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10. Marathon (Teil I)

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Nach Hatton nehme ich meine schleichende Weiterfahrt wieder auf in Richtung Birmingham, um an einem Kanalboot-Marathon teilzunehmen. Dabei handelt es sich um einen jährlich stattfindenden Wettbewerb, der von der Birmingham Canal Navigations Society (BCNS) organisiert wird, aber in manchen Jahren, wenn der Wasserstand zu niedrig ist, müssen sie ihn abblasen – so wie letztes Jahr. Deshalb ist der Andrang dieses Jahr besonders groß. 22 Boote treten gegeneinander an und ich will, dass meins gewinnt.

Doch wie mir Andy Tidy bereits erklärt hat, ist das leichter gesagt als getan. Das erste Mal spielte ich mit dem Gedanken, als ich auf der Wand’ring Bark in Stratford-upon-Avon saß. »Ich glaube, so langsam werde ich richtig gut in diesem ganzen Narrowboat-Gedöns«, sagte ich damals in ungewohnter Bescheidenheit. »Ich würde einfach gern mein Können unter Beweis stellen. Na, Lust auf ein Rennen?« Andy dachte ernsthaft über den Vorschlag nach, was mich ein wenig überrumpelte. »Na ja, wir könnten schon … Wie sieht es denn bei dir Ende des Monats aus?« Daraufhin legte ich alle meine Reisepläne auf Eis, wurde zahlendes Mitglied der Gesellschaft, die das Rennen ausrichtet, und hörte verzückt zu, während er selbst gebrautes Bier nachschenkte und mir die Geschichte des Marathons erzählte.

In seiner Blütezeit erstreckte sich das Kanalnetz der Birmingham Canal Navigations auf über 250 Kilometer. Zudem war es verknüpft mit privaten Flussarmen und Becken, die den vielfältigen neuen Industriezweigen dienten, die in der Gegend entstanden waren. Innerhalb der letzten hundert Jahre ist die Kanallänge auf gerade einmal 160 Kilometer geschrumpft, wovon ein Großteil wenig genutzt wird und buchstäblich unbefahrbar ist. Der Marathon wurde ins Leben gerufen, um das Verkehrsaufkommen zu erhöhen, ein letzter verzweifelter Versuch, nach dem Motto »Was rastet, das rostet« die lange Schifffahrtstradition der Stadt zumindest in Teilen zu erhalten. Darüber hinaus bringt der Wettbewerb weitere Vorteile. Da die Teilnehmer angewiesen werden, alle Schwierigkeiten zu melden, die ihnen während des Rennens begegnen, kann die BCNS diejenigen Streckenabschnitte ermitteln, die besondere oder dringende Aufmerksamkeit benötigen. Der Bericht über die gemeldeten Störfälle wird dann bei British Waterways eingereicht.

Die größte Schwierigkeit beim Marathon besteht in der Punktevergabe. Es dauert mindestens zwei Wochen, bis der Gewinner verkündet werden kann. Punkte werden nach Schwierigkeitsgrad der Route, Mannschaftsgröße, Länge und Tiefgang des Bootes, Startpunkt und Anzahl der passierten Schleusen vergeben sowie dafür, dass man die Ziellinie in Walsall vor 14 Uhr erreicht. Damit dieser dreißigstündige Gewaltmarsch noch mehr »Spaß« macht, ist eine Schatzsuche in das Rennen integriert, bei der man Bonuspunkte sammeln kann.

Für mich wäre es das Klügste, allein anzutreten, um meine Gewinnchancen zu erhöhen. Dann würde ich für je zwei Schleusen sowie pro fünf Meilen je einen Extrapunkt kassieren. Laut dem neunseitigen Regelbuch wurde dieser Extrapunkt als Ausgleich für die erhöhte Schwierigkeit eingeführt, »an Schleusen anzulegen, Hinweise zu finden, sich zwischendrin mit einem warmen Getränk zu stärken etc.«. So groß die Versuchung auch ist, mir diesen Bonus zu sichern, so hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf einem versenkten Ford Cortina auflaufe. Für diese Unternehmung brauche ich jemanden mit Muckis.

