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9. Die drei »M«

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Im kleinen Städtchen Hatton gibt es auf dem Grand-Union-Kanal die Hatton-Schleusentreppe, bestehend aus 21 Schleusen hintereinander, mit denen man einen Höhenunterschied von 45 Metern überwindet. Bald schon gebe ich auf – die Schleusen sind breiter, als ich es gewohnt bin –, vertäue mein Boot auf halbem Weg nach unten, ungefähr zwei Gehminuten von einem Café entfernt, wo ich tagsüber die Toilette benutzen kann, und fünf Minuten von einem Pub auf einem Hügel entfernt, wo ich abends Zähne putzen kann. Auf dem Weg zurück zum Boot durch die Dunkelheit spüre ich in der Luft den Flügelschlag der Fledermäuse, die immer wieder aus den Bäumen geflattert kommen.

Abgesehen von Helen und Andy und ein paar anderen Leuten hatte ich bislang wenig Glück, was das Tauschen von Büchern betrifft. In Hatton probiere ich eine neue, simplere Strategie aus. Ich besitze ein großes Whiteboard, auf dem in krakeliger Schrift steht, dass ich gewillt bin, so ziemlich gegen alles zu tauschen, aber nun schränke ich es auf drei Wünsche ein. Ich nenne sie die drei »M«: Milch, Mahlzeiten und aMüsement. Für Letzteres ist ein wenig Einsatz gefragt, also mache ich ein Foto von der Tafel, poste es auf Twitter und Facebook, hänge dann die Tafel über meinem Schreibtisch auf und warte ab, was passiert.

Der erste Durchbruch ist eine SMS von einem Typen, der mich in Staffordshire manchmal mittags auf dem Boot besucht hatte, wo er in einer Praxis nahe dem Hafen die Weiterbildung zum Allgemeinmediziner absolvierte. Er las viel von Alexandre Dumas und so kam es, dass wir uns oft übers Fechten unterhielten und ich ihm die Fechtmaske zeigte, die ich als Lampenschirm verwende, sodass das Licht in Hunderte kleiner Vierecke gewürfelt an die Decke geworfen wird. Als er mit der Ausbildung fertig war, schickte er mir Briefe aufs Boot. Echte handgeschriebene Briefe in seiner träge nach rechts neigenden Schrift. An den Morgen, wenn der Postbote mir einen Brief auf die Stufen geworfen hatte und ich mit einer Tasse Tee dasaß und sie las, war es herrlich, Buchhändlerin zu sein. Zu meinen Füßen stand eine Kiste mit der aktuellen Buchlieferung und hinterher nahm ich die Bücher langsam einzeln heraus und sortierte sie nach denjenigen, die Kunden bestellt hatten, und jenen, die ich bestellt hatte. Die letzteren, unordentlich aufeinandergetürmt, da ich die Augen immer schon auf dem nächsten Titel in der Kiste hatte, drückten ihre Buchrücken durch, um mit ihrem Leib aus cremefarbenen Seiten zu protzen, der in ein straffes Korsett aus Bindung und Schutzumschlag geschnürt war.

Nachdem ich seine SMS erhalten habe, treffe ich ihn noch später am selben Tag. Er ist gerade in Warwick, um einen Freund von der Uni zu besuchen, und lädt mich ein, gemeinsam mit beiden zu essen. Der nächste Tag ist ebenso ergiebig. Auf dem Treidelpfad sind Spaziergänger und Touristen unterwegs und unter dem steten Fluss an Kunden ist eine Frau namens Annabel, die mir eine Mahlzeit, ein Bad und ein Bett anbietet. Sie sieht aus wie meine Schwester. Ihr Vater, der sie begleitet, bringt mich mit seiner Begeisterung für meine Reise zum Lachen.

