Читать книгу Mein wunderbares Bücherboot - Sarah Henshaw - Страница 14
6. Exkurs
ОглавлениеIch bin hoffnungsfroh, dass ich noch vor dem Herbst das Kanalkreuz Fradley erreiche, was mir am selben Morgen gelingt. Das ist eine riesige Überraschung. Allerdings weniger für meinen Vater, der bis zum Mittag mitgekommen ist, alle Schleusen abgefertigt hat und insgesamt ein besseres geografisches Verständnis besitzt als ich. Nachdem wir diesen kleinen Meilenstein geschafft haben (eine Fahrt von fünf Meilen, um genau zu sein), fühle ich mich wagemutig genug, um mit dem Finger eine zweideutige Acht in die Luft zu zeichnen, als mich die erste Kundin fragt, wohin mich meine Reise die nächsten sechs Monate führen wird. Die Frau heißt Helen Tidy.
Helen und ihr Mann Andrew sind echte Wasserstraßen-Gurus. Ihr Boot, die Wand’ring Bark, beherbergt nicht nur ihr Wildbeermarmeladen-Geschäft, sondern ist auch Inspirationsquell für Andrews Kanalboot-Blog. Außerdem ist der Name des Boots ein Zitat aus dem einzigen Shakespeare-Sonett, das ich auswendig kann – und das nur, weil Greg Wise es in Sinn und Sinnlichkeit (ein Film, den ich in meiner Jugend zu oft geschaut habe) Kate Winslet so herzzerreißend vorträgt. Das Gedicht handelt von der Beständigkeit wahrer Liebe. Mehr noch – es beschreibt, wie Liebe einem helfen kann, den richtigen Weg im Leben einzuschlagen.
Dieser ersten Kundin bringe ich jedenfalls viel Liebe entgegen. Sie tauscht mit mir Bücher gegen einen selbst gebackenen Wildblumen-Sirupkuchen und sieht großzügig über meine nautische Naivität hinweg (ich bin auf dem falschen Kanal unterwegs, nachdem ich die Abzweigung nach Birmingham verpasst habe). Insofern bin ich offen für ihre Vorschläge. Als sie mir verrät, dass sie auf dem Weg nach Stratford-upon-Avon ist, beschließe ich, Stratford zu meiner ersten Anlaufstation zu machen. Dass es bis dahin 65 Schleusen zu überwinden gilt, kümmert mich wenig. Bislang musste ich das noch nie allein bewältigen. Ich schalte in den Rückwärtsgang, stelle fest, dass rückwärts zu steuern unmöglich ist, knalle in ein Schleppboot der Kanalaufsichtsbehörde British Waterways und zitiere zwei weitere unsterbliche Worte aus besagtem Sonett 116: »O nein!«
Ein Problem an dieser meiner Geschichte ist, dass es nicht mehr Figuren wie Helen oder Ted darin gibt. Figuren, die zuverlässig auftauchen, die der Leser im Lauf der Handlung besser kennenlernt. Helen, beziehungsweise ihren Mann Andrew, werde ich insgesamt noch dreimal sehen. Ted taucht noch einmal gegen Ende des Buches auf, als er stirbt. Das soll keinesfalls ein Spoiler sein. Wenn ich euch das im letzten Kapitel erzählt hätte, wäre das ein Spoiler gewesen. Diese Geschichte handelt von einer Reise, auf der ich Bücher gegen Essen, gegen Badbenutzung oder gegen ein Bett tausche. Insofern handelt es sich um eine Reihe äußerst kurzer, ziemlich intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen mit Leuten, die ich danach nie wiedersehe. Quasi eine Art überlanges Taylor-Swift-Album.
Bei dem Buch, das ich momentan lese, handelt es sich ebenfalls um die Memoiren einer Buchhändlerin. Die Autorin beginnt sogleich mit einem Haftungsausschluss: »Um die Privatsphäre der hierin vorkommenden Personen zu schützen, wurden die Namen und Geschehnisse verändert, mehrere Figuren in eine zusammengefasst und die Vorfälle verdichtet dargestellt.« Das Problem ist nur, meistens erinnere ich mich nicht an die Namen von Leuten. Oder an alle Episoden, die ich erlebt habe. Was zur Folge hat, dass ich diejenigen, an die ich mich erinnere, gern ausschmücke und stolz die echten Namen der darin vorkommenden Leute verwende, so ich sie denn noch weiß. Figuren zusammenfassen klingt zwar nach einer cleveren Idee, übersteigt aber ein wenig meine Erzählkunst. Wenn es euch nichts ausmacht – mal davon abgesehen, dass ich sowieso nur wenige Figuren im Angebot habe –, werde ich alle Personen separat behandeln.
