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ОглавлениеMalte Nielsen wälzte sich unruhig in seinem Bett hin und her. Es war bereits hell im Zimmer, die Sonne schien durch die Lamellen der aluminiumfarbenen Jalousie.
Er hatte schlecht geschlafen. Genauer gesagt: Er hatte fast gar nicht geschlafen. Bis tief in die Nacht hatte er vor dem Fernseher gesessen, dazu das eine oder andere Bier getrunken. Als er sich schließlich auf sein Bett gelegt hatte, war er immer noch hellwach gewesen.
Er schlug die Bettdecke zur Seite, setzte sich auf und griff nach der Zigarettenschachtel, die auf dem Beistelltisch neben dem Sofa lag. Das Feuerzeug flammte kurz auf, er zog kräftig an der Zigarette, bis feine Rauchschwaden Richtung Zimmerdecke schwebten. Sein Telefon klingelte. Sicher die Klinik, dachte er. Die können mich mal!
Er arbeitete als Krankenpflegerhelfer in der Husumer Klinik. Heute hatte er erst am Nachmittag Dienst. Er hasste die Arbeit im Krankenhaus. Die Patienten gingen ihm auf die Nerven. Ihr Gejammer machte ihn aggressiv. Und dann dieser Gestank. Diese Mischung aus Urin, Kot, Erbrochenem und Tod. Sein Magen rebellierte, wenn er nur daran dachte. Und all das für einen Hungerlohn, den man ihm dafür zahlte. Lange würde er diesen Job nicht mehr machen, da war er sich ganz sicher.
Er stand auf, ließ die Zigarettenkippe in eine der herumstehenden Bierflaschen fallen und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem, doch außer einem schimmligen Stück Käse und abgelaufener Milch gab es nichts. Er schlüpfte in ein paar dreckige Jeans, griff nach der Cordjacke, die auf dem Sofa lag, und verließ die Wohnung. Vor der Haustür zündete er sich die nächste Zigarette an.
Er hörte erneut das Telefon klingeln und machte kehrt.
»Was gibts?«
Malte wich plötzlich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Der Boden drehte sich unter seinen Füßen. Er tastete rückwärts nach dem Sofa und ließ sich verstört auf die Polster fallen.
Sie fuhren durch Bredstedt, als Toms Handy klingelte. Er hielt kurz am Straßenrand und nahm das Gespräch entgegen.
»Vielen Dank, Herr Günzel. Ich melde mich am Montag bei Ihnen. Wiederhören!«
Tom lächelte selbstzufrieden.
»Ich hab den Job«, beantwortete er Haies fragenden Blick.
»Glückwunsch! Wobei ich immer noch nicht verstehen kann, wie du diesen Managertypen solcher großen Unternehmen auch noch helfen kannst, ihre Taschen noch voller zu machen. Und der kleine Mann steht auf der Straße. Also, gerecht finde ich das nicht!«
Tom war Teilhaber einer Münchner Unternehmensberatung. Seit er nach Risum-Lindholm gezogen war, arbeitete er von Zuhause aus und baute sich vor Ort einen neuen Kundenstamm auf. Das Unternehmen ›Motorola‹, welches seit wenigen Jahren auch einen Standort in Flensburg hatte, war für Tom ein enormer Fortschritt hier im Norden.
