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ОглавлениеTom und Marlene schoben die Fahrräder durch den kleinen Ort.
»Guck dir mal die Straßennamen hier an. Hö-ö-w-ja-at«, versuchte er, zu buchstabieren. »Was bedeutet das?«
»Kirchgasse. Das ist Friesisch.«
Sie lächelte ihn an und erzählte, dass hier in Nebel die Straßen, Wege und Gassen friesische Namen trugen. Ganz amtlich und ausschließlich. Der Ort sei halt sehr traditionsbewusst.
»Komm, ich zeig dir noch etwas Interessantes.«
Sie stellten ihre Fahrräder ab und betraten den Friedhof, der neben der weißen Kirche mit dem spitzen Turm lag.
Während sie auf die Gräber zuliefen, erklärte Marlene, dass die Amrumer früher hauptsächlich Seeleute waren. Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert hatten sie auf Walfischfängern angeheuert. Harpunierer, Steuerer, Bootsmänner und Trankocher seien sie gewesen, manche sogar Schiffsoffiziere oder Kommandeure, wie man die Kapitäne auf den Walfangschiffen genannt hatte.
»Schau hier, die Steine auf den Seemannsgräbern erzählen teilweise ganze Lebensgeschichten.«
Sie wanderten zwischen den steinernen Grabplatten hindurch, die vom Leben und Sterben der Seemannsleute berichteten. Viele Steine waren mit einem plastisch aus dem Stein herausgearbeiteten Segelschiff verziert.
»Nicht alle kehrten zurück.«
Marlene strich mit ihrer Hand über einen der Steine.
»Viele blieben auf See, starben am Gelben Fieber, ertranken, wurden gefangen genommen, gingen an Skorbut zugrunde.«
»Apropos Skorbut. Bevor wir irgendeinen Ernährungsmangel erleiden. Meinst du, es gibt hier in der Nähe vielleicht auch ein kleines Restaurant oder Ähnliches?«
Sie grinste.
»Aber sicher.«
Kommissar Thamsen saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die Fotos vor ihm. Je länger er das tat, umso zweifelloser wurde seine Vermutung, dass die Tote auf den Bildern wahrscheinlich Heike Andresen war. Die junge Frau, die ihn so dringend hatte sprechen wollen, aber nicht zu dem vereinbarten Termin erschienen war.
Was hatte sie ihm erzählen wollen? Und wer hatte sie nun für immer zum Schweigen gebracht?
Die Tür zu seinem Büro wurde schwungvoll geöffnet. Die beiden Kollegen aus Flensburg, die mit ihm eine SoKo bilden sollten, betraten den Raum.
»Moin, Dirk. Und, was gibt es?«
Er bot ihnen an, Platz zu nehmen, und überreichte die Akte. Der ältere der beiden Männer blätterte bereits darin herum, während er kurz und knapp über den Stand der Ermittlungen berichtete.
»Ich würde sagen«, schloss er seine Ausführungen, »ihr fahrt zusammen mit Dr. Becker noch einmal zum Tatort raus und ich kümmere mich mal um die Identifizierung der Leiche.«
»Es ist noch gar nicht bestätigt, dass das Opfer wirklich Heike Andresen ist?«
Dirk Thamsen stand schnell auf. Er wusste ja selbst, dass er gezögert hatte.
»Ist aber nur eine Formsache.«
Sie hatte ein kleines Restaurant im Uasterstigh ausgewählt.
Tom studierte eingehend die Speisekarte.
»Ich glaube, ich nehme den Matjes. Das hört sich doch gut an.«
Er war hungrig von der frischen Luft und der körperlichen Ertüchtigung, außerdem liebte er Matjes. Marlenes Hunger hingegen hielt sich in Grenzen. Sie wählte lediglich einen Salat.
Er wusste, dass sie sich immer noch Sorgen um Heike machte, und versuchte, sie abzulenken.
»Wie kommst du eigentlich im Institut voran?«
Sie erkannte sofort seine Absicht, lächelte ihn jedoch dankbar an.
»Sehr gut.«
Das Projekt über Theodor Storm sei äußerst interessant. Momentan sei sie mit der Namensgebung im ›Schimmelreiter‹ beschäftigt. Ob er wüsste, dass Hauke Haien nach der patronymischen Namensgebung eigentlich Hauke Tedsen, nach seinem Vater Tede Haien, hätte heißen müssen?
Interessiert folgte er ihren begeisterten Ausführungen.
