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1. Wasser (Teil I)
ОглавлениеEs gibt zwei Arten von Nacktbadern auf der Welt: diejenigen, die den Gedanken erregend und/oder befreiend finden. Und diejenigen, die irrtümlicherweise glauben, niemand könne ihre Nacktheit sehen, da sie sich ja im Wasser befinden. Ich nehme an, zu letzterer Kategorie würde sich nur eine Handvoll Leute bekennen. Meine Schwester und ich, die wir in Südafrika aufwuchsen, gehörten dazu.
Durban, 1990. Die meisten Nachmittage verbrachten wir im Swimmingpool des Krankenhauses, in dem unser Vater arbeitete. Im Pool waren wir immer allein, nur um 16 Uhr kam ein Mann namens Mr. Priggy mit einem Eimer Chlorpulver und entleerte ihn um uns herum. An den Wochenenden kam unsere gesamte Familie hierher sowie die Nachbarsfamilien, sodass sich insgesamt elf Personen im und um den Pool befanden. Während sich unsere Eltern meist auf Sonnenstühlen im Schatten ausstreckten, hüpften wir Kinder vom Beckenrand ins Wasser, tauchten längere Strecken oder spielten ein Spiel namens Marco Polo, eine Art Wasserversion von Blinde Kuh.
Meine Schwester und ich waren echte Wasserratten und blieben selbst dann noch im Wasser, wenn alle anderen sich bereits abgetrocknet hatten und miteinander plauderten und dicke Käsesandwiches aßen. In diesem Moment kam meine Schwester auf die Idee, wir könnten unsere Badeanzüge ausziehen. »Das merkt keiner, weil ja niemand unter Wasser sehen kann.« Unsere Badeanzüge waren das gleiche Modell, von unserer Mutter geschneidert. Sie hatten einen tiefen Rückenausschnitt, sodass sie dieselbe parabelförmige Bräunung hinterließen. Über dem Po prangte eine Schleife. Ihre war pink. Meine war blau. Also streiften wir uns die nassen Anzüge vom Körper und legten sie auf den erhitzten Kachelboden neben dem Pool, wo sie aussahen wie vom Regen durchtränkte Blütenblätter einer exotischen Pflanze. Nackt kicherten wir im Wasser. Der Logik meiner Schwester folgend tauchte ich mit dem Kopf unter, denn somit war ich gar nicht mehr zu sehen. Eigentlich schade, dass uns niemand sehen kann, dachte ich, denn wie wir so unsere Arme und Beine bewegten, mussten wir aussehen wie kleine Vögelchen vor strahlend blauem Himmel.
Jahre gingen ins Land, in denen wir älter wurden, zur Schule gingen, studierten, unseren ersten richtigen Job hatten und schließlich wegzogen. Ich für meinen Teil habe inzwischen einen Buchladen auf einem Kanalboot in der Nähe von Burton-on-Trent in England. Doch der Laden läuft nicht gut. Das Wasser, in dem mein Boot treibt, ist anders als jenes damals im Pool. Es ist trüb und braun. Hier könnte ich mich ruhigen Gewissens ausziehen und ins Wasser hüpfen und niemand würde auch nur ahnen, dass ich nackt bin, aber es würde auch niemand bei meinem Anblick an einen Vogel denken. Gegenüber vom Hafen befinden sich eine doppelspurige Straße und ein Argos-Lager. Nun blicke ich aus dem Fenster auf das Wasser, das dem Wasser, wie ich es kenne, in keiner Weise gleicht. Es kommt nicht auf mich zugelaufen wie ein Hund, der an meinem Gesicht leckt, wie es die Wellen sonst tun. Es tropft auch nicht von meinen Haaren herab, wie es der Regen tut. Meistens liegt es einfach nur da, teilnahmslos. Zwei Wochen nach Weihnachten friert es einfach zu. Wenn ich nun hinausschaue, sehe ich Risse, die aussehen, als würden kleine, kahle Bäume auf der Seeoberfläche einen zarten Wald bilden. Vorwiegend verlaufen diese Risse rings um die Boote – darunter auch meins – und hegen uns fein säuberlich ein. Durch das Eis hindurch kann ich das Wasser nicht mehr sehen und höre auf, mir darum Gedanken zu machen. Die unzähligen unbezahlten Rechnungen in dem roten Aktenschrank neben dem Schreibtisch nehmen meine Aufmerksamkeit schon genug in Beschlag. Es ist lange her, seit ich Geld aus der Geschäftskasse entnommen habe.
Als es wärmer wird und das Eis wegtaut, erwartet mich eine Überraschung an Bord. Als ich um zehn Uhr morgens aufmache, bemerke ich, dass das Boot gurgelt, als hätte es Lungenprobleme. Das Innere ist überflutet und ich bin völlig perplex, weil das Wasser klar ist. Es sieht aus, als befände sich ein lang gestreckter Pool im Laden. Bücherregale ragen schräg entlang der Ränder auf, die unteren Fächer sind aufgequollen und mir blutet das Herz bei dem Gedanken daran, wie viel Geld ich da hineingesteckt habe. Nachdem ich die Wasserleitung abgestellt habe, suche ich nach dem Rohrbruch. Ich finde ihn in einem Schrank, in dem noch mehr nasse Bücher liegen. Ihre Seiten sind labbrig und dünn, die Schrift unentzifferbar durch die Worte, die dahinter durchscheinen. Das Wasser hat sie zusammengetrieben wie eine verängstigte Herde. Ich rufe meinen Freund an. Gemeinsam versuchen Stu und ich, mit Eimern und einem Nasssauger Wasser abzuschöpfen. Wäre das Eis dünner, könnten wir mit dem Boot rüber zur Pumpe an der Werft rudern und das ganze Wasser in ein paar Minuten abpumpen. Stattdessen stehen wir am Abend immer noch da und mein Vater wütet wie Victor Frankenstein in seiner Garage, um etwas zu konzipieren, womit wir das Wasser angetrieben von seiner orangefarbenen Bohrmaschine etwas schneller abpumpen können.
Als wir endlich fertig sind, ist die Lage gar nicht so schlimm und ich kann schon wenige Tage später den Laden wieder aufmachen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das Boot von diesem Hafen vorerst die Nase voll hat – ebenso wie ich. Und so drücke ich die Nase gegen das beschlagene Fenster und male mit der Nasenspitze Bilder aus Punkten, während ich auf Kundschaft warte. Es ist Eile geboten, wenn ich mit dem Zeigefinger die Punkte verbinde, ehe die hinunterlaufenden Tropfen meine fragilen Gemälde zerstören, und ich bin froh, dass mich niemand sehen kann.