Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 12
ОглавлениеBefürchtungen
Als Maja sich am späten Nachmittag erschöpft und durchgeschwitzt von der Arbeit auf dem Feld aufrichtete, war sie unruhiger als jemals zuvor. Die Nervosität hatte im Verlauf des Tages in immer größer werdenden Wellen an ihr genagt und an ihren Nerven herumgezerrt. Dabei war es vermutlich nicht hilfreich, dass sie sich keine Pause gegönnt und weder etwas gegessen noch getrunken hatte. Allerdings hatte sie auch den ganzen Tag über keinerlei Hunger oder Durst verspürt. Sie hatte die Ablenkung gesucht, sie nicht gefunden und weitergesucht, um nicht den Verstand zu verlieren. Aber nun forderte ihr Körper mit deutlichem Nachdruck den Feierabend ein. Ihre Muskeln fühlten sich sehr seltsam an, nicht einfach nur verspannt und müde von der Arbeit; ihre Arme und Beine waren von einem vibrierenden, stechenden Summen erfüllt, als ob sich Billys Bienen in den falschen Stock verirrt hätten. In ihrer Brust und in ihrem Bauch währenddessen, herrschte ein schweres, bleiernes Druckgefühl. So erschlagen hatte sie sich noch nie nach einem Tag Feldarbeit gefühlt und sie glaubte nicht, dass ihre Erschöpfung allein von der Anstrengung kam.
Maja strich sich eine der dunklen, lockigen und vom Schweiß und der Sonnenwärme ganz strohigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und richtete ihren Blick auf die Stelle am Waldrand, an der, wie sie wusste, die Männer auftauchen würden. Doch würden sie heute noch kommen? Es war bereits spät, die Sonne ging in weniger als zwei Stunden unter und wer weiß, ob sie nicht beschlossen, lieber noch eine Nacht zu lagern.
Maja war sich mittlerweile sicher, dass die nervöse Unruhe mit der Abwesenheit der Jäger zusammenhing. Sie wollte, dass sie endlich zurückkamen. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie das so unbedingt wollte. Natürlich waren immer alle in der Siedlung froh, wenn sämtliche Bewohner sicher und gesund innerhalb ihrer selbstgesteckten Grenzen waren. Solche Sorgen wie dieses Mal hatte sich Maja allerdings noch nie zuvor gemacht. Ob das mit dem Fest der Auren zusammenhing? Damit, dass in diesem Jahr bisher alles, inklusive des Wetters, positiver gewesen war, als in den Jahren zuvor? Denn auch in dieser Hinsicht war sich Maja inzwischen sicher: Die Unruhe war eine Art erwartungsvoller Erregung. Sie spürte etwas auf sich und auf ihre Liebsten zukommen. Doch was es war, welcher Art dieses Etwas war, das konnte Maja nicht einschätzen. Ob es etwas Positives oder aber etwas Negatives nach sich ziehen würde, war ein großes Rätsel und das machte Maja Angst. Ganz mit ihren kreisenden Gedanken beschäftigt, brachte sie die Werkzeuge des heutigen Arbeitstages in den Schuppen zurück. Brina und Selina hatten sich schon vor etwa einer Stunde verabschiedet.
Sie hatten nach dem Mittag bereits mit der Aussaat beginnen können und dank des allgemein hohen Tempos schafften sie es auch noch, einen großen Teil des Unkrauts zu zupfen, welches sich zwischen den aufkeimenden Getreidehalmen des angrenzenden Feldes selbst angepflanzt hatte. Wenigstens konnten sie das störende Grünzeug auf den großen Komposthaufen werfen, wo es dann zu neuer Erde und wertvollem Dünger fermentierte. Die Natur, fand Maja, war noch immer die größte Künstlerin von allen. Ganz dicht gefolgt von Anita. Man konnte so viel von ihr, von den beiden, lernen.
