Читать книгу Die Erben des Lichtervolks - Sabrina Schluer - Страница 16

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Ungeduld

Es war etwa halb zehn am Vormittag, als Jason sich auf den Weg zu der kleinen Hütte etwas abseits der drei Haupthäuser der Siedlung gemacht hatte. Nach seinen Gesprächen mit Janosh, der ihm auf seine ruhige und erfahrene Art Mut zugesprochen hatte, fühlte Jason sich in seinem Handeln bestätigt. Er hatte Maja gesagt, dass sie sich aus der ganzen Angelegenheit heraushalten müsse, bis er ihr sagte, dass die Gefahr gebannt sei. Janosh hielt es ebenfalls für klug, in diesem speziellen Fall auf den Maja-Test zu verzichten. Es war das erste Mal in der Geschichte der Siedlung, dass Jason nicht auf ihre verlässliche Menschenkenntnis zurückgriff, und er wusste, dass er Maja damit verletzte. Deswegen wollte er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und brannte darauf, mit BJ zu sprechen. Er schritt weit aus, so weit, wie es ihm möglich war, und ging zügig auf das windschiefe kleine Holzhaus zu. Er wusste, wo er BJ zu dieser Tageszeit fand. Der junge Technikfreak war nicht in der Hütte, in der er gemeinsam mit seiner Schwester Selina und seinen Eltern Mike und Brina wohnte, sondern in einem kleinen Schuppen, den er sich extra für sein praktisches Hobby zusammengenagelt hatte. Sie hatten nur zwei Zimmer, daher verstand Jason gut, dass BJ ein wenig mehr Platz für sein ganzes technisches Equipment gebraucht hatte. Ansonsten aber fanden sie alle die Tatsache, über eine sehr eingeschränkte Privatsphäre zu verfügen, nicht schlimm, eher im Gegenteil. Jason war immer schon, seit er die vier kannte, fasziniert davon gewesen, welchen Zusammenhalt diese Familie an den Tag legte. Gegen alle Widerstände hatten sie sich ihren Weg in die Freiheit mühsam erkämpft. Sie hatten dabei Mikes Eltern und Brinas Schwester verloren. Brina hatte Jason einmal erzählt, dass sie eigentlich froh war, dass ihre Schwester gestorben und nicht dem Zentrum in die Hände gefallen war. Sie sagte, sie habe den Gedanken nicht ertragen können, dass ihre Schwester womöglich als Sklavin elendig zu Grunde gegangen wäre. Jason konnte das nur zu gut verstehen. Wenigstens war sie als freier Mensch gestorben.

Nach seiner Wachtschicht hatte Jason kaum ein Auge zu getan. Die Auseinandersetzung mit Maja hatte ihn aufgewühlt zu Bett gehen lassen und auch jetzt, nur wenige Stunden später, fühlte er den wachsenden Druck und die Verantwortung, die auf seinen Schultern lagen. Er wollte seine Leute nicht enttäuschen. Und noch viel wichtiger war, dass er Maja nicht enttäuschte.

Zielstrebig ging er auf die aus Brettern zusammengeleimte Tür zu. Ein herzförmiges Loch war über dem Schild mit der Aufschrift „TEXT WIRD AUF WUNSCH EINGEFÜGT“ in die Tür gesägt worden. Das Herz war neu. Jason musste über diesen kleinen Scherz grinsen. Chris hatte BJs Schuppen immer mal wieder „Klohäuschen“ genannt. Er meinte das nicht böse, es war mehr ein freundschaftlicher Schlagabtausch. Offenbar hatte BJ sich nicht lumpen lassen. Jason klopfte, wartete aber nicht auf eine Antwort und betrat die enge, etwas staubige Hütte. Hier drin war alles so arrangiert, dass BJ jeden Winkel von seinem Schreibtisch aus erreichen konnte. Er musste sich lediglich auf seinem Stuhl hin und her drehen, um an alles heranzukommen. Durch die vielen technischen Gerätschaften herrschten hier immer höhere Temperaturen als an jedem anderen Ort in der Siedlung. Im Sommer konnte man es bei geschlossener Tür nicht darin aushalten und selbst jetzt wurde es schon ein wenig stickig.

„Was geht, Boss? Hast du schon wieder deine Safetys gesprengt?“ nuschelte BJ an einem Stück Brot kauend und ohne vom Bildschirm aufzublicken, auf dem allerlei Zahlen und Buchstaben in seltsamen Kombinationen geschrieben standen. Weiße Schrift auf schwarzem Grund. Manchmal war die Schrift auch grün.

BJ war ein schlaksiger, hochgewachsener Jugendlicher. Er trug meistens dunkle Kleidung und sah irgendwie immer aus, als hätte man ihn an Armen und Beinen in die Länge gezogen. Ebenso lang wie seine Gliedmaßen waren die strohfarbenen, strähnigen Haare, die er permanent unter einer großen, schwarzen Wollmütze verbarg. Jason fragte sich manchmal, ob er sie zum Schlafen wohl abnahm. BJ ließ immer eine fingerdicke Haarsträhne über seinem rechten Auge heraushängen, was seiner Meinung nach cool aussah. Jason hätte die Haare vor dem Auge eher als störend bezeichnet, aber so war das eben bei Teenagern.