Also frage ich vorsichtig bei Stu an, ob er an dem Wochenende frei habe. Die Wahrheit ist, ich vermisse ihn. Wir schreiben und telefonieren noch immer, aber je mehr Zeit ich hinter dem Ruder verbringe, desto mehr spüre ich die Entfernung, die zwischen uns liegt. Ich erzähle ihm, wie ich zum ersten Mal Diesel getankt habe und dass ich mir mit ein paar Wanderern ein Schinkenbrötchen und eine Dose Limo geteilt habe. Aber ich erzähle ihm nicht, wie stolz ich insgeheim bin, unfallfrei rückwärts in die Lücke bei der Zapfsäule gefahren zu sein. Oder wie ich, als einer der Wanderer sich für die dicke Schicht Butter auf dem Brötchen entschuldigte, plötzlich traurig wurde, weil es mich daran erinnerte, dass Stu sich immer über meine Art, Brote zu schmieren, mokiert hatte. Als ich ihn frage, ob er mir beim Marathon hilft, erwarte ich nicht, dass er zusagen wird.

Abgesehen von der Seite, auf der die Infektionsrisiken aufgeführt sind, lese ich mir die restlichen Anweisungen im Vorfeld des Rennens nicht allzu ausführlich durch. Die Warnhinweise zur Leptospirose finde ich auf makabre Art faszinierend. Nehmen Sie keine feuchten Leinen, Angelleinen oder andere Gegenstände in den Mund. Fassen Sie keine Injektionsnadeln an. Suchen Sie im Fall eines Vogelgrippeausbruchs einen Arzt auf, falls Sie unbeabsichtigt in Kontakt mit einem Vogelkadaver kommen. Am Samstag, den 28. Mai, um acht Uhr ist es endlich so weit; ich bin bestens vorbereitet und liege mit meinem Boot in der Nähe des Gas-Street-Beckens, als wir den Briefumschlag mit dem Bordprotokoll und dem Fragebogen öffnen. Ich starte den Motor.

In diesem Moment wird mir klar, dass Buchhandelskunden wie Busse sind. Okay, der Vergleich mag hinken, aber hey, es ist acht Uhr morgens. Da wartet man drei Jahre auf Kunden und dann kommen gleich drei auf einmal. Die drei stöbern ewig durch den Laden, dabei lesen sie gar keine Bücher. Als noch jemand die Treppe herunterkommt, versuche ich sie allesamt hochzuscheuchen, aber nun beginnen sie mich zu fragen, wieso all meine Pflanzen hinüber sind und ob sie Fotos voneinander schießen dürfen, wie sie so tun, als ob sie lesen würden. Stu hat sich derweil verkrümelt. Dann kommen weitere Leute. Einer von ihnen entdeckt meine »Die Book Barge im Überblick«-Broschüre mit meinem Angebot, Bücher gegen Essen zu tauschen, und bietet mir kostenlose Mojitos im neuen Kanalquartier Brindleyplace an. Im Gegenzug will er keine Bücher, da er ohnehin nicht liest. Ich gebe auf. Und bringe den gesamten Tag bis zwanzig Uhr mit kubanischem Rum zu.

Auch wenn wir nun den anderen Teilnehmern zwölf Stunden hinterherhängen, habe ich einen neuen Schlachtplan, von dem ich immens überzeugt bin. Wir werden uns auf dem direktesten Weg nach Walsall begeben, und zwar in Rekordzeit. Damit werden wir das Komitee von den Socken hauen, da bin ich mir sicher. Bestimmt werden sie unseren Bug mit einer Girlande aus Minze und Limettenscheiben schmücken und unsere Einfahrt ins Ziel mit dreifacher Punktzahl versüßen. Stu entgegnet darauf, dass ich totalen Stuss erzähle und ob ich endlich mal den Mund halten könne, weil er sich die Übertragung des Champions-League-Finales anhört, die aber vor lauter Wind kaum zu hören ist. Während Stu das Ruder übernimmt, stecke ich sein Radio zwischen die toten Blumen, um es vor dem Wind zu schützen, was super funktioniert. Unter dem Heulen des Windes und dem Dröhnen des Motors wird der Jubel des Publikums, wenn ein Tor fällt, trotzdem geschluckt.

