Читать книгу Otto hat Flick Flacks gekauft - Sandra Vahle - Страница 5
Du nimmst kein Blatt in den Mund
ОглавлениеHinein mit dem feinen Zwirn in den Schrank, her mit den Bikinis. Sollte ich die Festanstellung gefunden und mir einen Luxusurlaub verdient haben?
Weder noch und mindest die Verneinung des ersten Teils der Frage begleitet Unverständnis und Zorn. Zudem beinahe Bitterkeit, doch beinhaltet diese den Verlust von Hoffnung und meine Mutter lehrte mich, dass Schwarzmalerei eine Tugend ist, der sich vorzugsweise die Mittelmäßigen bedienen. Folglich erfreue ich mich der positiven Ereignisse des vergangenen Vierteljahres, wie dem meines sagenhaften beruflichen Aufstiegs. Von wegen Kellnerin! Ich darf mich nun Praktikantin schimpfen.
Im Laufe des Lebens gerät der Mensch an Kreuzwege, die Entscheidungen fordern. Nicht übertragbare Verantwortung ist eine schwere Last, insbesondere wenn gänzlicher Einklang mit der Seele, dem Gewissen und Herzen inbegriffen, versagt bleibt. Redet man sich solch Bürde ungeniert schön, lastet sie nur halb so drückend.
Ausbeutung hin oder her - inzwischen schreiben wir den Monat September, ein Großteil der unzähligen Absagen war mit „mangelnder Berufserfahrung“ begründet und ein Praktikum liest sich besser im Lebenslauf als weitere Gastronomie-Jobs.
Anfang August begann das dreimonatige Abenteuer und bereits nach wenigen Tagen fand ich mich in der überschaubaren Unternehmensberatung nahe der Hamburger Alster gut zurecht - mitunter Dank im Studium erlernter Controlling-Werkzeuge, wie beispielsweise Pivot-Tabellen, die Eindruck schindende Zeitersparnis erwirken. Inwiefern jenes Schaffen von dem einer festangestellten Betriebswirtin abweicht, fällt mir schwer zu beurteilen. Eines weiß ich dagegen sicher. Irgendwas fühlt sich nicht richtig an, denn mein Praktikantengehalt und Designer-Schuhe wollen sich partout nicht miteinander anfreunden.
Um dem Mittelmaß zu entfliehen, rufe ich mir den lehrreichen Wink meiner Mutter ins Gedächtnis. Der Kurzurlaub mit Valeska war Balsam für Körper und Seele. Mallorca verfügt über malerische Ecken und das Zwei-Sterne-Hotel in Strandnähe bestach mit Sauberkeit, gemütlichen Zimmern sowie nationalen Fischgerichten. Obendrein verlor meine langjährige Freundin bei unserer abendlichen Partie Schach ausnahmslos - kurzum wir hatten eine feine Zeit.
Während ich das Flugzeug verlasse und die vom frischen Regen feuchte Luft inhaliere, beschließe ich guten Vorsatzes mir diese Erinnerungen zu bewahren. Wie ein unbeschwertes Kind freue ich mich darauf, eine Nacht in meiner Studentenwohnung verbringen zu können, die ich wegen der günstigen Miete parallel halten konnte. Ich plane, permanent nackt zu sein. Die Wohngemeinschaft in Hamburg lässt Privatsphäre nur bedingt zu und vermehrt als gleich verstärkt, plagt mich Heimweh.
Praktikanten sind heiß begehrte Ware, stelle ich nüchtern in Onkel Brunos altem Geländewagen fest, unterdessen die Dortmunder Umgebung vertraut einwirkt. Ursprünglich bewarb ich mich bei der Varlo AG auf eine Stelle als Controllerin, aber anstelle des parfümierten Vertrages, eingehüllt in meinen Lieblingsduft, schlug man mir ein befristetes Praktikum vor. Eine interessante Form aufmerksamer Zuvorkommenheit. Dafür wäre diese Leibeigenschaft, sofern es mir erlaubt wird sie anzutreten, in meiner Heimat und bietet die Aussicht auf eine Festanstellung. Was beschwere ich mich eigentlich?
Wenngleich stets bemüht, gelingen will es nicht. Wie soll man durchweg optimistisch gestimmt sein, wenn das opake Leben nach seinen eigenen Regeln spielt? Ungewissheit und enttäuschte Erwartungen überschatten mein sonniges Gemüt. Weshalb erhalte ich nicht jene rosaroten Möglichkeiten, die mir naiv vorschweben?
Sträubend wahre ich Distanz zum Mittelmaß - notfalls werde ich mir die Zuversicht intravenös einführen lassen. Das neue Praktikum bildet meine sichere Einstiegschance!
Am nächsten Morgen weckt mich ein entspanntes Gefühl, herrlich in den eigenen vier Wänden aufzuwachen. Da steht sie. In voller Pracht. Meine heißgeliebte Nespresso-Maschine. Wie sehr genieße ich diesen Moment der Ruhe mitsamt der verführerisch duftenden Versuchung kolumbianischen Ursprungs, ehe ich mich zeitig auf den Weg mache. Braun gebrannt, ausgeschlafen und angezogen.
