Читать книгу Otto hat Flick Flacks gekauft - Sandra Vahle - Страница 12
Die Rechnung ohne den Hirten gemacht
ОглавлениеEs wäre zu schön gewesen. Bereits am Dienstag der folgenden Woche werden die guten Vorsätze brutal über Bord geworfen. Varlo ist und bleibt ein Schauplatz zum Austragen zwischenmenschlicher Kleinkriege und ein paar Schlachtrufe kristallisierten sich als Lieblinge heraus. „Oh, nein! Wir dürfen Heidi nicht vergiften!“ oder „Psst - nicht hier! Das ist nur auf dem Klo erlaubt.“
Auf Onkel Brunos Bauernhof liegt ein ungenutztes Scheunendach und ich erwäge verstärkt als gleich tollkühn, es einfach mal mitzubringen. Zwar ist es nicht ganz neu, aber soviel ich weiß, wasserdicht und somit wäre das wichtigste Kriterium erfüllt - nur der Transport gestaltet sich problematisch.
Wer allerdings meint, dass das werte Kollegium ausschließlich gegen Francesca wettert, irrt - untereinander tobt der gewohnt gewöhnungsbedürftige Umgangston ingleichen. Als Oliver an diesem verregneten Vormittag seine Ausdrucke dem Drucker entnimmt, muss er sich von meiner sportlichen Vorarbeiterin Folgendes gefallen lassen: „Na, du Studierter! Sprichst du überhaupt mit uns?“. Der abgelaufene Joghurt lässt grüßen. Mir kleines Lichtlein bleibt dieser Neidfaktor versagt, ein paar Vorteile bringt eine Leibeigenschaft mit sich.
In der Mittagspause, welche nach wie vor ausnahmslos für Francesca reserviert ist, erlebt die beklagenswerte Fortsetzung der Diffamation ihren täglichen Höhepunkt. Kaum sitzen wir am Tisch, geben die beiden Anführer der Lästerbande Vollgas.
„Wir ertrinken in Arbeit und sie hat Zeit, uns den ganzen Vormittag mit ihrem Diät-Gelaber vollzutexten“, beschwert sich meine unauffällige Kollegin, ehe sie in Zeitlupe ihr Schnitzel anschneidet.
„Das Punktezählen rafft die Alte doch gar nicht!“ Spöttisch verzieht ihre liebste Lästerschwester den Mund, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tut. „Dafür bräuchte man so was wie ein Gehirn...“
„Außerdem ist es kein Allheilmittel gegen ihre Fressattacken.“
Kerstins Gemeinheit war das Stichwort - mein strapazierter Geist verzehrt sich nach Zivilisation. Eilends versuche ich den negativen Schwingungen zu entfliehen. Hinein ins erträumte Himmelreich. Dorthin, wo das Gras noch grün ist.
So penetrant meine Bemühungen, dramatischerweise scheitern sie mit jedem Versuch. Nicht mangels kultivierten Völkern, nein, mir fällt schlicht und einfach kein Ort ein. Zumindest keiner mit Bildern im Kopf und ohne die macht es keinen Spaß.
Doch Heidi wäre ja nicht Heidi, wenn sie nicht längst ein Ass im Ärmel hätte. Die heutige Mittagspause obliegt einer gänzlich anderen Sache. Und zwar einer weitaus bedeutsameren. Eine, die ihrem grauen Leben schlagartig Sinn einhauchen wird.
Am heutigen Tage, Dienstag den 14.11.2006 ergründet Heidi Hagenbert zum allerersten Mal mögliche Buchthemen.
Ja richtig, Frau Bond ist unter die Autoren gegangen. Immerhin gedanklich. Ein Buch zu verfassen, sollte machbar sein, zudem ist es nicht lebensgefährlich. Als Waffe ist lediglich mein kluges Köpfchen von Nöten. Stift und Papier schaden sicher auch nicht. Oder ein Computer. Über was könnte ich mithin schreiben?
Wie wäre es mit den griechischen Adonissen, die den blonden Urlauberinnen dank ihrer ansehnlichen Oberkörper reihenweise den Kopf verdrehen? Wer steht auf wen? Welcher Beau macht das Rennen? Zu schwach, Heidi! Die Story wird nicht einmal reichen, um eine Seite zu füllen. Hm! Vielleicht ein Turnier? Beachvolleyball - in körperbetonter Bademode! Oder die Götter in Schwimmshorts mutieren gelegentlich zu Vampiren. Aber jene meiden die Sonne, was ein wenig konträr zu stundenlangem Volleyball spielen am Strand geht. Ach - alles frugaler Mist.