»Außerdem war Hauke gar kein typisch nordfriesischer Name. Abgeleitet von dem Namen Hugo, findet man ihn zur damaligen Zeit nur in ost- und westfriesischen Namensregistern.«
Das Essen wurde serviert und er aß mit großem Appetit. Marlenes Sorgen waren plötzlich wie weggeblasen. Nach dem Salat bestellte sie noch eine Fischterrine und anschließend zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Kirschen.
Gut gestärkt traten sie den Rückweg an. Der Wind hatte gedreht und wieder hieß es, gegen die heftige Brise an zu radeln. Diesmal konnte er jedoch einigermaßen mit ihr mithalten, denn sie fuhr wesentlich langsamer als auf dem Hinweg.
»Sieh mal dort den Vogelschwarm!«
Er hielt an und wies mit seiner Hand auf die unzähligen Vögel am Himmel.
»Es wird Abend. Sie verlassen die Insel.«
Sie hatte ebenfalls angehalten und blickte den Vögeln am Himmel nach. »Angeblich ein Zeichen der Ungnade Wodans.«
»War das nicht der mit den beiden Raben?«
Sie nickte. »Hugin und Munin– das Gedächtnis und das Gewissen.«
»Und wieso verlassen nun die Vögel die Insel?«
Er blickte fragend dem immer kleiner werdenden Vogelschwarm hinterher.
Sie erklärte, dass es wohl eine Legende gab, der zufolge die Vögel Amrum am Abend verließen als Zeichen für Gottes Missfallen.
»Was sollte Gott denn an dieser wundervollen Insel missfallen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, das hing mit den Strandräubern zusammen, aber so genau erinnere ich mich nicht mehr.«
Marlene stieg wieder auf ihr Fahrrad. Er warf einen letzten Blick zum Himmel, ehe er ihr folgte.
Als sie Norddorf und schließlich das Hotel erreichten, war es bereits dunkel. Sie hatten das Licht an den Fahrrädern anschalten müssen.
Die freundliche Dame an der Rezeption lächelte, als sie nach dem Zimmerschlüssel verlangten.
»Einen Moment, Herr Meissner, hier ist eine Nachricht für Sie. Herr Haie Ketelsen hat dringend um einen Rückruf gebeten.«
Haie hatte zunächst versucht, Tom auf seinem Handy zu erreichen. Aber es war nur die Mailbox angesprungen.
Da er seinen Freund nicht hatte beunruhigen wollen und ja auch eigentlich nichts Konkretes wusste, hatte er aufgelegt.
Aber die Angelegenheit hatte ihm keine Ruhe gelassen. Wie ein eingesperrtes Tier war er durch seine kleine Wohnung getigert. Schließlich hatte er versucht, bei der Polizei Genaueres zu erfahren, aber der freundliche Polizist am anderen Ende der Leitung hatte keine Auskünfte erteilen dürfen. Das hatte seine Unruhe noch verstärkt. Letzten Endes hatte er im Hotel angerufen.
»Herr Meissner ist leider nicht im Hause. Möchten Sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen?«
Er saß in seinem Wohnzimmer und versuchte, sich durch ein wenig Fernsehen abzulenken. Immer wieder zuckte sein Finger auf der Fernbedienung hin und her.
Endlich klingelte das Telefon.
»Tom? Na endlich!«
Er wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern berichtete sofort aufgeregt über die Neuigkeiten aus dem Dorf.
»Ich weiß ja nicht, ich meine, aber vielleicht …«
Er hörte, wie Tom am anderen Ende tief Luft holte und im Hintergrund Marlenes besorgte Stimme: »Was ist?«
Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Am liebsten wollte er jetzt bei seinen Freunden sein. Wenn die Tote aus der Lecker Au wirklich Marlenes Freundin war– er wollte sich das gar nicht vorstellen– aber wenn es wirklich so sein sollte, dann wollte er für sie da sein. Sie kannten sich zwar noch nicht lange, aber die Freundschaft, welche sie verband, war von ganz besonderer Art, beinahe so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, ganz besonders zwischen ihm und Tom. Sie hatten sich vom ersten Tag an so gut verstanden, als kannten sie sich bereits seit Jahren. So etwas hatte Haie noch nie erlebt.
Durch den Hörer klang ein Räuspern zu ihm.
