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Professor Voronin lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, fuhr sich mit den Händen durch sein schütteres, graues Haar. Er war müde. Der Aktenberg auf seinem Schreibtisch wurde immer höher und gerade jetzt war seine Mitarbeiterin in der Versenkung verschwunden.

Er stand auf und beschloss, einen Gang durch die Station zu machen. Es war Mittagszeit, da würde seine Anwesenheit in der Hektik der Essensausgabe kaum auffallen.

Über den mit Linoleum belegten Flur schlenderte er den Gang hinunter bis zu den Räumen des Dialysezentrums. Neun Plätze hatte das Krankenhaus. An einem lag ein kleines Mädchen. Der Schlauch, der zur künstlichen Niere führte, war dunkelrot und bildete einen extremen Gegensatz zu der weißen Bettwäsche, auf der er sich teilweise entlang schlängelte. Die Augen des Mädchens waren geschlossen. Professor Voronin vermutete, dass es schlief. Als er sich jedoch umdrehte, hörte er plötzlich ein dünnes Stimmchen.

»Onkel Doktor?«

Langsam drehte er sich um, versuchte, zu lächeln.

»Ja?«

»Muss ich sterben?«

Die Augen des Mädchens blickten ihn ängstlich an. Er hatte gerade erst die neuesten Ergebnisse der kleinen Patientin studiert. Die Niere arbeitete fast gar nicht mehr, die Werte waren bedrohlich. Die Dialyse brachte immer nur für kurze Zeit eine Besserung. Wenn sich nicht bald eine Spenderniere fand, standen ihre Chancen schlecht. Doch die Wartezeiten auf ein Spenderorgan lagen zwischen sechs und acht Jahren. So viel Zeit blieb ihr wohl kaum.

Er nahm ihre Hand in seine. Sie fühlte sich kalt und leblos an.

»Bestimmt bist du bald wieder ganz gesund.«

Als er zurück in sein Büro kam, klingelte das Telefon. Es war ein Kollege aus Husum.

»Gut, dass du anrufst, Werner. Ich habe hier eine kleine Kandidatin.«

Anne saß auf der Rücksitzbank des alten Golfs und sang ein plattdeutsches Lied.

»Dat du mien Leewsten büst, dat du woll weest!«

Dirk Thamsen ließ sich nicht beeindrucken.

»Sag mal, Anne, was war denn heute los in der Schule?«

Der Gesang verstummte abrupt.

»Wieso?«

Er erzählte ihr, was die Schulleiterin gesagt hatte. Die Verdächtigungen gegen Annes Mutter, seine Exfrau, ließ er weg. Damit hatte sie nichts zu tun.

Anne verteidigte sich, sagte, dass Mira, so hieß wohl die geschlagene Mitschülerin, schließlich angefangen habe.

»Mama sei eine Schlampe und so, hat sie gesagt.«

Im Rückspiegel sah er, wie seine Tochter beschämt nach unten schaute. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Er fühlte sich mitschuldig an ihrem Kummer. Obwohl es ja seine Frau gewesen war, die gegangen war. Einfach so, nach 15Jahren Ehe. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, sie zu verlassen. Schließlich hatte er sie geliebt. Aber sie hatte behauptet, ihn nicht mehr ertragen zu können.

»Du ekelst mich an!«

Genau das hatte sie zu ihm gesagt. Diese Worte hatte sie gebraucht, um ihm mitzuteilen, dass es aus war zwischen ihnen. Es hatte ihn hart getroffen. Wochenlang hatte er sich nach Dienstschluss bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Seine Kollegen hatten sich Sorgen gemacht.

Bis er herausgefunden hatte, dass sie ihn schon während ihrer Ehe betrogen hatte, und nicht nur einmal. Von dem Zeitpunkt an hatte er nur noch Hass verspürt. Hass und abgrundtiefen Ekel. Nun war er es gewesen, der sagte: »Du ekelst mich an!«

Er parkte vor dem Polizeirevier.

