Читать книгу Nordmord - Sandra Dünschede - Страница 16
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ОглавлениеIrina hatte Angst. Es war dunkel, sie konnte nichts sehen. Ihre Augen waren verbunden. Sie hörte Motorengeräusch und die Stimmen zweier Männer.
Vorsichtig versuchte sie, sich zu bewegen, aber ihr ganzer Körper schmerzte. Sie stöhnte leise. Die Männer verstummten.
Kurze Zeit später hielt der Wagen. Die beiden vorderen Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Es regnete. Weil der Motor nun aus war, hörte sie das Trommeln der Tropfen über sich. Sonst war es ganz still.
Sie versuchte noch einmal, sich zu bewegen. Mit dem Fuß stieß sie an etwas Hartes. Sie drehte sich leicht zur Seite. Der Geruch von Urin stieg ihr in die Nase. Ihr Magen rebellierte. Sie erbrach sich.
Eine Tür wurde aufgerissen. Sie hörte wütende Stimmen und spürte, wie jemand sie packte und aus dem Wagen zerrte. Panik stieg in ihr auf. Sie schlug wild um sich, drehte sich und trat mit den Beinen.
Der Schlag ins Gesicht traf sie völlig unerwartet. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Dann spürte sie wieder einen Stich.
Der Regen prasselte in ihr Gesicht und kitzelte ihre Nase. Das war das Letzte, was sie wahrnahm, bevor sie wieder in einen tiefen, dunklen Schlaf fiel.
Tom hatte Marlene überreden können, ein paar Sachen zu packen und übers Wochenende nach Amrum zu reisen.
Mit dem Auto waren sie nach Dagebüll gefahren. Während Marlene Fahrkarten am Schalter der ›Wyker Dampfschiffs-Reederei‹ auf der Mole besorgte, parkte Tom den Wagen.
Die Fähre sollte in 15 Minuten ablegen. Sie trafen sich am Fähranleger. Außer ihnen waren jede Menge Herbsturlauber und Leute wie sie unterwegs, die ein Wochenende auf der nordfriesischen Insel ausspannen wollten. Das goldene Herbstwetter lud dazu ein.
Nachdem Tom die Reisetasche in einem der Schließfächer verstaut hatte, gingen sie an Deck. Die Fähre hatte bereits abgelegt und sie entfernten sich vom Hafen. Über ihnen kreisten ein paar Möwen. Wenige Meter von ihnen entfernt, fütterten einige Touristen die Seevögel mit Proviantresten. Das wurde nicht gern gesehen und schon regte sich eine ältere Dame mit Hut lautstark über die Tierfreunde auf.
Marlene stand an der Reling, Tom umarmte sie von hinten. Ihr Haar roch nach Lavendel. Er liebte diesen Duft.
»Meinst du wirklich, dass es Heike gut geht?«
Sie drehte sich zu ihm um. Ihr Blick war besorgt, ein paar Falten kräuselten sich auf ihrer Stirn.
Er zog sie an sich.
»Bestimmt. Und nun genießen wir unser Wochenende. Du machst dir viel zu viele Gedanken.«
»Aber …«
»Psst …« Er legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, beugte sich zu ihr hinunter. Sanft berührten seine Lippen ihren Mund. Sie erwiderte seinen Kuss.
Schweigend standen sie eng aneinander gekuschelt an der Reling und blickten aufs Meer hinaus. Die Sonne ließ das Wasser wie Diamanten glitzern. Die Welt erschien so weit, der Horizont unerreichbar.
Nach einem Zwischenstopp in Wyk ging es weiter mit Kurs auf Wittdün. Marlene entspannte sich langsam. Ihr Lächeln, das er so liebte, kehrte auf ihre Lippen zurück.
»Warst du überhaupt schon mal auf Amrum?«
Er schüttelte seinen Kopf.
»Und du?«
»Schon oft!«
Sie erzählte, dass sie als Kind häufig mit ihren Eltern die Ferien auf Amrum verbracht hatte, meistens in Wittdün, hin und wieder auch in Nebel. Dort hatten sie den Friedhof besucht, auf dem es eine Menge aus der Seefahrerzeit zu entdecken gab.
»Wenn du willst, zeige ich dir morgen die Insel.«
»Liebend gern!«
Als Dirk Thamsen sich der Brücke näherte, die über die Lecker Au führte, sah er bereits die ersten Schaulustigen.
Er hatte noch einen Umweg machen müssen, um Anne bei seinen Eltern abzuliefern. Die Neuigkeit hatte sich jedoch wie ein Lauffeuer verbreitet. Viele Neugierige waren bereits versammelt und versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen. Er fragte sich immer wieder, was die Menschen an einem Unglück so faszinierte.
Er parkte den Wagen am Straßenrand und lief den kleinen Weg hinter der Bushaltestelle hinunter. Am Gatter stand ein Kollege von der Schutzpolizei. Er grüßte ihn flüchtig, als dieser ihm das Tor öffnete.
Auf der seichten Erhöhung, die die Au säumte, stand der Angler, der die Leiche entdeckt hatte. Im Schilf hatte sie gelegen. Völlig nackt und mit dem Gesicht nach unten. Der Mann, der eigentlich nur zum Fischfang an die Lecker Au gekommen war, hatte sich selbst zu Tode erschrocken. Noch nie hatte er einen toten Menschen gesehen. Er war immer noch aschfahl im Gesicht.
Kommissar Thamsen blickte zu seinen Kollegen am Ufer der Au hinüber. Einige Mitarbeiter der Spurensicherung und der Notarzt verwehrten ihm jedoch die freie Sicht. Er griff in seine Jackentasche und holte ein paar Handschuhe und Schutzüberzieher für seine Schuhe heraus.
Dann holte er tief Luft und lief hinunter zu seinen Kollegen.
Vom Fähranleger in Wittdün hatten sie ein Taxi genommen. Tom hatte auf die Schnelle noch ein Zimmer im ›Hotel Hüttmann‹ in Norddorf reserviert. Marlene hatte davon einmal geschwärmt, da es bereits seit über 100 Jahren bestand und zu einer der ersten Adressen auf der Insel gehörte.
Die Frau an der Rezeption lächelte ihnen freundlich zu.
»Willkommen in unserem Hause!«
Sie nahm flink die Personalien auf und reichte ihnen gleich darauf den Zimmerschlüssel.
»Einen angenehmen Aufenthalt. Und wenn Sie etwas zu essen wünschen– unser Restaurant öffnet in wenigen Minuten.«
Tom nahm die Reisetasche und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Das Zimmer war traumhaft. Ein riesiges Himmelbett dominierte den Raum. Die blumigen Vorhänge erinnerten Marlene an ihren letzten Aufenthalt in England.
Schwungvoll ließ sie sich auf das gigantische Bett fallen.
»Ach, ist das schön hier!«
Tom legte sich neben sie.
»Hast recht. Besser könnte es nicht sein. Zwei freie Tage, ein tolles Hotel, eine traumhafte Frau an meiner Seite und ein solides Abendessen in Aussicht. Du hast doch Hunger, oder?«
Sie rappelte sich auf, setzte sich rittlings auf ihn.
»Nur auf dich.«