„Das ist Ihr Besucherausweis“, erklärt mir die Dame am Empfang sorgsam, als ich um weit vor zehn Uhr eintreffe. „Sie werden gleich abgeholt - so lange können Sie im Wartebereich Platz nehmen.“
Angespannt folge ich ihrer Aufforderung, die modernen, schwarz gesteppten Drehsessel aus weichem Kunstleder locken einladend. Ich sehe mich ein wenig um. Fein gesprenkelter Marmorboden pflastert die Empfangshalle, die Anmeldung veredelt eine graue Hochglanzfront. Imposante Bilder mit grafischen Mustern im Popart-Stil sorgen inmitten großzügigem Tageslichteinfall durchs Panoramafenster für bunte Heiterkeit.
Langsam steigt Nervosität auf, meine Blicke schweifen weiter umher. Immer wieder schiele ich verstohlen zum Fahrstuhl hinüber, der fast vollständig aus Glas besteht. Die Herrschaften lassen sich Zeit. Es ist schon zwanzig nach zehn, bemerke ich ungeduldig.
Um mich abzulenken, blättere ich in der internen Firmenzeitschrift, die auf dem Glastisch vor mir liegt. Hoffentlich kommen nicht so viele Fragen zu den Produkten. Varlo ist ein Zulieferer von irgendwelchen Mikrochips in der Luftfahrtbranche und beim Studieren der Homepage verstand ich nur Bahnhof. Technik liegt mir so fern wie den Blau-Weißen der Meistertitel.
Zweiunddreißig Minuten nach zehn. Im Fahrstuhl fahren zwei Personen hinunter. Männlich und weiblich, wie ich erkennen kann. Beide steuern mich zielstrebig an, das sind sie bestimmt. Neugierig und aufgeregt zugleich stehe ich zur Begrüßung auf.
„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung - Karl Bach“, stellt der Herr sich außer Puste vor, „und das ist meine Kollegin Frau Horst.“
„Hallo!“, lächelt die Frau, ehe sie mir freundlich die Hand entgegenstreckt.
„Heidi Hagenbert.“
„Schön! Wir freuen uns, Sie kennen zu lernen.“
Gleich im Gespräch ist Konzentration angesagt, doch lässt dieser kurze Moment vorab Raum für erste Eindrücke. Ich betrachte die beiden ein wenig genauer.
Herr Bach, um die sechzig, ist wohlgenährt - wahrscheinlich zu erklären mit häufigen Geschäftsessen. Überdies liegt die Vermutung nahe, dass er reichlich Kaffee konsumiert und wenig Schlaf findet. Er wirkt ausgelaugt.
Frau Horst, eine auffällig kleine Person Mitte vierzig, steht die Erschöpfung ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Mein flüchtiges Schmunzeln gilt aber weder diesem Umstand noch ihrem Kleidungsstil. Der klassische Hosenanzug samt der hochwertigen Schluppenbluse, die bis zum Hals zugeknöpft ist, wirkt mondän und steht ihr ausgezeichnet.
„Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?“, erfragt Frau Horst aufmerksam, kaum haben wir den nah gelegenen Besprechungsraum betreten.
„Gerne!“
Nach dem üblichen Small-Talk übernimmt Herr Bach die Gesprächsführung. Mit Hilfe von Umsatzzahlen und diversen anderen Fakten stellt er das Unternehmen ausführlich vor. Weltweit beschäftigt Varlo fast hundertsiebzigtausend Mitarbeiter, davon ungefähr zweitausend am Dortmunder Standort. Ähnlich umfassend widmet er sich dem Werdegang von Frau Horst, von ihren Anfängen bis hin zu ihrer jetzigen Position als Abteilungsleiterin der Buchhaltung und des Controllings. Nun bin ich an der Reihe.
„Mit neunzehn, äh achtzehn habe ich mein Abitur gemacht...“
Verflixt! Wieso entgleitet mir neuerlich die Kontrolle? Haspelnd referiere ich die Stufen meines jungen Daseins und eine Besserung ist nicht in Sicht.
Mitsamt Hoffnung entsinne ich mich an die Übungen des souveränen Franzosen. Dasselbe Maß an Sanftmut und Autorität ausstrahlen, in sich ruhen ohne Arroganz - eine Kunst, die ich erstrebe zu beherrschen. Zur Beruhigung konzentriere ich mich auf meine Atmung. Tief ein und langsam wieder aus. Es hilft tatsächlich - meine Stimme wirkt gefestigter, das Stottern kontrollierter.