Maja wusch sich am großen Wasserfass neben dem Holzschuppen der Haupthütte Gesicht, Haare und Arme und ging dann direkt in ihr Zimmer. Sie öffnete ihr Fenster und stieß den einen Fensterladen mit dem Loch auf, den sie heute Morgen scheinbar vergessen hatte. Dann hob sie die ebenfalls achtlos fallengelassene Bluse vom Boden auf und hängte sie über die Stuhllehne. Sie fand sich ziemlich doof dabei und rügte sich selbst für ihre Unachtsamkeit gegenüber dem Opfer, dass die Beschaffung des feinen Stoffes gekostet hatte. Elenor war damals noch nicht so furchtbar krank gewesen und hatte eine dünne Rolle des blauen, seidigen Stoffes aus einer Spinnerei auf dem Gelände des LFA geklaut. Dabei war sie von einer jungen Sklavin beobachtet worden. Das Mädchen, sie war beinahe noch ein Kind gewesen, hatte für einen Moment ihre Arbeit unterbrochen und Elenor hinterhergeblickt. Diese war über den Stahlgitterzaun geklettert und hatte sich in die Büsche dahinter fallen lassen, um mit ihrer Beute zu entkommen. Einer der Wachsoldaten hatte gesehen, dass die Sklavenarbeiterin sich nicht mehr auf die Kartoffeln, die sie gerade bewässerte, konzentrierte und sie umgehend mit einem Kopfschuss getötet. Elenor hatte den Schuss gehört und sich gerade noch rechtzeitig umgedreht, durch die dünnen Äste gespäht und erkannt, dass das Mädchen in ihre Richtung geblickt hatte. Sie sah auch, dass der Soldat sich bereits auf den Weg machte zu überprüfen, was die nun tote Sklavin von ihrer Arbeit abgehalten hatte. Elenor hatte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Sie hatte Maja diese Geschichte erst am Sterbebett erzählt, weil es sie seither gequält hatte, dass ein Kind wegen ihr hatte sterben müssen. Elenor war die Musikerin der Siedlung gewesen und als der grausame Magenkrebs, für den es zumindest in der Wildnis keine Heilmittel gab, sie nach einem kurzen, aber erbitterten Kampf besiegt hatte, wäre mit ihr auch die Musik in der Siedlung beinahe gestorben. Maja dachte außerdem daran, dass Elenor es gewesen war, die sie auf ihre schöne Gesangsstimme aufmerksam gemacht hatte und sie immer dazu ermutigt hatte, diese zu trainieren.
Damals hatte Maja zum ersten Mal Hass empfunden. Hass gegen das Zentrum und die Forscher, die über die modernsten und effektivsten Medikamente verfügten, sie jedoch nicht für ihre Arbeiter einsetzten, weil sie diese als wertlos und austauschbar erachteten. Es gab das Gerücht, dass sie sogar, unter gewissen Voraussetzungen, den Tod rückgängig machen konnten, doch daran wollte Maja nicht glauben. Einer der Durchreisenden, Maja hatte seinen Namen vergessen, hatte diese wahnwitzige Geschichte erzählt und auch ein paar andere schreckliche Sachen. Niemand war damals traurig gewesen, als er beschlossen hatte, sich wieder auf seine eigene Reise zu begeben. Maja schüttelte den Kopf, strich noch einmal über die Bluse und dachte nun mit einem wehmütigen Gefühl, zusätzlich zu ihrer Unruhe, an Elenor und ihre Schatzsuchen zurück. So hatte sie ihre Beutezüge immer genannt und tatsächlich hatte sie oft die wertvollsten Sachen gefunden. Ihre letzte Entdeckung war die Destille gewesen.
Maja seufzte schwer und setzte sich auf die große, grobe Holzkiste, die sie unter das Fenster geschoben hatte, wodurch sie einen guten Blick auf den alten Vorratskeller und den dahinter liegenden Saum des Waldes hatte. Sie zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Von hier aus würde sie es mitbekommen, falls Chris, Tobi und die anderen zurück von ihrem Beutezug kamen. Hoffentlich würden sie bald erscheinen. Maja wusste nicht, wie lange sie diese nagende Unruhe noch ertragen konnte. Sie legte den Kopf auf die Knie, noch immer in ihren Arbeitssachen, und starrte den Wald an, als könnte sie ihn dazu zwingen, die Menschen preiszugeben, die sich in ihm aufhielten.
Als Jason eine Stunde später an ihre Tür klopfte, war die Sonne bereits hinter den hohen Wipfeln der Bäume verschwunden und die Dämmerung war heraufgezogen. Ohne Majas Antwort abzuwarten, öffnete Jason die Tür und trat in das düstere Zimmer. Maja wusste zwar, dass sie nur für die nächsten drei Stunden Strom haben würde, um die kleine Schreibtischlampe zu erleuchten, aber sie hatte sie nicht eingeschaltet.
„Möchtest du zum Abendessen kommen, Maja? Ich hab uns etwas Speck in der Pfanne gebraten.“
Das klang wirklich verlockend und jetzt, da Jason es sagte, roch sie den herrlichen Duft. Maja wusste wirklich nicht, ob ihr Magen in der Lage war, irgendetwas zu verdauen. Dennoch nickte sie und erhob sich dann aus ihrer steifen, angespannten Haltung. Sie bemerkte erst, als sie aufstand, dass ihre Muskeln schmerzten und dass sie fror.
Das Abendessen verlief schweigsam. Mühsam kaute Maja jeden Bissen öfter, als es nötig gewesen wäre, sie konnte kaum richtig schlucken. Der warme Tee half auch nicht wirklich. Nicht einmal gegen die innerliche Kälte, die sie fest und unnachgiebig ergriffen hatte.
