Читать книгу Nordmord - Sandra Dünschede - Страница 17
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ОглавлениеDie Sonne schien durch das kleine Fenster. Marlene räkelte sich wohlig, schlug langsam ihre Augen auf. Tom lag neben ihr, den Kopf in seine Hand gestützt und beobachtete sie.
»Guten Morgen, meine Hübsche!«
Er beugte sich über sie und küsste ihren Mund.
»Womit habe ich dich nur verdient? Dass du noch zu haben warst– das grenzt ja schon an ein Wunder«, flüsterte sie in sein Ohr.
Toms Körper versteifte sich plötzlich, er wendete sich von ihr ab.
Ganz so war es ja nicht gewesen. Er hatte ihr nur nie davon erzählt. Als er sie kennengelernt hatte, war er eigentlich schon in festen Händen gewesen. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte er mit Monika zusammengelebt. Die große Liebe war es nicht gewesen. Deshalb hatte er sich auch sofort in Marlene verliebt. Ohne nachzudenken, hatte er sich damals in ein Abenteuer gestürzt und seine Beziehung zu Monika völlig ausgeblendet. Als Marlene ihm ihre Liebe gestanden hatte, war er nicht in der Lage gewesen, ihr von seiner Beziehung in München zu erzählen. Und so war es bis heute geblieben. Manchmal war er kurz davor gewesen, besonders, wenn sie diese Fragen gestellt hatte. Zum Beispiel, warum er sich eine neue Handynummer zulegte und eine geheime Festnetznummer beantragt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass seine Exfreundin versuchen würde, ihn zurückzugewinnen. Schließlich hatte sie bei der Trennung einen riesigen Aufstand gemacht. Geradezu theatralisch hatte sie mit Selbstmord gedroht. Nachdem er ausgezogen war, hatte er allerdings nichts mehr von ihr gehört. Sicherheitshalber hatte er nach einer Woche bei ihrer Freundin angerufen, um sich zu vergewissern, dass Monika ihre Drohung nicht wahr gemacht hatte. Aber Ulla hatte nur gesagt, es sei alles in bester Ordnung.
»Was ist?«, fragte Marlene, etwas verwundert über seine Reaktion.
»Nichts. Ich habe nur Kopfschmerzen.«
Nach dem Frühstück machten sie zunächst einen kleinen Spaziergang Richtung Strand.
Scheinbar endlos lag der Kniepsand vor ihnen. Marlene erklärte ihm, dass es sich hierbei um eine riesige Sandbank handele, die vor Jahrhunderten bereits an Amrums Westküste angedockt hatte. Zwar sei er bis in die 60er-Jahre durch einen Priel vom Inselkern getrennt worden, aber zurzeit bilde er einen bis zu eineinhalb Kilometer breiten Sandstrand, welcher der gesamten Westküste vorgelagert sei und nahtlos in die Sanddünen der Insel übergehe.
»In den nächsten Jahren wird ein Weiterwandern des Kniepsands um die Amrumer Odde herum erwartet. Das wäre fantastisch, dann würde der Kniepsand die reichlich gefährdete Nordspitze auf ganz natürliche Weise schützen.«
»Also natürliche Sandvorspülungen?«
»Sozusagen!«
Kommissar Thamsen rieb sich seine brennenden Augen, als er an der Haustür seiner Eltern klingelte. Es war bereits kurz nach 9 Uhr. Er hatte eine lange Nacht hinter sich.
Tatortbesichtigung und Zeugenbefragung, anschließend hatte er auf den Leichenwagen gewartet. In der Dienststelle hatte er mit Staatsanwalt Niemeyer telefoniert und eine Obduktion beantragt, da ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden konnte.
Bis tief in die Nacht hinein hatte er den Tatortbefundbericht angefertigt, bis er an seinem Schreibtisch eingeschlafen war.
Anne öffnete die Haustür.