Barcelona gewinnt, wir fahren weiter. Als es zu nieseln anfängt, beschließe ich, Andy zu schreiben und einen Umweg zu machen, um ihn zu treffen. Er wirft uns einen großen blau-weißen Golfschirm rüber. Stu und ich halten ihn abwechselnd.

Gegen 22 Uhr machen wir das Boot in einer Schleusentreppe nahe eines Kanalarms fest, der aufgrund chemischer Verunreinigung stillgelegt ist. All die Chemikalien tünchen das schwarze Wasser in den Farben eines toten Regenbogens. Als wir das Boot festmachen, meine ich, im Wasser das rosa Glücksbärchi zu sehen, das meine Schwester als Kind hatte und das auf dem Bauch einen Regenbogen trug.

Bevor wir an diesem Abend schlafen gehen, kommen wir mit zwei Männern ins Gespräch, die auf dem Weg zum Pub an uns vorbeikommen. Sie erzählen uns, dass erst vor ein paar Monaten an dieser Stelle ein Boot in Brand gesteckt wurde. Es sei ein schlechter Liegeplatz, sagen sie, und wir sollten weiterfahren. Aber wir lassen uns davon nicht beeindrucken und kriechen in unsere Schlafsäcke. Als mir die Augen zufallen, ist Stu noch lange Zeit wach und horcht gespannt auf alle murmelnden Stimmen, die draußen vorübergehen.

Letztlich verbrennen wir nicht in dieser Nacht auf unserem Boot. Aber irgendwann mitten in der Nacht zieht ein anderes Boot an uns vorbei. Als Stu den schwarzen Vorhang beiseite zieht, strömt das Licht der Stirnlampen der Besatzung herein und wir schämen uns ein wenig, weil wir für das Rennen keinen so großen Aufwand betreiben. Dafür werden wir das Ziel in Rekordzeit erreichen, erinnere ich Stu. Wir schlafen trotzdem mit dem Gefühl ein, dass unsere Methode wenig sinnvoll ist.

Am nächsten Morgen legen wir einen Zahn zu, während Stu mir Abschnitt 1.3 und 1.5 des Regelbuchs vorliest. Darin heißt es: Alle Verordnungen, Gesetze und Vorschriften von British Waterways hinsichtlich der Verwendung von Booten auf Kanälen müssen eingehalten werden, einschließlich der korrekten Handhabung der Schleusen und Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ich drossele das Tempo ein wenig. Er liest weiter vor: Teilnehmer, deren Durchschnittsgeschwindigkeit die von British Waterways vorgeschriebenen Limits überschreitet, müssen mit einer Reduzierung ihrer Gesamtpunktzahl oder einer Disqualifizierung rechnen.

So kriechen wir im Schneckentempo Richtung Walsall, zusätzlich gebremst durch die Algen, die sich um unsere Schiffsschraube wickeln. Ich fange an, den Kanal und die heruntergekommenen Fassaden der Gebäude entlang des Wegs zu mögen. Ihre Fenster sind braune Spiegel, die unser Spiegelbild einen Moment lang einfangen und festhalten – ein Junge und ein Mädchen und ein langes Boot mit verwuchertem grünem Dach. Dann reichen sie es an ihren Nachbarn weiter. So werden wir von einem zum anderen weitergereicht bis zum letzten Fenster, dem die Scheibe fehlt.

Insgesamt kommen wir auf sechs Stunden Fahrzeit. 24 Stunden haben wir damit verbracht zu schlafen beziehungsweise Mojitos zu trinken. Trotzdem bekommen wir am Ende, wie alle Teilnehmer, eine Bronzeplakette, die ich in meiner Handtasche verstaue, ehe wir frühstücken gehen und dann im strömenden Regen nach Birmingham zurückkehren.

Letztlich gewinnt den Marathon ein Mann namens John Hammond auf seinem Narrowboat Muskrat, zu Deutsch Bisamratte. In der indianischen Schöpfungsmythologie ist es die Bisamratte, die Schlamm aus der Tiefe des Wassers holte und damit die Grundlage für die Welt schuf. Alle anderen Tiere haben versagt.

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