Читать книгу Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski - Страница 16

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Samstag, 29.06.2019, 11: 30 Uhr

- Helena -

Helenas Augen fliegen über das Blatt Papier, das sie in ihren Händen hält. Sie blättert um und verschlingt die nächsten Zeilen, hat Angst, etwas verpasst zu haben und blättert deshalb noch einmal zurück. Wieder liest sie die erste Seite, dann die Zweite; immer hin und her, bis sie schließlich am Ende angelangt. Sie legt alle acht Seiten fein säuberlich aufeinander und wäre am liebsten alles noch einmal von vorne durchgegangen, doch das wird sie in den nächsten Stunden sowieso tun müssen – wenn sie es richtig verstanden hat.

„Helena…“, drängt Oliver von hinten. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft liegt. Auch die anderen warten gespannt darauf, was sie zu erzählen hat. Helena holt tief Luft. Sie rutscht an die Kante der Matratze und richtet sich auf, streckt ihren Rücken und räuspert sich.

„Es ist ein Manuskript.“

Ihre Stimme klingt rau und kratzig, sie muss husten. Es dauert einen kurzen Moment, bis sich der Hustenanfall wieder gelegt hat und sie einen klaren Gedanken fassen kann. Niemand sagt etwas, niemand stellt eine Frage, doch die Fragezeichen zeichnen sich über jedem anwesenden Kopf klar ab. Helena hätte es gerne erklärt, doch sie weiß selbst nicht mehr als das, was nun aus ihrem Mund kommt.

„Es ist eine Geschichte… eine Art Monolog… oder ein Dialog mit sich selbst… ein innerer Dialog. Gibt es das überhaupt?“

Der Anfang ist holprig, doch dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie beginnt zu erzählen: „Es geht um ein Mädchen, Mia.“

Irgendjemand atmet hörbar ein und hält schließlich den Atem an.

„Mia ist vierundzwanzig Jahre alt, so alt wie ich.“

Es herrscht Stille im Raum. Helena fährt fort: „Sie kommt gerade von einer Geburtstagsparty, hat ein bisschen über den Durst getrunken, ist aber noch bei relativ klarem Verstand. Es ist kurz nach Mitternacht und die Feier noch in vollem Gange, aber Mia hat keine Lust mehr, weil sie gerade ihre beste Freundin dabei erwischt hat, wie sie den Jungen geküsst hat, den Mia absolut vergöttert.“

„Autsch.“

„Mia läuft ein bisschen durch die Gegend, um einen klaren Kopf zu bekommen. Eigentlich möchte sie noch nicht nach Hause gehen, aber zurück zur Party ist für sie auch keine Option. Deshalb steigt sie kurzerhand über die frisch gestutzte, nur noch kniehohe Hecke, tritt dabei ein paar Blümchen kaputt, und durchquert die Einfahrt, bis sie schließlich auf der ruhigen, kaum befahrenen Straße im familienfreundlichen Wohngebiet steht. Mia läuft immer weiter, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Abstände zwischen den Straßenlaternen werden allmählich größer, der Lichtschein immer fahler. Mia spielt gerade mit dem Gedanken, wieder umzukehren, als sie plötzlich vor einem alten, mittlerweile verlassenen Fabrikgebäude steht, das sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Dort haben sie und ihre Geschwister mit den Nachbarskindern immer Räuber und Gendarm gespielt. Die verwilderte Grünfläche, unbenutzte Container und reihenweise Autowracks eigneten sich wunderbar für Fang- und Versteckspiele. Mia klettert durch das Loch im Zaun, das sie ebenfalls noch von früher kennt, und erkundet das stillgelegte Gelände. Auf der Hinterseite entdeckt sie eine Treppe, die in den ersten Stock des Rohbaus führt – Fenster, Türen, alles ist längst durch Natur oder Menschenhand zerstört worden. Sie klettert ein Stockwerk höher, doch noch weiter nach oben traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Sie genießt die angenehme Kühle der Abendbrise, die hier oben durch das stehengebliebene Mauerwerk zieht, trinkt den letzten Schluck Radler aus der Flasche, die sie seit einiger Zeit mit sich herumträgt, und schüttelt sich, denn das Getränk ist mittlerweile warm und ungenießbar. Es klirrt, als sie die Flasche neben sich auf dem rauen Betonboden abstellt. Mias Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde. Mia weiß, dass das alte Fabrikgebäude hätte erneuert werden sollen, allerdings war das schon mindestens zehn Jahre her; wenn nicht sogar noch länger. Zeitweise hatten sogar Bauarbeiten stattgefunden, die allerdings immer wieder auf Eis gelegt wurden. Von Beschwerden der Anwohner wegen unzumutbarer Lärmbelästigung über finanzielle Knappheit oder sogar Bankrott, bis hin zu potentiellen Bombenüberresten aus dem Zweiten Weltkrieg wurden im Ort alle möglichen Spekulationen verbreitet.“

