Читать книгу Otto hat Flick Flacks gekauft - Sandra Vahle - Страница 13
Die Arme hat sich gebrochen
ОглавлениеDie nächsten zwei Tage versprechen Abwechslung und meine vertrauensselige Vorfreude liegt in der Teilnahme an einem SAP - Seminar begründet. Bestimmt wird es spannender als Rechnungen einsortieren. Oder Tee trinken.
Austragungsort ist einer der Seminarräume im Erdgeschoss. Auf den parlamentarisch angeordneten Tischreihen stehen Getränke und Leckereien bereit, verschiedene Säfte und Donuts. Sogar welche mit weißer Schokolade. Falls das Seminar wider Erwarten langweilig wird, verfalle ich hemmungslos der Schlemmerei.
Abgesehen von meiner Person sollen acht weitere Kollegen geschult werden und Agentin Bond in Teilzeit kann selbstredend mit spezifischeren Auskünften glänzen. Da wären zuallererst fünf eingeflogene Mitarbeiter der norwegischen Tochtergesellschaft - von denen keiner mit Janniks azurblauen Seen konkurriert - zum Zweiten ein unvertrauter Kollege des Einkaufs mit starkem Bartwuchs und zum Dritten zwei vertraute Gesichter. Sonnenbank-Caro und Oliver. Zu Ehren meiner Grabsteinworte wählte ich den knallroten Lippenstift. Sicher ist sicher.
Vor Beginn des Seminars teste ich auf dem Flur die Wirkung. Ich kann nicht anders, mein Sternzeichen trägt Schuld an solch Handlungen. Immerzu jagen und den Marktwert erproben. Nicht eine meiner schicklichsten Gepflogenheiten. Jedenfalls umschmeichelt mich der Eindruck, dass Oliver seinen Blick nur schwer von der roten Versuchung lösen kann; vielleicht bilde ich mir das aber auch bloß ein.
Um Punkt neun Uhr geht es los. Herr Saftig, der Seminarleiter, führt uns geduldig durch die verstrickte Welt von SAP. Mit Hilfe eines Projektors zeigt er uns die wichtigsten Module und deren Anwendung. Zwischendurch bewerkstelligen wir viele praktische Übungen am Computer, was besonders hilfreich ist. Mit einem Test-Account können wir uns austoben.
Nur noch knapp eine halbe Stunde bis zum Mittag, bemerke ich erstaunt, indes ich die Uhr inspiziere. Heute fliegt die Zeit geradezu, dabei war ich schon kurz davor, mir diesen Blick gänzlich abzugewöhnen. Frustration bedarf keiner unnützen Herausforderung.
Wie aus dem Nichts überkommt mich schlagartig ein eigenartiges Schwindelgefühl. Ruhe bewahren - was ist das? Angespannt bleibe ich auf meinem Platz sitzen, um nicht aufzufallen. Es braucht weitere fünf Minuten, ehe mir ohne erklärbaren Grund schwarz vor Augen wird, mitsamt dem penetrierenden Gefühl sekündlichen Erbrechens.
Fluchtartig verlasse ich den Seminarraum. Die Toiletten befinden sich im Untergeschoss und meine Befürchtung, es nicht rechtzeitig zu schaffen, nimmt dickflüssige Realität an. Auf dem Weg, noch auf der Treppe, brechen die Dämme. Was raus will, ist raus.
Peinlich berührt schaue ich ringsum. Keine Menschenseele in Sicht mit einer Ausnahme. Obzwar der Tatort vom Empfang aus ideal einsehbar ist, schenkt Eva mir aber zum Glück keine Beachtung. Ihr Mienenspiel lässt den spitzen Ehemann am anderen Ende der Leitung vermuten. Oder Liebhaber. Oder Liebhaberin. Jedenfalls irgendjemand, der in der Lage ist, sie zu verzücken.
Über Entwarnung freue ich mich jedoch zu früh, denn plötzlich steht Kerstin vor mir, welche bekanntermaßen im Kreis der Tratschtanten mittendrin, statt nur dabei ist. So ein Mist! Ab morgen bin ich der Tölpel, der den Empfang vollgekotzt hat.
„Kann ich dir helfen?“, fragt sie aufrichtig besorgt, derweil sie ihren beigen Hosenanzug aus Leinen ordentlich zuppelt „Du siehst kreidebleich aus!“
„Tut mir leid. Ich mache das sofort weg.“
Ein unangenehmes Schwindelgefühl gepaart mit Übelkeit beherrscht mich weiterhin.