„Okay, Liebling, ich halte es nicht mehr aus. Was bei allen guten Mächten ist mit dir los? Du bist blass und siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Die Sorge war Jason deutlich anzuhören. Maja wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte. Obwohl sie immer gewusst hatte, dass Jason nicht ihr richtiger Vater war, so war er doch der beste, fürsorglichste und liebevollste Ersatzvater gewesen, den sich ein kleines, verwaistes Mädchen nur wünschen konnte. Maja rang mit sich und mit den Ängsten, die sie plagten. Sie wollte es Jason erzählen, wollte, dass er sie beruhigte. Und dann platzte es endlich aus ihr heraus.
„Ich habe Angst. Aber ich weiß nicht wovor. Ich glaube, dass irgendwas passiert, wenn die Jungs zurückkommen. Aber ich kann dir nicht sagen, was es ist.“
Angst und Frust schwangen in Majas Stimme mit. Sie bemerkte mit Staunen, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Das war nun wirklich etwas Neues. Normalerweise neigte Maja nicht dazu, nah am Wasser gebaut zu sein. Der starke, unnachgiebige Druck in ihr musste sich allerdings scheinbar doch irgendwann einen Weg an die Oberfläche bahnen.
„Oh, Schätzchen. Was ist denn passiert?“
Jason rückte auf Majas Bank und legte ihr einen Arm um die Schultern. Dann zog er sie an sich, und sie ließ es zu, dass er sie fest in den Arm nahm und sanft wiegte. Wie lange war es her, dass Jason sie so getröstet hatte? Sie war noch ein Kind gewesen und von einem Baum gefallen, erinnerte Maja sich.
Die Tränen liefen nun ungehindert und nur Majas leises Schluchzen und Jasons beruhigend geflüsterte Worte erfüllten den Raum.
„Liebling, du kannst mir alles erzählen. Das weißt du doch, oder? Machst du dir Sorgen um unsere Sicherheit? Ich versichere dir, BJ hat alles fest im Griff. Er und Mike werden es nicht zulassen, dass irgendwer hier in Gefahr gerät.“
Maja nickte schniefend. Sie schaffte es nur mit Mühe und Not, ihr Schluchzen wieder unter Kontrolle zu bringen.
„BJs Klimperkiste hat uns noch nie im Stich gelassen, oder?“, setzte Jason noch hinzu und gab ihr einen sanften Kuss auf den Scheitel. Maja schniefte und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie fand den Namen, den Jason BJs Rechner gegeben hatte, wirklich merkwürdig, aber auch irgendwie witzig. Sie wusste, dass BJ den Namen nicht leiden konnte. Doch da er selbst immer allem und jedem einen Spitznamen gab, konnte er nichts gegen Jasons kleine Spitze einwenden.
Maja schnäuzte sich die Nase mit einem Lappen, den Jason ihr mit einem liebevollen Lächeln reichte. Dann sagte sie, immer noch mit bebender Stimme: „Es ist nicht so, dass irgendwas passiert wäre. Es ist mehr so ein Gefühl. Ich kann es kaum beschreiben. Ich hab es schon ein paar Tage bemerkt und hab mir erst nichts dabei gedacht, aber inzwischen ist es unerträglich geworden. Und ich weiß nicht, woher es kommt.“
Die Traurigkeit in ihrer Stimme war bei diesem letzten Satz in Frust umgeschlagen. Maja kannte es einfach nicht, sich so zu fühlen, trotz der vielen Gefahren, denen sie beinahe täglich begegnete. Jason hielt sie noch einen Moment fest, auch als sie sich bereits beruhigt hatte. Dann lösten sie sich voneinander und Maja dachte, dass es wohl besser wäre, wenn sie ins Bett ging. Offensichtlich kamen Chris, Tobi, Mike und Billy heute nicht zurück. Vielleicht konnte sie nun, nachdem der Druck etwas nachgelassen hatte, tatsächlich ein wenig schlafen. Sie wünschte Jason eine gute Nacht und ging in ihr Zimmer zurück. Dort zog sie sich rasch aus und zwang sich, sofort ins Bett zu gehen und sich nicht mehr ans immer noch geöffnete Fenster zu setzen. In weniger als einer Stunde würde sowieso das Licht ausgehen und dann könnte sie nicht mehr erkennen, was sich am Waldrand abspielte. Maja kuschelte sich in die warme, selbstgestrickte Wolldecke und schloss die Augen. Zunächst wollte der Schlaf nicht über sie kommen, zu sehr war sie noch mit ihren widerstreitenden Gefühlen und Ängsten beschäftigt. Und ihr war, trotz der Decke, noch immer ein wenig kalt. Doch schließlich siegte die körperliche Erschöpfung und Maja fiel in einen unruhigen und sehr leichten Dämmerschlaf.