»Guten Morgen, Papa. Komm, Oma und ich machen gerade Rührei!«
Sie stürmte vor ihm in die Küche, aus der es nach Kaffee und frischem Toast duftete. Als er den vorwurfsvollen Blick seiner Mutter auffing, versuchte er, sich zu verteidigen.
»Tut mir leid. Wir hatten einen Leichenfund. Ich …«
»Nicht vor der Kleinen«, unterbrach sie ihn. »Nimm dir eine Tasse Kaffee und setz dich hin. Du siehst furchtbar aus.«
Sie erzählte, dass sie gestern Abend noch versucht hatte, ihre Exschwiegertochter zu erreichen. Es sei aber nur Timo da gewesen und der hatte daheim bleiben wollen.
Während sie redete und redete und Spekulationen über den Verbleib der Exschwiegertochter äußerte, hatte er jedoch immer nur das Bild dieses blassen, schmutzig-blauen Gesichts vor Augen.
»Moin!«, begrüßte Haie die Kassiererin vom SPAR-Laden. Er nahm sich einen Einkaufswagen und schob ihn Richtung Fleischtheke.
»Häst all hört? Die haben eine Leiche in der Lecker Au gefunden!«, flüsterte die Verkäuferin ihm über den Glastresen zu.
»Das ist doch schon Jahre her, Lorchen«, versuchte er, die kleine, ältere, offensichtlich sehr aufgeregte Dame zu beruhigen. »Und den Täter haben sie auch schon lang!«
In den 50er-Jahren hatte es einmal einen Mordfall in der Nähe des Dorfes gegeben. Damals war eine junge Frau verschwunden. Mit Suchmannschaften hatte man die Umgebung nach ihr durchkämmt. Auch der Mörder hatte sich an den Aktionen beteiligt. Er hatte wohl gedacht, dass das am unauffälligsten war. Er musste sich sicher gewesen sein, dass man die Leiche, die er mit einem Selbstbinder beschwert in der Lecker Au versenkt hatte, nicht finden würde.
»Nee, die mein ich doch nich! Gestern Nachmittag haben sie eine aus’m Wasser geholt. Gleich hier die Straße in Herrenkoog raus, bei Norderwaygaard. Soll böse zugerichtet gewesen sein!«
Haie wurde es mit einem Mal ganz heiß.
»Woher weißt du das denn?«
»Hett Max vertellt. Der war ja da.«
»Und weiß man auch, wer das war?«
Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern.
»Irgend so ein junges Ding. Watt weiß ich.«
Nach dem Mittagessen hatten sie sich Fahrräder ausgeliehen. Marlene wollte gerne eine Tour nach Nebel machen und Tom hatte sich überreden lassen, was er allerdings bereits bereute. Er war schon ewig nicht mehr Fahrrad gefahren und der Wind war stärker, als er anfangs gedacht hatte.
Marlene radelte jedoch wie ein Radrennprofi und er hatte Schwierigkeiten, einigermaßen mit ihr mitzuhalten. Völlig außer Atem erreichte er das Friesendorf.
Sie besichtigten zunächst die alte Mühle. Begeistert erzählte Marlene von dem 1771 erbauten, reetgedeckten Erdholländer. Sie erwies sich wie immer als hervorragende Fremdenführerin. Er fand es schön, wenn sie ihm die Geschichten rund um Nordfriesland erzählte, und er bewunderte sie. Er kannte kaum einen Menschen, der so mitreißend über ein Thema erzählen konnte wie Marlene. Sie schien ein Bestandteil dieses Landes zu sein und durch sie lernte er, es immer mehr zu lieben.
Gegenüber der Mühle lag der Friedhof der Heimatlosen. Durch die weiße Holzpforte betraten sie die kleine Anlage. Schweigend gingen sie die Reihen der Gräber entlang, von Holzkreuz zu Holzkreuz.