Damit bleiben uns nur zwei Hauptfiguren – eine tumbe Buchhändlerin und ein tumbes Boot. Das Wort »tumb« bezeichnet in beiden Fällen jeweils etwas Unterschiedliches. In Bezug auf das Boot beschreibt es, in seiner ursprünglichen Bedeutung von »stumm«, lediglich seine Unfähigkeit, sich mitzuteilen, und nicht etwa seine dürftige Intelligenz. Ich halte große Stücke auf Josephs Intelligenz. Was die Buchhändlerin betrifft, so sieht die Sache schon anders aus.
Wie ich Joseph gefunden habe, gleicht einer modernen Liebesgeschichte. Wir haben uns online kennengelernt. In der Google-Suche, genauer gesagt. Ich hatte »Narrowboat kaufen« eingegeben und ein Bild von Joseph entdeckt, der damals noch in Warwick lebte, wo er ganz in Schwarz am Ufer des Grand-Union-Kanals vertäut lag. Dieser französische Existentialisten-Look sprach mich total an. Nach einem regen E-Mail-Wechsel vereinbarten wir ein Treffen. Und so kam es, dass ich ihm Ende 2009 das erste Mal begegnete. Wie so oft beim Onlinedating entsprach sein Erscheinungsbild nicht ganz seinem Profilfoto. Joseph hatte Pappkarton-Scheuklappen auf seinen Bugfenstern und war oberhalb der Wasserlinie mit Rostmasern übersät. Frost überzog den dreibeinigen Grill, der vollkommen deplatziert vor dem Vordereingang stand. Die schwarze Lippe über seinem Dach fühlte sich jedoch warm an und es war, als hätte die blasse Sonne genau wie ich ihre Finger nach ihm ausgestreckt, da seine Flanken von fahlen Lichtstreifen überzogen waren. Ich wollte nie wieder loslassen. Joseph kostete 25.000 Pfund und allein diese Summe ließ mich erneut frösteln, da ich keine Ahnung hatte, wie ich so viel Geld auftreiben sollte.
Wer weiß, welchen ersten Eindruck Joseph von mir hatte. Er spricht nie darüber. Aber ich kann euch erzählen, wie sich unsere Liebesgeschichte zum aktuellen Zeitpunkt nach außen hin darstellt. Ich bin 27 Jahre alt und meine Haare sehen noch annehmbar aus (dies ist Tag eins meiner Wasserwalz). Meine Aufmachung könnte man allerdings höchstens wohlwollend mit einem Peter-Pan-Kostüm vergleichen, bestehend aus schwarzen Leggings, Bootsstiefeln und straff zurückgebundenen Haaren. Für Tage, an denen ich mich »chic machen« will, habe ich eine Jeans mit elastischem Hosenbund. Das heißt nicht, dass ich nicht auch eine etwas femininere Aussteuer in meine neue Beziehung mitgebracht hätte. Es ist nur so, dass die Kanäle wenig Gelegenheit bieten, Hotpants und Neckholder-Bikinis zu tragen, ohne dass jemand dumme Kommentare macht.
Einmal, gegen Ende meiner Reise, traf ich in Newark meinen Freund Graeme zum Mittag. Den Abend zuvor war es spät geworden und ich hatte früh aus den Federn gemusst, sodass ich meine Leggings einfach im Bett angelassen und meinen seidenen Schlafanzug drübergezogen hatte. Am Morgen sah es kurzzeitig nach Regen aus, sodass ich eine wasserdichte blaue Hose, Kniestrümpfe und meine Stiefel über beides gezogen hatte. Über die Strümpfe und Stiefel hatte ich Supermarktplastiktüten gezogen und an den Griffen verknotet, weil ich es leid war, dass der Regen immer wieder durch irgendeinen Spalt hineinsuppte und ich feuchte Füße bekam. Darüber trug ich ein graues T-Shirt mit Yaks und der Aufschrift »Yak, Yak, Yak, Yak, Yak Tibet« darauf. Über dem T-Shirt trug ich außerdem noch vier Kapuzenpullis, einen Dufflecoat und, etwas ungewöhnlich, eine Rettungsweste. Aus Gründen, die ich später noch erläutern werde, war ich nur zwölf Stunden zuvor dem Tod äußerst nahe gewesen und daher nun ein großer Fan der Schwimmhilfe. »Sarah«, sagte Graeme, als er mir dabei zusah, wie ich die diversen Kapuzen herunterzog und meinen fettigen Pferdeschwanz freilegte. »Ich habe dich in den letzten paar Monaten in nicht wenigen seltsamen und unvorteilhaften Outfits gesehen und ich habe nie etwas dazu gesagt, um dich nicht zu verletzen. Aber das …« Er deutete mit der Hand traurig auf meine Gestalt. »Das ist ein neuer Tiefpunkt.«
Aber ich schweife ab. Wir waren eigentlich auf dem Weg nach Stratford-upon-Avon …