Читать книгу Otto hat Flick Flacks gekauft - Sandra Vahle - Страница 4
Polen gegen Äquator
Оглавление„Na, dann legen Sie mal los!“, fordert mich der grazile Franzose in seinem schwarzen, edlen Nadelstreifenanzug auf, indessen er mich von oben bis unten durchdringend mustert. „Die Bühne ge`ört Ihnen!“
Nirgendwo sonst schreibt das Leben derart packende Erfolgsgeschichten. Vom Tellerwäscher zum Millionär - über Nacht zum berühmten Filmstar. Hier werden Träume erbarmungslos gejagt, umkämpft und nicht selten gelebt. Willkommen in Hollywood!
Es scheint als öffnen sich lang verschlossene Türen, wobei die Betonung auf scheint liegt, denn mit unseren Träumen ist das so eine Sache. Oft träumen wir sie ein Leben lang, ohne dass sie jemals wahr werden. Zu oft bestehen in der Wirklichkeit hartnäckig Abweichungen hinsichtlich Personen, Ort und Handlung. So wie bisweilen in dieser Geschichte. Mal minimal, mal gravierend. Sollte man deshalb aufhören zu träumen? Niemals, schwor sich einst ein unerbittliches Träumerlein, derweil es vertrauter Musik lauschte und einen nachdenklichen Blick hinaus ins Dunkel der Nacht warf. Niemals.
Die runden Tische im Speisesaal eines in die Jahre gekommenen Nobelhotels sind von Tischdecken altweißen Jaquardstoffes bedeckt. Pompöse Kronleuchter sowie nostalgische Gemälde lassen vergangenen Glanz erahnen, der schrammige Zustand des Parketts aus Kastanienholz und barocken Mobiliars gewährt Nüchternheit. Auf dem hölzernen Tresen liegt ein Tafelservice bereit, akkurat der Größe nach angeordnet. Das Sortiment an Gläsern wurde durcheinander drapiert, vermutlich um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. Unverhofft geht es ans Eingemachte, unter wachsamer Begutachtung.
„Nichts leichter als das”, denke ich sorglos.
Weit gefehlt! Schlagartig breitet sich Panik in mir aus, nicht ein klarer Gedanke will fortan gelingen. Die Teller, das Besteck, dann die Gläser?
„Wir `aben nischt den ganzen Tag Zeit, Mademoiselle!“, erinnert der Monsieur mich indiskret daran, endlich zu beginnen. „Worauf warten Sie?“
Darauf, dass meine Nervosität schwindet, doch macht sie mir einen Strich durch die Rechnung. Bei ihm sah es so einfach aus. Mit routinierten Bewegungen, aber zugleich fast tänzerisch samt der Leichtigkeit eines Akrobaten zeigte er uns wenige Minuten zuvor, wie man diese Aufgabe galant löst. Ich hingegen verharre wie gelähmt, den erwartungsvollen Blicken der Jurymitglieder und einer Vielzahl der vornehmlich weiblichen Mitstreiter ausgeliefert.
Für irgendwas muss ich mich entscheiden. Die Teller. Puh, die sind ganz schön schwer! Bedeutend leichter ist die Vorspeisenvariante nicht. Weiter geht`s Heidi, versuch dich zu konzentrieren. Die Gläser! Ich glaube, die großen bauchigen sind für den Rotwein und werden rechts oben am Tellerrand platziert - sicher bin ich mir nicht. Mist, wäre nicht zuerst das Besteck fällig gewesen?
Zu spät, denn ich halte bereits zwei Stiele in der Hand. Hoffentlich bemerkt es niemand. Hastig stelle ich die Rotweinkelche an den vermeintlich richtigen Platz. Links daneben die kleineren für den Weißwein. Aber wohin mit den Wassergläsern? Verflixt!