„Ich hätte ihr nie erzählen dürfen, dass ich auch Punkte zähle. Seitdem labert sie mich ständig voll damit. Dabei denke ich bloß jedes Mal: Wann bitte geht sie endlich?“
„Dein Essen wird kalt - schalte mal ab“, unterbreche ich Kerstin ohne schlechtes Gewissen, schließlich unterbindet sie gewissenlos wertvoll entstehendes Gedankengut eines bislang verkannten Genies.
„Ja, ihre Doppelmoral ist legendär!“, bestätigt Chiara, derweil sie lustlos ihre Kartoffel-Suppe löffelt. „Selbst quatscht sie den ganzen Tag, regt sich aber tierisch auf, wenn wir, die den ganzen Tag pausenlos malochen, pünktlich Feierabend machen wollen.“
„Das eine Mal hat sie den Vogel echt abgeschossen.“ Kerstin bearbeitet ruppig ihren Teller - wenn sie schon Francesca nicht Paroli bieten kann, so muss das Schnitzel dran glauben.
Apropos. Warum kein packender Thriller, Heidi? Ein scharfkantiges Damaststahlmesser zweckentfremdet zur tödlichen Mordwaffe. Von einer diabolischen Hausfrau im seidigen Negligé, die Rache an ehemaligen Liebhabern gelüstet. Das gefällt mir schon besser, dazu kommt mir einiges in den Sinn.
„Eigentlich darf man es keinem erzählen, so unverschämt wie die Aktion war!“, schimpft Chiara erbost über einstigen Vorfall. „Und das ganze Theater nur, weil wir es gewagt haben, einen einzigen verdammten Tag erst um zehn Uhr zu kommen...“
Unbeirrt erzählt Kerstin weiter, obwohl ich keinerlei Interesse signalisiere; jedenfalls nicht bewusst. In meiner Mimik scheint sich die rauchende Geistarbeit nicht zu spiegeln - vermutlich wirkt mein Gesicht eher ausdruckslos.
„Trotzdem wollten wir pünktlich gegen halb sechs abhauen.“
Entnervt beschließe ich, mein Buch-Vorhaben in Ruhe bei einem abendlichen Glas Wein fortzusetzen. Es wäre vergebene Liebesmüh, die zwei Lästerschwestern ihres Vorhabens abzubringen und bei dem Getratsche kann ich mich nicht konzentrieren. Da ich aber mindest den Anspruch erhebe, die Geschichte lückenlos begreifen zu wollen, interveniere ich mit einer Zwischenfrage.
„War es Zufall, dass ihr das Büro zur gleichen Zeit verlassen wolltet?“
„Chiara und ich bilden eine Fahrgemeinschaft“, liefert Kerstin umgehend die logische Begründung, ehe sie die Anekdote fortsetzt. „Und als wir gerade unsere Jacken anziehen wollen, kommt das verbitterte Biest um die Ecke und besitzt allen Ernstes die Frechheit, uns in Bestform anzugehen: Wieso gedenkt ihr schon den Feierabend einzuläuten? Das geht so nicht! Ich bin kein Tölpel - ihr seid heute beachtlich zu spät gekommen.“
„Hey, unterschlag nicht ihren Versprecher - der ist das absolute Highlight!“
„Ja, das stimmt! Hihi - Francescas Dank für unseren großzügigen Vorschlag. Wenn ihr meint, dass ihr eure Arbeitszeit nach eigenem Ermessen eruieren könnt, habt ihr die Rechnung ohne den Hirten gemacht.“
Sichtlich vergnügt schneidet Kerstin ein weiteres Stück des Schnitzels ab. Wenn sie in dem Tempo weiter isst, könnte sie es bis zum Feierabend schaffen. Hat die Kantine so lange geöffnet oder schließt man sie dann ein? Allerdings muss ich gestehen: Gemächlich packt mich die Geschichte! Meine Neugier ist geweckt. Sind meine beiden vorlauten Kolleginnen geblieben oder gegangen?