»Du wartest hier. Ich bin gleich wieder da.«

Als er die Dienststelle betrat, kam ihm jedoch der Kollege von der Schutzpolizei aufgeregt entgegen.

»Gut, dass du kommst! Wir haben einen Leichenfund in der Lecker Au.«

Marlene hatte auf der Rückfahrt das Gespräch mit Malte Nielsen Revue passieren lassen.

Er hatte gelogen, zumindest was den Streit betraf. Aber er hatte überhaupt nicht nervös auf sie gewirkt. Wie konnte man nur so abgebrüht sein?

Sie hielt am SPAR-Laden, um noch ein paar Besorgungen zu erledigen. Die Dame an der Kasse blickte sie mürrisch an. Zugezogene waren hier nicht gern gesehen. Und sie war nun mal eine.

Schnell packte sie Milch, Käse, Bananen und Toilettenpapier in ihren Korb. Vor der Fleischtheke traf sie Elke. Überschwänglich begrüßte sie Marlene. Seit Haie sich von ihr getrennt hatte, quetschte sie jeden im Dorf, der mit ihrem Exmann etwas zu tun hatte, geradezu nach Neuigkeiten aus. Es war nur zu offensichtlich, dass sie ihn am liebsten wieder zurück hätte.

»Schön, dich zu treffen! Wie geht es euch?«

Marlene berichtete kurz von ihrer Arbeit im Institut und dass Tom schon erste Aufträge hatte. Als Elke jedoch das Gespräch auf Haie lenken wollte, unterbrach sie es schnell. Haie war ein Freund. Er wollte nicht zu Elke zurück und das akzeptierte sie im Gegensatz zu seiner Exfrau.

»Ich muss dann mal schnell weiter. Tom wartet.«

Sie zahlte eilig und verließ den Laden.

Tom wartete wirklich und zwar sehnsüchtig. Obwohl er Haies Äußerung bezüglich seiner Eifersucht scherzhaft abgetan hatte, der Gedanke an Marlene und einen anderen Mann hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er war froh, als er sie die Haustür öffnen hörte, und stürmte zur Begrüßung in den Flur.

»Na endlich. Das hat ja ewig gedauert. Und, was hat er gesagt?«

Sie drückte ihm die Tasche mit den Einkäufen in die Hand.

»Nichts.«

Er blickte sie fragend an.

»Und nichts hat so lange gedauert?«

Sie berichtete ihm, dass Malte Nielsen zunächst schon mal zu spät zu der Verabredung erschienen war. Und dann, dass er gelogen hatte. Mitten in ihren Ausführungen piepste ihr Handy. Sie kramte es aus ihrer Handtasche hervor.

Ungläubig starrte sie auf die Nachricht.

»Was ist?«

»Von Heike. Es geht ihr gut. Ich soll mir keine Sorgen machen. Sie ruft an, sobald es geht.«

Tom lächelte sie an.

»Das sind doch tolle Neuigkeiten!«

»Ja, schon, aber das ist so merkwürdig. Wieso ruft sie nicht an?«

»Vielleicht kann sie nicht. Sie wird sich schon melden. Jetzt hör mal auf, dir Gedanken zu machen!«

Er nahm sie in die Arme, küsste ihre Stirn. Marlene grübelte jedoch weiter. Es war ungewöhnlich für ihre Freundin. Normalerweise schrieb Heike keine SMS. Sie hasste das Tippen auf der Tastatur des Handys.

Tom versuchte, sie aus ihren Gedanken zu reißen.

»Ich sage nur kurz dem Kommissar Bescheid und dann unternehmen wir etwas Schönes. Überleg schon mal, worauf du Lust hast. Wir müssen schließlich auch noch meinen neuen Job bei ›Motorola‹ feiern!«

Er wählte die Nummer des Hauptkommissars, doch an dessen Stelle meldete sich ein Kollege.

»Tut mir leid, aber Herr Thamsen ist zu einem Einsatz gefahren.«

Nordmord

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