Spontan entscheide ich mich für die goldene Mitte, obzwar verbissen unsicher. Endlich beim Besteck angelangt, greife ich hektisch vier Messer und drei Gabeln. Der werte Franzose verengt strafend die Augen, mit sinkendem Schamgefühl grinst er verschmitzt. Allseitige Erheiterung folgt gehemmt. Zumindest amüsiere ich die Leute, das ist auch ein Talent.
„Denken Sie nischt, dass Sie eine Kleinischkeit vergessen `aben?”
Sämtliche Augenpaare sind weiterhin auf mich gerichtet.
„Tschuldigung”, stammele ich beinahe flüsternd.
Mir wird warm. Glücklicherweise sind in dem Saal keine Spiegel angebracht. So bleibt mir der errötete Anblick erspart und ich kann das Ausmaß lediglich anhand meiner gefühlten Körpertemperatur abschätzen.
„Pas de problème! Sind Sie ein wenisch aufgeregt?”
Ja verdammt! Und selten fühlte ich mich unwohler in meiner Haut. Nicht mal eine simple Herausforderung wie diesen gottverfluchten Tisch einzudecken, bekomme ich derzeit auf die Reihe. Lächelnd versuche ich die Situation zu umspielen, dabei würde ich am liebsten im Erdboden versinken.
„Mademoiselle!“ Der französische Herr zieht kritisch die Augenbrauen hoch. „Isch ma`che I`nen einen Vorschlag: Sie ge`en `inaus und atmen zwei Minuten dursch. Danach kommen Sie wieder `inein und wir tun alle so, als sei es das erschte Mal!“
Die zweite Chance zum Tisch eindecken! Soll ich mich geehrt oder gedemütigt fühlen? Ich bin mir unschlüssig. Peinlich berührt verlasse ich den geräumigen Saal. Kurzzeitig erwäge ich, mich zu verduften, aber wie automatisiert wandert die rechte Hand zur schweren Türklinke aus Messing. Eine Niederlage aus Feigheit wäre armselig und kühner Wagemut findet Belohnung. Der zweite Anlauf endet sieggekrönt, wenngleich beharrlich nicht annähernd elegant.
Nachdem die Konkurrenz den praktischen Part mehr oder weniger souverän absolviert hat, geleitet mich der anspruchsvolle Monsieur zum Vorstellungsgespräch.
„Sie waren sehr nervös vor`in“, stellt er zu Beginn treffend fest. „Darf isch fragen warum? Peut-être weil Sie als Allererschte dran waren?“
„Nein, das war nicht das Problem“, antworte ich verlegen, denn mein Auftritt ärgert mich. „Keine Ahnung, wie ich diese ständige Unsicherheit besser in den Griff kriegen kann. Einmal habe ich es sogar mit Baldrian versucht, hat aber nicht funktioniert. Ich wurde bloß müde und wäre fast eingeschlafen.“
Dass es sich dabei um meine Führerscheinprüfung handelte, erwähne ich nicht.
„Daran müssen Sie unbedingt arbeiten! Sisch verkaufen zu können, sisch zu präsentieren ischt très wischtig in dieser Gesellschaft. In jeder Bransche. Glauben Sie mir, isch weiß wovon isch spresche. Wissen Sie, was mir immer `ilft?“
Schwungvoll erhebt sich der französische Herr, um sodann gemächlich in die Knie zu gehen. Verwundert gucke ich ihn an. Gleichzeitig breitet er seine Arme aus, holt tief Luft und atmet sie langsam wieder aus.
„Das ischt die Kunst der Entspannung!“ Eine nahezu anmutige Aura ummantelt ihn. „Sie sollten es ausprobieren.“
Belustigt nehme ich seinen Rat zur Kenntnis.
„Mademoiselle, wie gut ischt ihr Englisch?“, wechselt er das Thema.