Als wir schließlich bei Annabel zu Hause eintreffen, nehme ich ein Bad, während sie kocht. Annabel hat Hausschuhe und eine Gesichtsmaske für mich herausgelegt. Während ich in der Wanne liege, höre ich unten in der Küche Schnippelgeräusche und das Klappern der Töpfe, während durch das Fenster die Geräusche des scheidenden Tages dringen – das Zwitschern der Vögel, das Klicken von Wäscheklammern, der schneller werdende Puls eines davonhüpfenden Basketballs, der noch ein paarmal auf dem Boden aufprallt, ehe er zum Stillstand kommt. Alles Geräusche, wie ich sie von zu Hause, aus meiner Kindheit, kenne. Ich tauche mit dem Kopf unter und klappere mit der Stöpselkette, um mich daran zu erinnern, wie es klang, wenn sich unser Garagentor schloss.

Als ich fertig bin, gehe ich hinunter zu Annabel, um sie nach den Fotos zu fragen, die im Badezimmer an den Wänden hängen und die aussehen wie ein Ort in Ghana, wo ich einmal gewesen bin. Wie sich herausstellt, war sie ebenfalls dort, nur ein paar Monate vor mir. Wir unterhalten uns darüber, was für ein witziger Zufall das doch ist, und ich muss an das Buch denken, das ich damals las: Anna Karenina. Genauer gesagt wurde es mir vorgelesen. John, den ich bei der Zeitung kennengelernt hatte, wo wir beide ein Volontariat absolvierten, las mir während einer langen Busfahrt daraus vor. Als die Sonne langsam am Fenster hinunterrutschte, hörte er auf und wir schauten uns gemeinsam den Sonnenuntergang an. Später hielt der Bus ein paar Stunden, damit sich der Fahrer ausruhen konnte. Ich lieh mir Johns Buch, legte mich draußen hin, wobei ich meinen Kopf gegen eines der riesigen Busräder lehnte und das Buch als Kissen benutzte, und machte die Augen zu.

Ich habe Anna Karenina damals geliebt und liebe es noch immer. Ich habe auch alle anderen Bücher von Tolstoi gelesen, dann Dostojewski und Gogol und schließlich Tschechow, Puschkin und eine Penguin-Ausgabe mit sowjetischen Kurzgeschichten. Später an der Uni wählte ich Module über russische Literatur, damit ich noch mehr lesen und darüber schreiben konnte. Als ich schließlich die Zeit fand, Anna Karenina noch einmal zu lesen, nachdem ich bei Annabel gewesen war, gefiel es mir immer noch genauso gut wie beim ersten Mal und mir fielen immer neue Dinge auf, über die ich nachdachte. Wo waren ihre Eltern? Was für eine Kindheit hatte sie? Tolstoi lässt all das aus. Als der Leser sie kennenlernt, ist sie bereits eine vollständig herangereifte Persönlichkeit, genau wie alle anderen. Diese Tatsache fasziniert mich, da es mir mit Annabel und all den anderen Leuten, die ich während dieser sechs Monate treffe, ebenso ergeht. Es gibt keinen Kontext, keine Vergangenheit, kein jüngeres Ich, keine Erinnerungen, die lange Schatten werfen wie die untergehende Sonne an einem Spätnachmittag.

Außer in einem Fall.

An meinem vorletzten Tag bei den Hatton-Schleusen geht bei British Waterways eine Beschwerde ein, dass ich noch immer im Becken zwischen zwei Schleusen liege, was nicht erlaubt ist. Daraufhin schicken sie einen jungen Mann mit rotblondem Haar und rosigen Wangen, der mir mitteilt, ich müsse weiterziehen. Als er an die Luke klopft und nach mir ruft, kommt er mir irgendwie bekannt vor. »Murray; wir sind zusammen zur Schule gegangen«, hilft er mir weiter, woraufhin wir beide zu kichern anfangen und uns die Namen all der Leute ins Gedächtnis rufen, die wir beide von früher kennen. Und so geht am Ende alles gut aus, nur dass ich keine Milch habe, um ihm einen Tee anzubieten.

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