»Was ist denn das immer für ein Datum auf den Kreuzen?«
»Der Tag, an dem der unbekannte Tote am Strand angeschwemmt, gefunden und geborgen wurde. Alles ungeklärte Schicksale. Opfer der See.«
Sie hatte sich auf die Bank am Rand der Anlage gesetzt. Aus ihrer Jackentasche holte sie ihr Handy. Sie hatte es, als sie gestern losgefahren waren, abgeschaltet. Nun drückte sie auf die Powertaste.
›Ein Anruf in Abwesenheit‹ zeigte das Display an.
»Bestimmt Heike«, sagte Marlene aufgeregt. Doch die Nummer des Anrufers wurde nicht angezeigt, auf der Mailbox war keine Nachricht verzeichnet.
Enttäuscht schaltete sie das Handy wieder aus.
»Sie wird sich schon melden«, versuchte er sie aufzumuntern. »Erzähl mir lieber eine Geschichte über Amrum!«
Sie lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.
»Also gut.«
Sie holte tief Luft und erzählte ihm von den Seeräubern, die einst zur Winterzeit von Pellworm nach Amrum gekommen waren. Jedenfalls gäbe es so eine Sage, versicherte sie ihm. Der zufolge hatten die Räuber sich weiße Hemden über ihre Kleidung gezogen, da sie sich einen Sonntag für ihren Überfall ausgewählt hatten.
Während ein Teil der Räuber die Häuser plünderte, bewachte ein anderer Teil die Kirchgänger.
»Höchstwahrscheinlich gehörte die Bande dem Seeräuber Cord Widderich, der lange Zeit auf Pellworm gehaust haben soll.«
»Meinst du, einer von denen liegt hier?«
Sie blickte hinüber zu den Gräbern.
»Warum nicht? Durchaus möglich.«
Nach dem Frühstück hatte Dirk Thamsen zunächst kurz bei seiner Exfrau vorbeigeschaut. Doch wie bereits seine Mutter berichtet hatte, war nur Timo da gewesen und der hatte keine Ahnung gehabt, wo seine Mutter steckte.
»Ich möchte, dass du zum Mittagessen zu Oma gehst.«
Der Junge hatte murmelnde Widerworte gegeben.
»Da gibt es nichts zu diskutieren. Und morgen besprechen wir, wie das weiter geht mit Mutti und euch.«
Er war wütend gewesen. Wütend auf seine Exfrau, dass sie die Kinder so vernachlässigte, und wütend auf sich selbst, weil er davon bisher nichts bemerkt hatte.
Dr. Becker von der Gerichtsmedizin aus Kiel erwartete ihn schon. Eigentlich hatte Dirk Thamsen absichtlich getrödelt und gehofft, dass die Obduktion schon beendet war.
Die äußere Besichtigung war auch bereits abgeschlossen, die Bauchhöhle war geöffnet. Dr. Becker entnahm gerade eine Gewebeprobe.
»Können Sie schon Genaueres über die Todesursache sagen?«
Der Arzt zuckte leicht mit den Schultern.
»Nur so viel: Einen natürlichen Tod oder Selbstmord können wir mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen.«
»Wieso?«
»Schauen Sie hier.« Er deutete dem Kommissar, näher an den Sektionstisch zu treten. »Diese Flecken am Hals sind eindeutig Würgemale. Außerdem ist das Zungenbein gebrochen.«
»Und diese Verletzungen könnte sie sich nicht selbst zugefügt haben?«
Der Gerichtsmediziner schüttelte seinen Kopf.
»Jedenfalls nicht bis zum Tod. Oder haben Sie schon mal von einem Suizidfall durch eigenhändiges Erwürgen gehört? Das ist praktisch unmöglich.«
»Und der Todeszeitpunkt?«
»Schwer zu sagen. Vermutlich vor drei bis fünf Tagen.«
Malte schob langsam den Wagen der Essensausgabe über den Gang. Er hatte es nicht eilig. Sein Dienst würde schließlich nicht schneller vorbei sein, wenn er sich beim Austeilen des Mittagessens beeilte. Außerdem war es ihm egal, ob die Patienten ein warmes Essen serviert bekamen. Nörgeln würden sie so oder so.