„Ok - denke ich.“
„Es wird eine Menge ausländische Prominenz zugegen sein.“
Der Herr reicht mir ein Blatt Papier und bittet mich, es auszufüllen. Zur Abwechslung bereitet mir das keine Schwierigkeiten, der kleine Übersetzungstest fragt Getränkearten und Small Talk ab.
„Was ma`chen Sie beruflich?“, erkundigt er sich interessiert, derweil ich ihm die Lösungen zuschiebe.
„Ich habe Betriebswirtschaft studiert…“
„Oh, wie isch!“, unterbricht er mich plötzlich. „Immerhin zwei Semester! Diese abscheulische Lernerei…isch war jung und dumm. Sie sollten misch nischt als Vorbild nehmen, auch wenn isch erfreulischerweise nischt auf der Straße gelandet bin. Dieu merci! Wann werden Sie fertig sein?“
„Mein Diplom habe ich schon - seit drei Monaten...“, erkläre ich beschämt, wobei ich im Grunde stolz sein könnte. Aber gleich wird er wissen wollen, wonach es mir dürstet, weshalb ich mich unter Wert verkaufe. Anstatt die imaginäre Bewirtung von VIP-Gästen anlässlich einer Fußball-WM zu versemmeln, sollte ich bei einer erstklassigen, renommierten Firma verweilen. Inklusive eines schmucken Büros und einer Bezahlung, von der eine Kellnerin wehmütig träumt. Nach Sekunden betretenen Schweigens folgt die unangenehme Frage wie erwartet.
„Was `at Sie zu uns verschlagen?“
„Ich versuche die Zeit zu überbrücken bis ich eine feste Anstellung gefunden habe“, entgegne ich kleinlaut.
„Die `eutige Wirtschaft ischt von Krisen gebeutelt“, zeigt er sich verständnisvoll und wirft einen flüchtigen Blick in meine Bewerbungsunterlagen. „Oh là là, 23 Ja`re! Das ischt se`r jung, da beginnen andere erscht mit einem Studium.“
So sollte ich es sehen - mehr davon!
„Welcher Dummkopf würde nischt gerne mit Ihnen zusammenarbeiten wollen? Eine sympathische Mademoiselle wie Sie wird mit Sischer`eit zügig das Rischtige finden.“
Der charmante Monsieur scheint Gedanken lesen zu können.
„Merci beaucoup“, bedanke ich mich artig mit Hilfe limitierter Französisch-Kenntnisse. „Ich hoffe, Sie behalten Recht.“
„Sûrement, da bin isch mir absolut sischer!“, spricht er mir eisern Mut zu.
Nachdenklich begebe ich mich in die restaurierte Empfangshalle, um auf das Ergebnis zu warten. Mittlerweile ist es vierzehn Uhr und diese Schlacht, vorab geschickt als kurze Schulung getarnt, sollte laut Agentur längst vorbei sein. Die Nachmittagsschicht in der Eisdiele rückt fordernd näher, Hartz IV möchte ich nicht in Anspruch nehmen. Gut, dass meine Miete günstig ist, so sitzt trotzdem ab und an mal ein neues Lieblingstop drin. Die lang ersehnten Louboutin-Pumps indes befinden sich nach wie vor in weiter Ferne.
Ich gerate ins Grübeln. Soll ich eine Verspätung bei meiner Haupteinnahmequelle riskieren? Angesichts der ohnehin fraglichen Teilnahme, entscheide ich mich aufzubrechen, um Eis zu verkaufen.
Ein abendlicher Anruf sorgt für Klarheit und Ungewissheit zugleich. Worin lag die Absage begründet? War mein Unvermögen ausschlaggebend?
Wenige Tage später ruft die Mittelsdame der Agentur neuerlich an. „Polen gegen Ecuador“ im Feindgebiet Gelsenkirchen wird der erste von insgesamt vier Einsätzen sein. Sicher hatte der nette Franzose sein Veto eingelegt, dass jemand abgesprungen ist, halte ich für unrealistisch. Die Gewichtung der Wahrheit obliegt häufig der Maßgeblichkeit, bestimmt wird es ein aufregendes Erlebnis und das Geld kann ich allemal gebrauchen.