„Was habt ihr gemacht?“, kommt Andrea mir zuvor.
„So blöd konnten auch nur wir sein! Wir dämlichen Tölpel haben unsere Computer wieder hochgefahren und die verfluchte Stunde drangehangen. Das muss man sich mal reinziehen! Bei den vielen Überstunden, die wir ständig kloppen! Eigentlich hätten wir ihr den Vogel zeigen müssen!“
Inzwischen dürfte auch Chiaras Suppe kalt sein. Vielleicht sollten sie lieber die Essenszeiten einhalten, denke ich mir. Die sind nämlich, wie der Name an sich es schon verrät, zum Essen da. Mir soll`s egal sein. Meine Mahlzeit ist verputzt und zwar warm. Ein Kompliment an den Koch, insbesondere das Kartoffelgratin war sehr lecker.
„Ich wäre einfach gegangen“, behaupte ich selbstbewusst.
„Ja, ja - das kannst du deiner Oma erzählen!“, höhnt Chiara mit ernster Skepsis.
„Ich würde mir doch nicht vorschreiben lassen, wann ich Feierabend zu machen habe! Wichtig ist schließlich nur, dass man die wöchentliche Arbeitszeit einhält. Deshalb heißt es Gleitzeit, oder?“
„Das ist die offizielle Version“, mahnt Kerstin. „Bei Francesca läuft es anders. Wir stempeln ja nicht, wir haben keinen Nachweis über unsere Überstunden…"
„Na und? Ihr wisst sie doch grob! Und ihr habt Francesca ja sogar noch vorgeschlagen, die Stunde nachzuarbeiten. Mehr kann man jemandem wohl kaum entgegenkommen!“
„Meinst du etwa, das interessiert sie? Entweder du spielst nach ihren Regeln oder du kannst dich gleich beim Arbeitsamt melden!“
„Hm.“
„Der Hirte führt die Herde“, schmunzelt sie. „Im Ernst - glaub mir mal ruhig!“
Als ich an diesem Tage spätabends meine Wohnung betrete, raucht mein Kopf. Auch stupide Tätigkeiten können anstrengend sein, wenn man sie im Akkord betreibt. Nachdem das Wunder - Chiara und Kerstin hatten zu Ende gespeist - vollbracht war, sortierte ich fünf Stunden lang Rechnungen in Ordner hinein. Ohne Unterbrechung, ausgenommen der Toilettenpausen.
Ich bin müde und durch, nur ist Schlaf eine furchtbar armselige Option. Jeden Abend Couch und Fernsehen. Oder eben direkt ins Bett. Alleine. Das kann es jawohl nicht sein - ich muss was unternehmen! Verzweifelt klingel ich meine Freunde durch, aber spontan scheint out zu sein - niemand hat Zeit für mich. Mist, was mache ich denn nun mit diesem angebrochenen Abend? Heidi - du Tölpel! Du wolltest doch ein Buch schreiben! Bei einem Glas Wein. Herrje, ich lasse ganz schön nach.
Gesagt und eingeschenkt. Schon in der Grundschule schrieb ich gerne Aufsätze und war auffällig begabt darin. Talent, Hingabe und Leidenschaft scheinen vorhanden. Hoch motiviert greife ich zu Stift und Papier.
Sie zog ihr seidenes Negligé an und bereitete sich eine Tasse Tee ihrer Lieblingssorte zu. Apfel-Zitrone. Apfel erinnerte sie an ihren knackigen Hintern in jungen Jahren, der ihren Mann um den Verstand brachte. Zitrone erinnerte sie an die Bitterkeit, die sie empfand, seit sie darum wusste, dass ihr Mann seine junge Kollegin fickte.
Es war noch zu hell, um auszuschweifen, sie musste noch ein wenig Geduld beweisen. Das Dunkel der Nacht bot Schutz. Schutz, auf den sie angewiesen war. In diesem Fall. In diesen speziellen Fällen.
Schutz, was für ein trauriges Wort, dachte sie, während sie den Teebeutel entsorgte. War ihr dieses Gefühl jemals vergönnt? Sie wusste es nicht. Vielleicht damals in ihrer Kindheit - von ihren Eltern. Aber von einem Mann?
Zornig nahm sie das Damaststahlmesser aus der Schublade. Hatte sie nicht wenigstens Rücksicht verdient?