„Heute nicht, Kleiner“, sagte Jason und ging nicht auf BJs kleine Stichelei ein. „Wie ich sehe, bist du unter die Romantiker gegangen“, gab er stattdessen in Anspielung auf den neuen Türschmuck zurück. BJ schluckte seinen Bissen hastig herunter, zwinkerte hinterlistig, wühlte kurz in einer Schublade und zog dann einen Kerzenstummel hervor. „Wenn du es richtig romantisch haben willst, brauch ich kurz dein Feuerzeug.“

Jason musste lachen und das tat unheimlich gut. „Ich hab einen Auftrag für dich. Sozusagen eine Sondermission“, sagte er und reichte BJ das Feuerzeug.

„Hab schon drauf gewartet. Dad hat mir heute Morgen alles erzählt. Klingt ganz nach einem Fall für die Spezialausrüstung.“ BJ hatte das Wachs am unteren Ende der Kerze verflüssigt und stellte den Stummel auf den Schreibtisch, sodass er aufrecht stehenblieb. Dann entzündete er die kleine Kerze und strahlte Jason schelmisch an. Er klang genauso begeistert, wie Jason es bereits erwartet hatte. „Ich kann in zwei Minuten rausfinden, ob er ein dreckiger Spitzel ist oder nicht, Boss“, sagte er eifrig.

„Ich hatte nichts anderes erwartet“, erwiderte Jason zufrieden und beobachtete mit leisem Staunen, wie BJ zielstrebig in zwei Fächer seines von Safetys, Obwatches, Steckerboxen und allerlei anderem Krimskrams überfüllten Regals griff, wobei zwei kleine, wie Handscanner aussehende Apparaturen zum Vorschein kamen. Er pustete sie einmal kräftig ab, dann betrachtete er sie kurz, aber eingehend und machte dabei ein Gesicht, als schaue er soeben auf den heiligen Gral der Technikfreaks.

„Ich denke, ich hab alles, was ich brauche. Neuroscanner und Facelock sollten erstmal ausreichen.“ BJ klang ganz cool und abgeklärt. Als sei es das normalste auf der Welt, dass er einen gefangenen potenziellen Spion des Feindes untersuchen musste. Jason grinste nun noch breiter.

„Gib’s zu, Kleiner. Du hast schon ewig darauf gewartet, die Dinger mal richtig benutzen zu dürfen.“

Er zwinkerte und BJ konnte nun auch nicht mehr anders, als zurückzugrinsen. „Hast mich erwischt, Boss. Darauf war ich schon scharf, seit ich die Prachtstücke hier habe. An denen ist alles noch original.“

Vorsichtig, als könnten die Scanner jederzeit zerbrechen, verstaute er seine kostbaren Spielzeuge in seinem schwarz-orangenen Rucksack. Wegen dieses Rucksacks war er schon einige Male mit Mike und auch mit Chris aneinandergeraten. BJ trug ihn immer, wenn er mit den Jungs auf einen seiner seltenen „Einkläufe“ ging. Das brachte die sehr auf gute Tarnung bedachten Männer furchtbar auf die Palme.

Jason ging rüber zur Wohnhütte und klopfte an die Tür. BJ pustete die Kerze aus und folgte ihm mit wiegenden Schritten. Brina öffnete und sah ein wenig wütend aus.

„Guten Morgen, Jason. Mike ist schon beim Vorratskeller“, schnappte sie wie ein knurrender kleiner Hund. Jason wusste, warum Brina so auf die Neuigkeiten ihres Mannes reagierte, und nahm ihren Tonfall nicht persönlich.

„Das ist gut. Dann kann er beim Scan dabei sein“, sagte er und Brina nickte schmallippig.

„Och Mann, ich dachte ich könnte mal alleine …“, hob BJ an, doch Jason unterbrach ihn.

„Lass uns bitte sofort aufbrechen, ich möchte es hinter mich bringen“, sagte er, darum bemüht, sich seine Anspannung nicht zu sehr anmerken zu lassen.

„Pass auf dich auf, BJ“, mahnte Brina noch mit sorgenvollem Blick und ging dann wieder hinein.

Auf dem Weg zum Vorratskeller, erzählte BJ Jason von seinen neuesten Kniffen in Sachen Observation.