„Wie das in einem kleinen Örtchen eben so ist“, fügt Manni schmunzelnd hinzu. Helena ist nicht die einzige, die ihn fragend ansieht. „Ich kenne das Fabrikgebäude, vielleicht hätte ich das noch erwähnen sollen; also, zumindest glaube ich das. Die verwilderte Wiese, die Autowracks, die Container, das teilweise abgerissene Gebäude… die Fabrik steht heute noch zwischen Greetsiel und Akkens. Und die Spekulationen über den Grund der andauernden Wechsel zwischen Arbeit und Baustopp kommen mir auch sehr bekannt vor. Hier wird eben viel geredet, wenn der Tag lang ist und wenn interessante Dinge passieren, die jenseits der gewohnten Tagesordnung liegen.“

Manni zwinkert. „Als Reisegruppenbegleiter bekommt man an jeder Ecke den neuesten Klatsch und Tratsch der Einwohner mit.“

„Du bist Stadtführer?“

„Von Greetsiel bis Pilsum.“

Manni nickt stolz. „Ich kenne jeden Winkel, jeden Grashalm und jedes Möwennest hier in der Umgebung.“

Seine Augen leuchten, während er von seiner Arbeit erzählt.

Leidenschaft, denkt Helena traurig, denn im Gegensatz zu ihm führt sie ihren Beruf nur aus, weil der Notendurchschnitt vom Abitur nicht für ein Jurastudium gereicht hat.

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht unterbrechen.“

Helena winkt ab. Sie räuspert sich und beginnt dann endlich weiterzuerzählen.

„Mia sitzt also auf dem Mauervorsprung, als von unten plötzlich eine bekannte Stimme ertönt. Sie schaut hinunter und entdeckt die Silhouette eines jungen Mannes. Es ist zwar eine vergleichsweise helle Sommernacht, aber dennoch zu dunkel, um erkennen zu können, wer ihr bis hierhin gefolgt ist. Mia ruft zurück, eine Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Es ist Marius, ein Junge, mit dem sie damals die Grundschule besucht hat. Mia hat ihn ewig nicht mehr gesehen und freut sich auf eine nette Unterhaltung. Sie bittet ihn, nicht wegzulaufen, und sagt, dass sie sofort hinunter käme.“

Helena stockt mitten in der Erzählung. Bisher fiel es ihr unglaublich leicht, den Inhalt des Manuskriptes sehr detailgetreu wiederzugeben, doch nun fehlen ihr plötzlich die Worte. Sie nimmt die vier voller Spannung auf sie gerichteten Augenpaare wahr und schluckt. Niemand fordert sie auf, weiterzusprechen, doch die Neugier steht jedem einzelnen ins Gesicht geschrieben.

Verständlich, denkt Helena, doch irgendetwas hindert sie daran, weiterzusprechen. Sie holt tief Luft, umklammert das Papier mit zittrigen Fingern und gibt sich einen Ruck. Mit nur einem Satz ist der Rest gesagt: „Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers, Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot.“

Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.

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