konnte. Gleichzeitig konnte sie aber auch, wenn sie sich anders herum hinsetzte, die Siedlung im Auge behalten. Der entscheidende Vorteil war, dass man sie von keiner ihrer Positionen aus entdecken konnte, weil Geröll, Felsen und Büsche aus der jeweiligen Perspektive die Sicht versperrten. Jetzt, mit ihrer ganzen Wut im Bauch, setzte sie sich in Richtung des Sees und versuchte, die wirren Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, wie Pfeile, zu sortieren. Ein paar Minuten lang versuchte sie, sich von den kreisförmigen Wellen, die von den Fischen an der Wasseroberfläche hinterlassen wurden, wenn sie nach Insekten schnappten, ablenken zu lassen. Doch es hatte keinen Sinn, also setzte sie sich schließlich mit einem Seufzen auf die andere Seite und schaute auf ihr Zuhause. Billy hatte die Bewachung des Gefangenen übernommen. Er lehnte neben der Eisengittertür, sein Gewehr locker über der Schulter hängend, und knabberte an seinen Fingernägeln. Maja fand es beinahe komisch, wie ruhig Billy nach außen hin immer wirkte. Aber sie wusste natürlich, dass das Nägelkauen bei ihm ein Zeichen höchster Unruhe war.

Sie wartete darauf, dass irgendetwas passieren würde. Dass Chris mit seiner Armbrust in den Keller gehen würde, um den mörderischen Plan auszuführen. Er war der richtige Mann für diese Aufgabe, dachte Maja düster und sie erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Chris würde es mit Sicherheit nicht auf die leichte Schulter nehmen, sollte der Job ihm zugeteilt werden. Er hatte einmal einen Soldaten erschossen, doch dabei hatte er seinem Opfer nicht ins Gesicht sehen müssen. Jason würde es bestimmt selbst tun wollen, damit keinem seiner Leute eine solche Bürde auferlegt wurde. Das Leben eines Menschen auf dem Gewissen zu haben, gehörte, das hatte Jason Maja einmal erzählt, zu den schlimmsten Erlebnissen, die einem widerfahren konnten. Selbst wenn das Töten gerechtfertigt gewesen war, so hinterließ es dennoch bleibende Spuren auf der Seele.

In der Siedlung war es heute sehr ruhig. Natürlich lag das daran, dass dieser Fremde aufgetaucht war. Alle Bewohner hatten Angst und machten sich Sorgen um ihre Freiheit und Sicherheit.

Als schließlich alle, die bei der Beratung in der Haupthütte dabei gewesen waren, nacheinander auf die Veranda traten, fiel Majas Blick erneut auf BJ. Er hatte es offenbar furchtbar eilig, in seinen Schuppen zu kommen. Ihr kam ein Gedanke, doch sie musste sicher sein, dass niemand sie sah, wenn sie ihn in die Tat umsetzte.

Die anderen blieben noch eine kurze Zeit auf der Veranda stehen, dann gingen sie jeder ihrer Wege. Jason ging zurück in die Küche, aber er ließ nun wieder die Tür offen stehen. Ein Zeichen dafür, dass nun die Entscheidung gefallen war. Natürlich würde es eine Abstimmung geben, doch Maja wusste, dass es nur um die Frage ging, auf welche Art der Mann, der Maja aus für sie unbegreiflichen Gründen so wichtig war, sterben sollte. Jason versuchte, sie anzufunken, vermutlich, um ihr ins Gewissen zu reden. Sie lehnte die Anfrage ab. Gerade hatte sie wirklich keine Lust darauf, sich von ihm erklären zu lassen, warum dieser Mord gerechtfertigt sein würde.

Maja verließ ihr Versteck, ging den gewundenen Pfad zurück in Richtung der Siedlung und hielt sich auf ihrem Weg im Gebüsch nahe am Waldrand. Sie lief schnell hinter der Haupthütte und Janoshs und Anitas Häuschen vorbei, dann an der Weide, auf der die Kühe friedlich grasten, und musste schließlich ein kleines Stück ohne Deckung hinter sich bringen. In geduckter Haltung eilte sie auf die Hütte zu, die zum Glück ein wenig abseits lag, versteckte sich kurz dahinter und spähte einmal rundherum, ob die Luft rein war. Dann schlüpfte sie leise und geschickt in den kleinen Schuppen.

BJ schaute nicht im Mindesten überrascht oder erschrocken drein, als da plötzlich Maja in seinem persönlichen Himmel auf Erden erschien. Er hatte also schon damit gerechnet, dass sie ihn um Hilfe bitten würde.

„Hey“, sagte er mit einem matten Lächeln auf den Lippen.

„Du bist der schlaueste und beste Techniker der Welt, BJ, bitte, ich flehe dich an: Gibt es einen Weg?“ Maja wusste, es würde ihm gefallen und der Sache dienen, wenn sie seine großartigen Fähigkeiten lobte. Doch es schien gar nicht nötig zu sein. Das Lächeln auf BJs Gesicht nahm einen verschmitzten, sogar leicht schuldbewussten Ausdruck an.