»Ach was«, setzte er der Kritik des Freundes entgegen, »gerade das will ich doch alles optimieren. Und wenn das Unternehmen schwarze Zahlen schreibt, muss auch keiner auf der Straße stehen!«
»Aber die Manager füllen sich trotzdem die eigenen Taschen. Das ist wie bei ›Sesam, öffne dich!‹. Nur dass hier keiner diese habsüchtigen Geier umbringt!«
»›Sesam, öffne dich!‹? Was haben denn Ali Baba und seine Räuber mit ›Motorola‹ zu tun?«
»Nee, nicht Ali Baba! Hier in der Gegend von Husum soll es mal zwei Brüder gegeben haben. Der eine klein und arm und der andere groß und reich. Der kleinere der Brüder hatte im Wald Räuber beobachtet, die eine Klippe, in der viel Geld versteckt war, mit ›Sesam, tue dich auf!‹ öffneten. Als die Räuber wieder verschwunden waren, ging er zu der Klippe und sprach: »›Sesam, tue dich auf!‹« Drinnen füllte er seinen Sack mit Geld. Leider erzählte er seinem Bruder davon. Der ritt gleich mit sechs Eseln zu der Klippe. Den Rat seines kleinen Bruders, sich aufzuschreiben, was er zu der Klippe zu sagen hatte, missachtete er. »›Sesam, tue dich auf!‹«, sprach er, um die Klippe zu öffnen, und füllte im Inneren seine Säcke randvoll mit Geld. Als er allerdings die Klippe wieder verlassen wollte, hatte er vergessen, welchen Spruch er zum Öffnen der Klippe verwandt hatte. Als die Räuber zurückkamen, ermordeten sie ihn. Das hatte er eben von seiner Vermessenheit und Habsucht!«
»Na, übertreibst du nicht ein bisschen?«
»Ich finde, das ist ein sehr lehrreiches Märchen.«
Marlene legte enttäuscht den Hörer auf die Gabel des schwarzen Tastentelefons. Sie hatte die Liste nun schon beinahe abtelefoniert. Über die Hälfte der Leute hatte sie jedoch nicht erreicht. Selbst Heikes Exfreund hatte sie angerufen. Aber laut ihm hatten er und Heike seit der Trennung keinerlei Kontakt mehr gehabt. Die gescheiterte Beziehung war mit ein Grund für Heikes Umzug nach Niebüll gewesen. Natürlich war zunächst der Job ausschlaggebend gewesen, aber sie war auch froh darüber gewesen, dass sie eine Stelle 200 Kilometer entfernt von ihrem Ex gefunden hatte. Hier erinnerte sie wenigstens nicht die Umgebung ständig an ihn und es bestand auch nicht die Gefahr, ihm überraschend auf der Straße zu begegnen.
Marlene überlegte, ob sie nicht doch Heikes Mutter anrufen sollte. Eigentlich wollte sie diese nicht unnötig beunruhigen. Heikes Schwester hatte gesagt, dass sie gestern mit der Mutter telefoniert hatte. Von Heike sei allerdings nicht die Rede gewesen. Wenn die Tochter jedoch zu Besuch gewesen wäre, hätte ihre Mutter das ganz bestimmt während des Telefonats erwähnt. Marlene nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe.
Plötzlich klingelte das Telefon. Eilig nahm sie den Hörer ab.
»Hallo?«
»Frau Andresen?«
»Nein, ich bin Marlene Schumann. Eine Freundin.«
»Oh.«
Der Anrufer war offensichtlich überrascht. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand abnehmen würde. Und schon gar nicht eine fremde Person.
Marlene unterbrach das überraschte Schweigen.
»Mit wem spreche ich denn?«
Der Anrufer räusperte sich.
»Ich bin Professor Voronin. Der Vorgesetzte von Frau Andresen. Ich muss sie dringend sprechen!«
»Das tut mir leid. Aber meine Freundin ist nicht da. Hat sie sich denn immer noch nicht in der Klinik gemeldet?«
»Nein, aber allmählich sollte sie das tun! Ich wollte ihr eigentlich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber nun kann ich es auch Ihnen sagen. Ihre Freundin sollte schnellstens im Krankenhaus auftauchen, sonst kann sie ihren Job vergessen! Auf Wiederhören!«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte der Professor auf. Sie blickte verdutzt auf den Telefonhörer. Mit dem war nicht gut Kirschen essen. Heike hatte nie etwas darüber erzählt, dass ihr Chef offenbar ein Tyrann war. Überhaupt hatte sie sehr wenig von ihrem Job erzählt. Was, wenn ihr die Arbeit doch nicht so viel Spaß gemacht hatte, wie Marlene angenommen hatte? Vielleicht war ihr die Stelle im Krankenhaus egal und sie meldete sich deswegen nicht?
Sie stand auf und trat ans Fenster.
»Wo steckst du nur?«, murmelte sie leise vor sich hin.