Читать книгу Mein wunderbares Bücherboot - Sarah Henshaw - Страница 10
2. Wasser (Teil II)
ОглавлениеUngefähr um diese Zeit herum beginne ich, auf eBay nach Ruderbooten aus Holz zu schauen, auch wenn mich Stu ständig darauf aufmerksam macht, dass wir uns das nicht leisten können. Aber ich habe einmal ein junges Paar gesehen, das in einem Ruderboot am Hafen-Pub anlegte, und ich möchte so etwas unbedingt auch für uns. Beide lachten lauthals, während sie versuchten, aus ihrem Boot auf die Promenade zu steigen. Das Boot schaukelte und beide hatten zittrige Beine, als wären sie ganz entkräftet vom Skorbut nach einer langen, langen Überfahrt. Als sie den Pub betraten, huschte ich schnell nach draußen, um ihr Boot zu bewundern, dessen Ruder wie in einem Kuss überkreuzt dalagen.
Letztlich finde ich eines für zweihundert Pfund und kaufe es. Die Außenhaut ist blutrot gestrichen, innen ist das Holz einfach klar lackiert. Da unser Narrowboat3 Joseph heißt, taufe ich unseren kleinen Neuzugang Josephine und platziere sie kieloben auf dem Dach des Ladens. Stu ist fuchsteufelswild. Zu diesem Zeitpunkt hat er zwei Jobs, um unsere Rechnungen zu begleichen, und wenn er spät abends von seiner zweiten Schicht zurückkommt – oft erst gegen Mitternacht –, habe ich Schuldgefühle und feuere doppelt so wütend zurück. Ich arbeite sieben Tage die Woche in der Buchhandlung, aber finanziell kommt dabei nichts rum. Ich erinnere mich, wie meine Schwester und ich uns früher, als wir klein waren, unser künftiges Liebesleben voraussagten. Dabei erzählte ich ihr jedes Mal genau das, was sie hören wollte – dass sie einen Landwirt oder einen Hundeführer oder einen Pferdeflüsterer heiraten würde, der ihr jedes Jahr zum Geburtstag neue Haustiere schenken würde und schön starke Unterarme hätte. Mir tat sie nie den Gefallen. Ich träumte von einem sündigen Leben und fingerlosen Handschuhen in einer kleinen kalten Dachkammer. Doch dem hielt sie entgegen, dass ich schlecht durchblutete Finger hätte, und prophezeite mir stattdessen eine Ehe mit einem reichen Geschäftsmann in einem großen Haus mit doppelt verglasten Fenstern. Angesichts meiner vehementen Proteste machte sie mir immerhin das Zugeständnis, dass ich eine Affäre mit dem Gärtner haben könne. Nun, da ich gerade einmal 15 Jahre später völlig blank bin, erscheint mir ihre Prophezeiung plötzlich ziemlich vernünftig.
In meine Streitigkeiten mit Stu mischt sich zudem dieses gewisse Gefühl, das man Langeweile nennt. Wahrscheinlich ist dieses Gefühl schon immer da gewesen, in verregneten Sommerferien und auf langen Autofahrten. Als es eines Morgens auf dem Boot auftaucht, beschließe ich, es einfach zu ignorieren. Das ist eine ziemlich nützliche Taktik, um mit vielen Dingen klarzukommen, die über diese Stufen hereinspaziert kommen. Aber jedes Mal bleibt sie ein wenig länger, blättert durch die sich türmenden Stapel unverkaufter Bücher und bastelt wunderschöne Origami-Schwäne aus den in die Schubladen gestopften Rechnungen. Sonst macht sie nichts von all den Dingen, die mich bei anderen Kunden nerven, aber irgendwie macht mich ihre Anwesenheit unruhig.