„So ein Quatsch! Ich sag der Putzfrau Bescheid!“ Kerstin stützt mich, ehe sie mir mütterlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. „Geht`s denn wieder?“
Erneut verspüre ich einen Brechreiz. Würgend steigt er hoch.
„Schnell aufs Klo mit dir! Und dann sieh zu, dass du nach Hause kommst.“
Hastig schleppe mich zu den stillen Örtlichkeiten, um mich ein zweites Mal zu übergeben. Als ich wenig später mein Spiegelbild erblicke, erschrecke ich regelrecht. Gott - sehe ich furchtbar aus. Wiederholt stürme ich zur Toilette. Mein eigener Anblick war hoffentlich nicht der Auslöser jener dritten Erleichterung.
Leicht benommen wasche ich mir das Gesicht mit kühlem Wasser, was gleichsam die letzten Reste des wirkungsvollen Lippenstifts verschwinden lässt. Die Erfrischung tut gut und als ich den Brechreiz einigermaßen unter Kontrolle habe, schlage ich schwankend meinen Weg ein. Die Tatortreinigerin war flott sowie gründlich, auf der Treppe sind keine Spuren mehr ersichtlich.
Gut, dass unmittelbar nach meiner wackeligen Rückkehr die Mittagspause in den Startlöchern steht. Samt Zuversicht fällt die Wahl auf den deftigen Linseneintopf und fehlendem Hungergefühl zum Trotz werde ich mich zwingen, den Linsenschmaus, eins der hochgelobten Spezialitäten des Kochs, leer zu löffeln. Ich muss immer noch sehr blass aussehen - kurz bevor wir an einem der Tische im Obergeschoss Platz nehmen, fasst Oliver mich besorgt am Arm.
„Du musst dich nicht quälen. Wir sehen alle, dass es dir nicht gut geht. Du gehörst ins Bett!“ Vielsagend zwinkert er mir zu. „Am liebsten in meins, aber ich befürchte in deinem Zustand werden wir beide nicht viel davon haben…“
„Es ging mir schon mal besser“, ignoriere ich die Anspielung nicht ohne zu erröten. „Aber ich denke, den Nachmittag werde ich noch überstehen.“
Während ich den kräfteliefernden Eintopf verspeise, frage ich mich, was den Brechreiz ausgelöst haben könnte. Hat mein Körper das gestrige Joggen nicht verkraftet? Nein, so gut hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich beschloss sogar, es wieder öfters zu tun. Zu joggen. Ich tippe auf den diabolischen Filterkaffee als Bösewicht! Oder diese ekelige Kaffeesahne. Lernfähig beschließe ich, mir künftig frische Milch mitzubringen.
Nach der Stärkung fühle ich mich um einiges besser und so kann ich dem Seminar wieder konzentriert folgen, zumindest halbwegs. Zwischendurch durchstöbere ich mein E-Mail Konto, das verschafft mir ein erbärmliches Gefühl von Wertigkeit. Und es geht ja auch fix. Überrascht muss ich feststellen, dass eine Nachricht alles andere als beruflich klingt.
„Geht`s dir besser, schöne Frau? Manno ist das langweilig - gleich haben wir es geschafft! Was tippst du am Samstag? Sieg oder Niederlage?“
Ein schwaches Lächeln belebt mein blasses Gesicht. Gebauchpinselt drehe ich mich um. Charmant lächelt er zurück. Netter Typ, denke ich - bis ich diesen Ring entdecke!
Das kann jawohl nicht wahr sein! Entweder ist er mir vorher nie aufgefallen oder Oliver trägt ihn heute zum ersten Mal. Typisch! Da könnte mir mal jemand gefallen und dann ist er vergeben.
„Danke, es geht schon wieder. Auf Sieg natürlich!“
„Wirklich? Dann nichts wie los - ab in mein Bett!;) Im Ernst, wenn du dich nicht gut fühlst, kann ich dich mit dem Auto heimfahren. Nicht, dass du mir im Bus umkippst…“
Und weshalb flirten mich ausgerechnet diese Männer mehr als offenkundig an? Ein gemeiner Fluch, der mich mein junges Leben lang verfolgt.