Als ich das Handy niederlege, flacht aufsteigende Freude übereilt ab - ausgelöst von dem ansehnlichen Stapel Absagen, der den Schreibtisch einnimmt. Unverkennbar zeigt niemand Interesse an einer motivierten Hochschulabsolventin, in meiner Vorstellung ereilte sie ein anderes Schicksal.
Täglich flattern neue, spannende Angebote in den Briefkasten. Die Qual der Wahl bereitet mir schlaflose Nächte, doch irgendwann fällt die Entscheidung und gewonnen hat Herzblatt Nummer zwanzig mit den interessantesten Aufgaben, besten Arbeitszeiten und einem Einkommen, bei dem die reale Chance besteht, nicht am Ende des Geldes noch Monat übrig zu haben - die ersten Gehälter zählen nicht.
Das private Glück komplettieren der liebevolle, treue, gutaussehende und stets potente Herzkönig sowie zwei, drei oder vielleicht sogar vier wohlerzogene Sprösslinge. Dazu ein schickes Haus mit reichlich Liebe eingerichtet. Eine Kochinsel schmückt die moderne Hochglanzküche, eine begehbare Dusche das Bad aus Naturstein und einladende Himmelbetten die royalen Schlafgemächer. Lieblingsbücher tapezieren das Lesezimmer, fein säuberlich sortierte Designerstücke den großzügigen Ankleideraum. Zudem verfügt die bescheidene Unterkunft über diverse Kinderzimmer, ein eigenes Fitnessstudio mitsamt Wellnessbereich und Sauna. Einen Waschraum. Ein Heimkino. Nicht zu vergessen der Außenpool, umgeben von einer Gartenanlage, die ohne den fleißigen Gärtner niemals so zauberhaft wäre.
Ich habe genug von all den Nebenjobs! Nicht, weil sie mir keinen Spaß bereitet haben. Im Gegenteil - zeitweilig hatte sich ein ernstzunehmender Berufswunsch entwickelt.
Als ich mich in einem früheren Sommerurlaub Hals über Kopf in den heißblütigen Italiener Matteo verliebte, war es mein Traum mit ihm in Igea Marina, ein idyllisches Fleckchen im sonnigen Italien, eine Strandbar zu eröffnen - täglicher Konsum der Serie „Saint Tropez“ bestärkte diese Idee wesenslos. Wenn schon kellnern, dann wenigstens am Strand. Bei Sonne und mit Blick aufs Meer. In meiner eigenen Bar. Mit Mr. Lover.
Nicht ohne Tränen, dafür unwiederbringlich erlosch das Feuer jener leidenschaftlichen Liebschaft eines Tages, was gleichsam impliziert, dass meiner aufstrebenden Karriere als Betriebswirtin keine Herzen im Weg liegen.
Steine revoltieren störrischer. Selbst die erste Hürde in Form eines Vorstellungsgespräches entsagt man mir und jenes mangelnde Hoheits-Zollen generiert schleichendes Unbehagen, dem Beruf in der Praxis gewachsen zu sein. Meine Erfahrung bezüglich Büroarbeit besteht aus einer mehrsemestrigen Tätigkeit als studentische Hilfskraft für Literaturrecherche. Durchaus ein verantwortungsvolles Amt, aber zweifellos nicht vergleichbar mit der intellektuell anspruchsvollen Herausforderung, die mich künftig erwartet. Oder eben nicht.
Ich bin jedenfalls bereit. Gespielt selbstsicher fordere ich eine Chance in der akademischen Berufswelt. Wann ist es endlich soweit? Für welches Unternehmen werde ich arbeiten? Was werden meine Aufgaben sein? Und schlussendlich die wohl bedeutsamste aller Fragen: Wird mir diese Arbeit gefallen?