„Interessant…“, stoppt Herr Bach mich nach einer Weile abrupt. „…also urplötzlich kam dann der Lehrer-Beruf für Fräulein Hagenbert nicht mehr in Frage?“
„Auf gar keinen Fall!“, reagiere ich zur eigenen Verblüffung nahezu mit selbstbewusster Empörung. In Anbetracht mangelnder Nerven und Geduld für pubertierende Schüler verbannte ich Nachhilfe geben relativ schnell meines Nebenjobrepertoires. „Wie kommen Sie darauf?“
„Na, aufgrund Ihres abgebrochenen Lehramtsstudiums!“
„Ich habe die Sprachen nicht auf Lehramt, sondern auf Magister studiert.“
Irritiert schaut er mich an. Irgendwie beruhigend, dass ins Fettnäpfchen treten nicht ausschließlich der unbeholfenen Heidi vorbehalten ist. Eine kleine Pause entsteht. Herr Bach blättert in seinen Unterlagen und umgeht die Situation geschickt, indem er seine Kollegin bittet, zu übernehmen. Eindringlich studiert Frau Horst meinen Lebenslauf.
„Ah, ich sehe - Sie haben zwei SAP Seminare im Studium belegt.“ Interessiert hebt sie ihren Blick. „Bravissimo - wie der Zufall es vorsieht, arbeiten wir mit diesem Programm. Worin lagen die thematischen Schwerpunkte Ihrer Kurse?“
„Kostenstellen- und Investitionsrechnung.“
„Wunderbar! Welche Methoden hatten Sie behandelt?“, fragt sie gezielt nach.
„Eine war - glaube ich - die Kostenvergleichsrechnung…“
„Glauben kann man an den lieben Gott! Sie wollten sagen, Sie wissen es?“
„Ja genau - ich weiß es.“
„Gut, und die anderen?“
Hilfe, ich bin nicht imstande, sämtliche Methoden wiederzugeben. Die beiden Seminare sind eine Weile her und an Einzelheiten kann ich mich nur wage erinnern. Durchatmen! Mit der empfehlenswerten Taktik in Form penetranter Gegenfragen rette ich mich von Frage zu Frage, aber sobald annähernd Zufriedenheit waltet, schiebt Frau Horst rasch die nächste Stolperfalle hinterher. Dieses Spielchen läuft seit nunmehr zwanzig Minuten. Oder noch länger?
„Does you agree, that we will continue our conversation now in english? If you work at Varlo, it is very important, that you can speak English without mistakes!”
„Sure!“, übe ich mich mehr schlecht als recht in Souveränität - unvermeidbar huscht mir der Hauch eines Grinsens übers Gesicht. Heißt es nicht Do you agree?
Frau Horst startet erneut einen Fragenmarathon und obwohl ich wiederholt versuche, ihr sinnreiche Antworten zu liefern, schwimme ich weiterhin in einer Tour.
„Schluss für heute!“, unterbricht Herr Bach sie irgendwann endlich. „Wir werden schon sehen, ob sie was drauf hat. Wenn ja, bleibt sie und wenn nicht, kriegt sie nach den drei Monaten ein Zeugnis und gut ist.“
„Karl - du nimmst kein Blatt in den Mund!“, fügt Frau Horst dem hinzu.
Cool, das hört sich ganz nach einer Zusage an. Geht doch! Jedoch fühle ich mich wie eine Statistin, da Herr Bach durchgängig in der dritten Person von mir redet. „Sie dürfen mich ruhig direkt ansprechen, auch wenn Sie mich nicht für voll nehmen, weil ich nervös bin. Ich hatte bisher nicht viele Gespräche dieser Art“, würde ich ihm am liebsten sagen, aber das lass ich lieber.
„Heißt das, mir ist der Praktikumsplatz sicher?“, frage ich stattdessen schüchtern nach, um hundertprozentige Gewissheit zu erlangen.
„Selbstverständlich. Ab November geht`s los - sobald das Praktikum bei den Fischessern vorüber ist“, sorgt Herr Bach in seiner lockeren und burschikosen Art für finale Klarheit. „Gehalt zahlen wir dasselbe, Urlaub gibt`s bei uns nicht! Ein junger Hüpfer muss erstmal Gras fressen!“
Moment mal! Eine Verschlechterung meines vorherigen Sklavendaseins. Warum erhalte ich keinen Urlaub? Ist das überhaupt rechtens? Ehe sich die Gutsherren hastig aus Termingründen verabschieden, lächeln sie mir aufmunternd zu. Den Arbeitsvertrag wollen sie mir postalisch zusenden.
Mit authentischer Vorfreude verlasse ich meinen zukünftigen Arbeitgeber. Wir werden sehen. Entweder ich überzeuge oder nicht. Ich werde jedenfalls alles in meiner Macht stehende tun, um mein Ziel zu erreichen.
Herr Bach kriegt jeden Morgen einen frisch gepressten Orangensaft und sollte ich einen guten Draht zu Frau Horst entwickeln, werde ich das Malheur mit den gelblichen Haaren samt Feingefühl in die richtigen Wege leiten. Brünette können gleichermaßen Spaß erleben - das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
Jenseits all dieser potenziell karrierefördernden Initiativen fürchte ich bei manch weiterem Akt an persönliche Schmerzgrenzen zu stoßen. Weder werde ich Gras fressen noch Blätter in den Mund nehmen! Geschweige denn gewisse andere Dinge.