»Dank dir. Ich werde mit Marlene sprechen. Wir kommen, so schnell es geht, zurück.«
Nachdem Tom aufgelegt hatte, ließ auch er den Hörer langsam auf das Telefon zurückgleiten. Unschlüssig darüber, was er nun tun sollte, ging er in die Küche, holte eine Kornflasche aus dem Kühlschrank. Nachdem er das erste Glas mit einem Schluck hinuntergestürzt hatte, goss er sich eilig noch ein zweites ein.
Marlene blickte ihn mit ängstlichem Blick an.
»Nun sag schon! Was ist los? Warum wollte Haie dich so dringend sprechen?«
Er hatte keine Ahnung, was er ihr sagen sollte. Theoretisch konnte die Tote aus der Au jede x-beliebige Frau sein. Praktisch wusste er, dass dem nicht so war. Ähnlich wie bei Haie hatte seine innere Stimme ihm sofort gesagt, dass es sich bei der toten Frau höchstwahrscheinlich um Heike handelte.
»Sie haben eine tote Frau in der Lecker Au gefunden.«
Sie starrte ihn wie versteinert an.
»Man weiß natürlich nicht …«, stammelte er etwas hilflos.
»Wir müssen sofort zurück!«
Sie wurde auf einmal völlig hektisch, eilte zum Schrank und riss ihre Reisetasche aus dem untersten Fach. Panik hatte sie ergriffen.
Tom stand nur da und schaute ihrem verzweifelten Versuch zu, der Angst und der aufkeimenden Furcht, dass die Tote Heike sein könnte, durch beschäftigtes Packen zu entkommen. Sie rannte an ihm vorbei ins Bad. Er hörte, wie sie die Badesachen einpackte. Es schepperte, Glas zersprang.
Er ging ins Bad. Marlene saß auf dem Wannenrand, ihr Blick war starr auf das zerbrochene Parfumfläschchen auf dem Fliesenfußboden gerichtet.
»Es ist nicht Heike. Es kann nicht Heike sein!«, flüsterte sie immer wieder vor sich hin. Als er sie an der Schulter leicht berührte, zuckte sie zusammen und begann, heftig zu weinen.
Er ließ sich neben ihr auf dem Wannenrand nieder, legte seinen Arm um sie. Ihr Körper wurde durch unkontrolliertes Schluchzen geschüttelt. Eine Weile saßen sie so nebeneinander, als plötzlich sein Handy klingelte.
»Meissner?«
Es war Kommissar Thamsen. Er fragte nach Marlene.
»Wir sind auf Amrum«, erklärte Tom.
Wann sie denn wiederkämen? Er bräuchte sie für eine Identifizierung. Man habe nämlich eine junge Frau gefunden.
»Ich weiß.«
Was er nicht wusste, war, ob heute überhaupt noch eine Fähre zurückfuhr. Es war schon nach 20 Uhr.
»Ich melde mich, wenn wir wissen, wann wir bei Ihnen sein können.«
Er erhob sich. Marlene blickte ihn fragend an.
»Bin gleich wieder bei dir.«
Er küsste sie auf die Stirn.
Die freundliche Dame von der Rezeption schüttelte allerdings den Kopf, als er nach einer Möglichkeit fragte, noch heute aufs Festland zu gelangen. Ob es ihnen denn nicht gefiele? Er erklärte den plötzlichen Abreisewunsch mit einem Notfall in der Familie.
Marlene stand bereits in Jacke und mit gepackter Tasche im Zimmer, als er zurückkehrte. Er nahm sie in die Arme.
»Die nächste Fähre geht erst morgen früh um 6.15 Uhr.«
Sie wirkte völlig apathisch. Er führte sie zum Bett, half ihr, Jacke und Schuhe auszuziehen, deckte sie zu. Beim Zimmerservice orderte er einen Kamillentee.
»Es ist bestimmt nicht Heike«, versuchte er, auf sie einzureden, doch sie schien wie von dicken Mauern umgeben. Seine Worte erreichten sie nicht. Pausenlos rannen Tränen über ihr Gesicht. Er legte sich neben sie und streichelte ihr übers Haar.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein, als er wach wurde, stand sie am Fenster und blickte hinaus.
»Weißt du«, begann sie unvermittelt, »Heike und ich, das ist so ähnlich wie bei Zwillingen. Ich habe von Anfang an gespürt, dass etwas passiert ist.«
»Aber nun warte doch ab. Man weiß doch gar nicht, wer die junge Frau ist, die sie gefunden haben.«
Sie drehte sich zu ihm um.
»Ich weiß, dass es Heike ist!«