Er öffnete die nächste Zimmertür und nahm ein Tablett vom Wagen.
»So, Frau Kleine, hier ist Ihr Mittagessen.«
Die hagere, alte Frau saß mit verkniffenem Gesichtsausdruck in ihrem Bett. Sie war schon einige Wochen hier und er konnte sie nicht ausstehen.
»Wurde ja auch langsam Zeit oder soll ich verhungern?«
Er stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster. Frau Kleine begann sofort, zu nörgeln. Sie könne nicht aufstehen, wolle das Essen ans Bett serviert haben. Außerdem sei ihre Teetasse leer, sie verlange auf der Stelle neuen.
In aller Ruhe nahm Malte die Abdeckhaube vom Menüteller und freute sich diebisch, als er sah, dass Frau Kleine immer noch Schonkost bekam. Pampigen Haferbrei.
»Den Brei können Sie sofort wieder mitnehmen. Das esse ich nicht. Bringen Sie mir gefälligst etwas Anständiges!«
Ohne ein Wort deckte er das Essen wieder ab und verließ das Zimmer. Frau Kleine klingelte wie wild, das Lämpchen über der Tür blinkte.
»Was ist denn mit Frau Kleine?«, fragte seine Kollegin, die ihm im Gang entgegenkam.
Er winkte ab, deutete auf das Tablett und erzählte, dass die Patientin sich schon wieder über das Essen beschwert hatte.
»Wir sind doch kein Fünf-Sterne-Restaurant«, pflichtete ihm die Kollegin bei. »Sollst dich übrigens beim Chef melden. Klang dringend.«
Das Büro von Professor Werner Heimkens befand sich in der dritten Etage. Malte klopfte kurz an die Tür, bevor er eintrat.
»Sie wollten mich sprechen?«
Der kleine, dunkelhaarige Mann hinter dem Schreibtisch sah auf und blickte ihn mit verschwörerischem Blick durch die dunkle Hornbrille an.
»Nächste Woche brauche ich Sie für einen Krankentransport.«
»Wie immer?«
Professor Heimkens nickte.
»Wie immer!«
Haie lehnte sein neongelbes Fahrrad an den Zaun der kleinen Gastwirtschaft, die auf einem kleinen Hügel an der Dorfstraße gelegen war.
Als er den Gastraum betrat, sah er Max, den Wirt, an der Theke Gläser spülen.
Er begrüßte kurz die zwei anderen Gäste und setzte sich an den Tresen.
»Machst du mir ein Bier?«
Max schaute ihn misstrauisch an.
»Was verschlägt dich denn um diese Zeit in meine bescheidene Wirtschaft?«
Er nahm eines der frisch gespülten Gläser und hielt es unter den Zapfhahn. Haie versuchte, möglichst belanglos zu wirken, erzählte zunächst von einigen Begebenheiten aus der Grundschule und fragte anschließend, was es denn so Neues im Dorf gäbe.
Der Wirt stellte das Bier vor ihn auf den Tresen.
»Nun tu bloß nich so. Hast doch bestimmt schon gehört, dass sie gestern die tote Frau aus der Lecker Au gefischt haben!«
Haie bestätigte ihm, dass die alte Kaufmannsfrau ihm so etwas erzählt hatte. Ob man denn schon wisse, wer die Tote sei.
Max schüttelte den Kopf.
»Ich hab die nicht gekannt.«
Er erzählte, dass man die Tote in der Nähe von Norderwaygaard gefunden hatte.
»An der Bushaltestelle kurz vor der Brücke.«
Die Brücke sei abgesperrt worden, aber er sei vorher schon da gewesen. Habe den nackten Körper kopfüber im Schilf gesehen. Gruselig hatte das ausgesehen. Er goss sich einen Klaren ein.
»Woher wusstest du denn davon?«
»Bernd rief mich an. Der hat sie ja gefunden.«