„Ne ehrlich - alles gut bei mir! Danke!“
Nachdem es mir gelang, den anderen Seminartag ohne Zwischenfall zu überstehen, kehre ich am Freitag in gewohntes Terrain zurück. Motivation hält sich in bescheidenen Grenzen, die letzten zwei Tage waren so herrlich. Fast ein wenig wie Urlaub. Erholung mit Lerneffekt.
Das Programm ist mir um einiges vertrauter und hat eine Menge zu bieten, was nicht durchgängig anspruchslos war. Ein Vergleich mit Spaß wäre übertrieben, aber graue Zellen durften werkeln und obendrein fand gewollte Ehrfurcht Linderung. Einige Sachen scheinen überhaupt nicht so kompliziert zu sein, wie von Andrea behauptet.
Ich fühle mich jedenfalls bereit, den nächsten Schritt zu wagen und darüber werde ich meine Vorarbeiterin heute in Kenntnis setzen, denn ich verspüre mäßig Lust auf einen neuen „Ich sortiere im Akkord Ablage und erfahre neue Horrorgeschichten über Francesca-Tag“. Gib mir gefälligst eine Rechnung - ich will sie verdammt noch einmal buchen!
Vermutlich werde ich aber wie gewohnt vertröstet. Mindest hoffe ich, dass meine Brechattacke nicht bis ins zweite Stockwerk vorgedrungen ist, sonst wandel ich anstelle unserer geschätzten Chefin zum Objekt der Begierde und darauf kann ich gut und gerne verzichten.
„Guten Morgen - na, wie war dein Seminar?“, werde ich freudestrahlend von meiner sportlichen Kollegin empfangen, was sämtliche Hoffnungen zunichte macht. Der Morgenmuffel lächelt für gewöhnlich nicht vor elf Uhr und von sich aus ein „Guten Morgen“ zu wünschen grenzt an das achte Weltwunder.
„Gut! Es war hilfreich und bei den Debitoren habe ich natürlich besonders aufgepasst.“
„Vorbildlich! Sonst ist nichts Spektakuläres passiert?“
Verstohlen guckt sie an die Decke und pfeift vor sich hin. Chiara und Martin grinsen mich verheißungsvoll an. Sie wissen es!
„Nein - nicht dass ich wüsste“, bewahre ich Haltung.
„Du sollst doch nicht unter der Woche saufen gehen!“, stupst Andrea mich liebevoll von der Seite an, was zugleich das Stichwort der restlichen Kollegen ist, sich enthemmt zu amüsieren - auf meine Kosten.
„Hast du auch jemand aufgerissen?“, fragt Chiara neckisch.
„Haha! Schön wär`s gewesen!“, scherze ich aufrichtig. Trotzdem - was für ein Tratschvolk! „War ja klar, dass es die Runde macht. Kerstin?“
„Nein - Francesca!“, enttarnt Martin die Informantin, wenngleich ich das Leck eisern bei Natura vermute. Wie sonst sollte unsere Chefin davon Wind bekommen haben?
„Die Arme hat sich gebrochen“, kichert Iron Man. „Wir hatten uns ernsthaft Sorgen gemacht - schon das Schlimmste ausgemalt…“
„Alles halb so wild!“, erwidere ich milde lächelnd. „Meine Knochen sind noch alle heile!“
Andrea zwinkert mir zu: „Ich sag nur: die Liste!“
„Komm, erzähl! Was war es? Bier? Wein?“ Chiara ist so lustig.
„Oder was Hartes? Ramazotti?“ Martin ebenfalls.
„Sehr witzig!“ In meinem ganzen Leben werde ich niemals wieder Ramazotti anrühren, aber diese Anekdote ist nicht jugendfrei und es ist frühmorgens.
„So, liebe Leute - genug der Flachserei!“, bereitet Andrea dem spaßigen Unterfangen ein Ende, ehe ihr starres Augenmerk Heidi Hagenbert anvisiert. „Ich habe mir heute viel Zeit für dich eingeplant! Ab an die Arbeit!“
Die Ankündigung meiner Vorarbeiterin verblüfft. Sehr sogar. Gleichermaßen verspüre ich pulsierenden Tatendrang. Sollten die neu gewonnen Erkenntnisse Anwendung finden, bevor ich sie vergesse? Ist der glorreiche Tag gekommen? Darf ich endlich meine allererste Rechnung buchen?