„Ich weiß nicht, Maja … ich glaube, ich hab da eventuell eine Idee. Aber ich hab es noch nie an jemandem getestet. Es wäre sozusagen … na ja, sagen wir mal so … es könnte auch schlecht für ihn ausgehen.“

„Was ist es?“, wollte Maja sofort wissen, sie klammerte sich an jeden noch so kleinen Strohhalm.

„Na ja, also unsere Ohrstecker, die sind ja nun schon ziemlich veraltet, richtig?“

Maja nickte schnell, um ihm zu signalisieren, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte.

„Und dadurch sind wir hier ja am besten geschützt vor ihnen“, sagte BJ langsam.

„Und weiter?“ Maja wollte, dass er zum Punkt kam.

„Also, es ist schon irgendwie ziemlich … wie soll ich sagen? Du hast das vorhin nicht gesehen. Der Typ ist von einer Sekunde auf die andere Amok gelaufen. Ernsthaft Maja, sowas hab ich noch nie gesehen. Dieser Zwölfer … das Ding ist ziemlich unberechenbar.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Maja nun, da sie BJs besorgte Miene sah. Das, was Jason vorhin angedeutet hatte, schien BJ sehr erschrocken zu haben.

„Er war erst ganz ruhig. Ich hab ihn eingefroren und den Scan durchgeführt. Und kaum hatte ich den Zwölfer erfasst, da fängt er an wie ein Irrer an den Fesseln zu zerren und reißt sich die Augenbinde runter. Da dachte ich schon, seine Hände müssten jeden Moment abreißen, so sehr hat er an den Seilen gezerrt. Jason musste sie durchschneiden, damit er sich nicht noch schlimmer verletzt. Er hat keinen Mucks von sich gegeben und seine Augen … Maja, die waren komplett leer. Da war kein Leben drin … ich weiß nicht … das war einfach gruselig. Und dann ist er auf uns los, aber er konnte ja nicht aufstehen und Jason hat ihn ausgeknockt. Hat ihm ’nen ordentlichen Schwinger verpasst und er ist nach hinten weggesackt. Ich hatte da schon genug Daten und wir haben uns zurückgezogen.“

„Und du meinst, der Zwölfer könnte ihn wieder … übernehmen, wenn wir versuchen ihn anzugreifen?“

„Das weniger. Wenn er betäubt ist, kann er uns nicht angreifen“, sagte BJ. „Aber … also, ich will es mal so ausdrücken, damit es für die Laien unter uns verständlich ist“, fügte er leicht spöttisch hinzu und setzte zu einer künstlerischen Denkpause an. Er hatte seine Laune schnell wieder gefunden und Maja wusste, dass er es gern spannend machte, doch sie hatte heute keine Zeit für so etwas.

„Nun spuck’s schon aus“, forderte sie ihn ungeduldig auf.

„Ich könnte mithilfe der alten Software einen Virus in die neue Software seines Zwölfers einschleusen. Der würde dann dafür sorgen, dass er falsche oder sogar gar keine Daten mehr an das Zentrum schicken kann.“ BJ zwinkerte und lehnte sich feixend, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Stuhl zurück. Für Maja klang das, was er sagte, ziemlich gut.

„Warum hast du das vorhin nicht vorgeschlagen?“, wollte sie etwas irritiert wissen.

BJ ließ die Arme sinken, setzte sich wieder auf und wirkte nun etwas nervös. „Also, wie schon gesagt, ich hab das noch nicht an Menschen getestet. Auch nicht an Tieren, und ehrlich gesagt … überhaupt noch nicht“, stammelte er. „Es ist ein rein theoretisches Modell. Ich habe ja jetzt gesehen, wie der Zwölfer auf den Fremdzugriff reagiert hat … ich weiß einfach nicht genau, wie das Ding programmiert ist, und habe auch keine Möglichkeit, es herauszufinden. Das heißt, es könnte sein, dass das Ding einen Selbstzerstörungsmechanismus besitzt“, schloss er besorgt.

„Und wenn schon Zerstörung, dann den Wirt gleich mit“, seufzte Maja und ließ sich auf einen dreibeinigen Hocker fallen, der einzigen anderen Sitzgelegenheit neben dem schicken Drehstuhl, den die Siedler BJ vor drei Jahren zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und überlegte fieberhaft, ob es das Risiko wert war. So oder so, sein Leben stand auf dem Spiel. Hier hatte sie nun eine greifbare Möglichkeit, eben jenes zu verschonen.

„Ja, es kann passieren, dass sein Hirn gebraten wird“, sagte BJ und schaute dabei wie ein Priester, der eine schlichte Wahrheit aussprach. Er duckte sich schnell weg, weil Maja ihm einen Klaps auf den Hinterkopf geben wollte. „Aber die Chance, dass er überlebt, besteht zumindest theoretisch. Und das ist es doch, worum es dir geht, oder?“

Das stimmte auf jeden Fall. Maja verschränkte die Arme vor der Brust und schaute BJ mit zusammengekniffenen Augen an.

„Ich will es Jason sagen. Und ich wünsche mir, dass du bitte mitkommst.“ Majas Entschluss war gefasst. Sie würde das Risiko, ihn zu verlieren, in Kauf nehmen, wenn es dafür wenigstens die Chance gab, dass sie alle heil aus dieser Situation entkamen.

Die Erben des Lichtervolks

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