Eines Tages kommt ein Mann herein, um Bücher für seinen Sohn zu bestellen. Er wohnt zwar nicht in der Gegend, hat aber ein Faible für Boote und war neugierig auf den Laden. Als er ein paar Wochen später kommt, um die Bücher abzuholen, bleibt er etwas länger da, um mit mir zu plaudern. Ich höre ihm gern zu, besonders wenn er übers Segeln spricht. Daraufhin bringt er mir ein paar Bücher über Boote vorbei und zeigt mir im Internet Bilder einer skandinavischen Slup, die er gerade in Amerika gekauft hat. »Darin würde ich gern den Atlantik überqueren«, sage ich. »Klar, warum nicht?«, antwortet er. »September ist eine gute Zeit dafür.« Also investiere ich noch mehr Geld in Segelausrüstung und eine Rettungsweste und kaufe mir eine große Seekarte für eine Überquerung des Atlantiks im September. Ich träume von großen Wellen, die all die Fehler der Vergangenheit, die ich hinsichtlich des Buchladens und Stu gemacht habe, einfach fortspülen. Ich stelle mir vor, wie ich als ein völlig anderer Mensch zurückkehre; einer, der uns beiden lieber sein wird.
Einen Monat vor meiner geplanten Abreise ziehe ich aus meiner gemeinsamen Wohnung mit Stu aus und wieder bei meinen Eltern ein. Ich wünschte, Stu würde mich bitten zu bleiben, aber wir beide haben die Zuversicht verloren. Ich hole ein paar Klamotten und Stu hilft mir, sie in große schwarze Mülltüten zu stopfen und ins Auto zu bringen. Der Sommer, den ich gar nicht richtig wahrgenommen habe, packt unterdessen ebenso hastig seine Sachen. Auf der untersten Stufe des Hauseingangs liegen zertrampelte Blütenblätter. Wie konnte uns eine ganze Jahreszeit einfach so durch die Finger rinnen? Mir wird erst klar, dass es wirklich aus ist, als ich wegfahre. Ich sehe Stu dastehen, das Lächeln aufs Gesicht gepflastert, das im Rückspiegel zusammen mit der gleißenden Sonne allmählich sinkt.
Der Mann mit dem Boot gibt mir inzwischen Segelstunden auf dem See Windermere. Auch wenn ich nicht so richtig weiß, was ich da tue, lässt er mich das Steuer halten und mit den Segeln herumexperimentieren, während er hinuntergeht und mit dem Handy telefoniert. Ich mag diese Momente und ich mag den See. Der Himmel hüllt uns beide in Grau, was mich an ein Buch erinnert, das ich gerade lese und das von Langeweile handelt. Darin wird erklärt, dass Langeweile eine Antriebskraft ist, die uns dazu bringt, etwas zu tun. Hier draußen auf dem See fühlt sich die Langeweile an wie der Wind und wenn sie aufzieht, halse ich einfach, wie es in der Fachsprache heißt, wenn man vor dem Wind einen Kurswechsel durchführt. Ohne Kleider springe ich ins Wasser und bin froh, dass ich nicht mehr gegen die Langeweile ankämpfen muss. Stattdessen ziehe ich sie mit dem kalten Wasser zu mir heran. Als ich hochschaue und den Mann mit dem Boot sehe, wie er mich beobachtet, wird mir bewusst, wie falsch meine Schwester lag. Das Wasser kann mich nicht verhüllen. Den Kopf untergetaucht, meine Haare in seinen Fingern, enthüllt es vielmehr alles.
Auf der Rückfahrt erzählt mir der Mann von seinem Beruf. Er ist Geschäftsmann. Wie immer höre ich ihm gern zu. Ich blicke geradeaus durch die Windschutzscheibe auf die graue Asphaltstraße und plötzlich weiß ich, dass ich nicht auf seinem Boot den Atlantik überqueren werde und dass es nichts macht. Stattdessen plane ich eine andere Reise – nur ich, meine Bücher und mein Kanalboot. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendetwas tun muss, weil ich mir sonst nur über Stu den Kopf zerbreche und mich darüber ärgere, dass die Leute keine Bücher mehr kaufen. Tschechow sagte einmal über Inspiration, dass, wenn man nur lang genug etwas betrachtet, beispielsweise die Wand vor einem, aus dieser Wand früher oder später die Inspiration kommt. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich ihm misstrauen sollte. Schließlich zählen seine Kurzgeschichten zu meinen allerliebsten.
3Ein Narrowboat ist ein auf den Binnenwasserstraßen von England häufig genutzter Bootstyp, der sich durch einen sehr schmalen Rumpf auszeichnet. Ein Narrowboat hat wenig Tiefgang und ist daher gut geeignet für die seichten Kanäle. Ursprünglich dienten Narrowboats als Frachtschiffe. Heute sind sie als Freizeitboote beliebt.