Früher einmal glaubte sie mit Zutrauen daran. Bis zu dem Tag, an dem der erste Abschaum seine Worte im Zuge eines Streits derart unbedacht wählte, dass sie fünfzehn Jahre später beschloss, er habe sich den Status des ersten Opfers redlich verdient. Sie schenkte ihm hingebungsvoll ihre heilige Jungfräulichkeit und was fiel für sie ab? Demütigung. Ambivalenz. Erniedrigung.
Als sie es tat - als sie bereit war, Gedanken in Handlung umzusetzen - war sie flüchtig geschockt. Verwirrt und geschockt, wie viel Freude es ihr bereitete, ihn aufzuschlitzen.
Sie hatte Schuldgefühle erwartet. Gewissensbisse. Stattdessen verspürte sie die wirre Lust, es schleunigst wieder zu tun. Sie fühlte sich erstarkt und ihr gefiel dieses Gefühl. Die Angst in seinen Augen verschaffte Genugtuung. Das spritzende Blut Geilheit.
Ihr Verlangen brannte wachsend - es war zu verlockend. Ähnlich wie ihre noch immer prallen Brüste, die sie augenblicklich zärtlich umfasste und streichelte, da ihr Mann dies schon viel zu lange nicht mehr tat. Apfel-Zitrone, dachte sie lüstern. Apfel-Zitrone.
Das finde ich für den Anfang gar nicht mal so schlecht. Wobei ist eine Zitrone nicht eher sauer als bitter? Eine Grapefruit ist auf jeden Fall bitter, aber Apfel-Grapefruit? Das missfällt mir vehement, da kann ich ja gleich Erdbeer-Himbeere wählen. Zitrone klingt verbittert und enthält eine Menge Bitterstoffe - dann passt es doch wieder.
Für heute lege ich den Stift beiseite, denn für heute ist Schluss. Der Wein schmeckt mir nicht und mein Kopf raucht erneut wie verrückt. Irgendwie muss ich ihn freikriegen. Sex wäre keine schlechte Alternative, doch leider fehlt mir ein Mann dazu und Sex mit mir selber ist nur halb so prickelnd.
Das Wetter ist anhaltend beschissen. Heftige Schauer wechseln sich ab mit Nieselregen, zudem ist es ekelhaft kalt und mittlerweile schon recht spät. Egal, wen kümmert es, mir ist nach Laufen. Nehme ich eben eine heiße Dusche vorm Schlafen gehen, um mich wieder aufzuwärmen. Außerdem liegen die Laufschuhe seit über einem halben Jahr im Schrank und das schreit nach schneidender Veränderung.
Glücklicherweise erwische ich den Nieselregen, stelle ich mitsamt Erleichterung fest, als ich mit mehr als einem Negligé bekleidet den ersten Fuß vor die Tür setze. Im Schutz der Dunkelheit jogge ich durch den anliegenden Park und meine Gedanken werden nachhaltig vom heutigen Tag bestimmt, die aufschlussreiche Mittagspause an vorderster Front.
Einerseits erstaunt es mich, wie es meiner impulsiven Chefin beständig gelingt, eine scheinbar unendliche Masse an Gesprächsstoff zu liefern, andererseits will ich hartnäckig nicht begreifen, weshalb sich gestandene Erwachsene derart angepasst verhalten. Von wegen bei Francesca läuft es anders. Sie ist unsere Chefin. Nicht mehr und nicht weniger. Ok, sie ist befugt, uns Anweisungen zu geben, die wir zu befolgen haben, aber sie kann doch nicht willkürlich über alles bestimmen.
Oder behalten die Lästerschwestern Recht mit ihrer Sichtweise? Muss man sich modern versklaven, nur damit man seinen Job behält? Also ich meine ernsthaft versklaven, nicht dieser Praktikantengaudi. Kann Francesca einen dermaßen einschüchtern?
Ein Hirte hütet wachsam seine Schäfchen. Ist man gut beraten, ihm ergeben zu sein? Der Stab eines Hirten erscheint mir nicht sonderlich angsteinflößend. Zornig nahm sie den Hirtenstab aus der Schublade. Das klingt eher nach einer Komödie.
Eine leise Stimme flüstert mir, lieber vorsichtig zu sein. Wie von Geisterhand gesteuert kehre ich um und jogge zügig nach Hause.