„Ich hab die Obwatches nochmal überarbeitet und ein bisschen in den Programmen rumgespielt. Die Zielmarkierungen werden jetzt direkt auf die digitale Map der Safetys übertragen und müssen nicht mehr manuell eingegeben werden. Und ich konnte die Reichweite nochmal um zehn Quadratkilometer erweitern“, sagte er stolz, während er mit seinen langen Beinen weit ausholte, um mit Jason Schritt zu halten. „Wir können jetzt fast bis zur Vorstadt gucken.“

„Das klingt sehr gut, BJ. Ich bin wirklich froh, dass du dich so um unsere Sicherheit kümmerst.“

„Dad meinte, der Typ hatte eigentlich nichts von einem Spion an sich, außer der Tatsache, dass er sich leise und geschickt bewegen konnte“, überging BJ das Kompliment und versuchte nun offenbar so zu klingen, als ob er nicht dringend wissen wollte, was es mit dem mysteriösen Gefangenen wirklich auf sich hatte.

Teenager, dachte Jason erneut bei sich und schmunzelte verhalten. Wie froh er war, dass diese Suche nach der eigenen Identität verhältnismäßig schnell vorüber war. Wobei er sich bei Maja nie hatte beschweren können. Sie hatte nie die typischen Pubertäts- und Trotzphasen der Kinder und Jugendlichen durchgemacht, die Jason kannte. Und wenn doch, so hatte Jason es zumindest nie wirklich bemerkt.

„Das werden wir ja gleich herausfinden“, antwortete er und konnte es selbst kaum erwarten. „Wir lassen ihn am besten nicht zu Wort kommen, bis wir die Ergebnisse der Scans haben. Ich will auf Nummer sicher gehen“, fügte er noch hinzu. Er dachte an die Soldaten im Arbeitslager, die durch bestimmte Schlüsselwörter für Bestrafungen der ohnehin entkräfteten Sklaven sorgen konnten oder Verstärkung anforderten. Was, wenn dieser Typ auch solche Schlüsselwörter kannte, um sich mit seinen Leuten in Verbindung zu setzen? Was, wenn der Typ im Netz und die Truppen schon auf dem Weg zu Ihnen waren?

„Ist okay, Boss. Das sollte kein Problem sein. Wenn du mir nochmal erzählst, dass du nicht schnell genug fürs Jagen bist …“ BJs Tonfall ließ vermuten, dass er sich darüber wunderte, wie schnell Jason mit diesem verdammten Stock werden konnte. Die Unruhe und die neuen Zweifel, die ihm eben gekommen waren, trieben ihn zur Eile.

Mike und Chris standen vor der Gittertür und teilten sich den Wachtposten.

„Da bist du ja“, grüßte Mike und Jason schlug in die angebotene Hand ein.

„Ich gehe dann und löse Dad mit dem Obwatch ab“, sagte Chris, grüßte Jason und BJ kurz und machte sich auf den Weg nach Hause. Er sah ziemlich müde aus und Jason wollte ihm eigentlich sagen, er solle sich mal eine Pause gönnen. Aber er wusste, dass Chris nicht auf ihn hören würde, also ließ er ihn ziehen. Und so wie er Billy kannte, hatte dieser die halbe Nacht mit der Überwachung der Siedlung verbracht und brauchte nun auch dringend eine Mütze voll Schlaf.

„Ich schaue von hier oben aus zu“, erklärte Mike und stellte sich hinter Jason und BJ in den Türrahmen, als sie den Vorratskeller betraten.

Die drei schmalen Lehmstufen waren vom vielen Auf- und Absteigen schon ganz ausgetreten und Jason spürte wieder dieses Kribbeln im Nacken. Er hatte es schon heute Nacht gespürt, als er den schlafenden Mann durch die oberste Spalte der Gittertür beobachtet hatte. Im Schein der Wandfackel hatte er nur sein Gesicht sehen können. Es hatte im Schlaf friedlich ausgesehen. Trotz der Augenbinde, die ja den wichtigsten Teil seines Gesichts verbarg, hatte es diese seltsame Unschuld ausgestrahlt, die Jason sich nicht erklären konnte. Aber da war eben auch dieses Kribbeln gewesen, es hatte ihn beunruhigt. Vor allem, weil er nicht wusste, woher genau es kam und was es auslöste. Bei seinem kurzen Gespräch mit dem Gefangenen hatte er nicht den Eindruck gehabt, dass dieser ihn anlog. Selbst wenn er ihm nicht in die Augen sehen konnte, so hatte Jason genug Erfahrung damit, den Augenkontakt allein nicht als Indikator für die Ehrlichkeit seines Gegenübers zu nehmen. Blickkontakt hieß in der neuen Welt, dass man nie ganz sicher sein konnte, mit wie vielen Augen und Ohren man seine Geheimnisse teilte.

Unten angekommen, schaltete Jason die kleine Deckenleuchte ein, deren Stromversorgung bei Bedarf eingerichtet werden konnte. Der Gefangene war an der Wand heruntergerutscht und auf die Seite gefallen. Durch die Fesseln an seinen Händen und Beinen sah es fast so aus, als läge dort ein zu groß geratener Säugling.

„Na endlich“, sagte der Säugling, „ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen.“

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