Читать книгу Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski - Страница 25
ОглавлениеSonntag, 30.06.2019, 08: 55 Uhr
- Oliver -
„Was bedeutet das?“, fragt Sabrina, die den Zettel als Letzte zu Gesicht bekommen hat.
„Das, was dort steht“, entgegnet Helena giftig. „Das und nichts anderes.“
Sie reagiert immer so, wenn sie unsicher ist. Das ist Helenas Art, mit Stress und Angst umzugehen. Oliver selbst versinkt in solchen Situationen immer komplett in Gedanken und kann alles um sich herum ausblenden. Sabrina wird hysterisch und Julius ist schwer einzuschätzen. Im Gegensatz zu Oliver redet er ständig wie ein Wasserfall und gibt, egal ob zur Situation passend oder nicht, schlaue Ratschläge. Oliver hat eine gute Menschenkenntnis, doch aus Helena wird er nicht schlau. Mal ist sie stumm wie ein Fisch und völlig in Gedanken versunken, mal scheint es, als könne man in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Mal schirmt sie sich komplett von den anderen ab und scheint ein emotionaler Eisklotz zu sein, mal erleidet sie einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und bricht in regelmäßigen Abständen in Tränen aus. In diesen Momenten ist Oliver froh, dass sich noch eine andere Frau im Raum befindet, die jegliches weibliches Klischee erfüllt und Helena mit ihrem Einfühlungsvermögen so schnell wieder beruhigen kann, dass Oliver jedes Mal aufs Neue verblüfft ist. Zwar kennt er Sabrinas Einparkkünste noch nicht, aber in allen anderen Punkten ist sie das Vorzeigemodell des gesellschaftlich geprägten Bildes einer jungen, modernen Frau.
Was völliger Schwachsinn ist, denkt Oliver und schaut an sich hinunter. Seine Größe könnte ihm locker einen Platz im NBA-Team der Houston Rockets verschaffen, seine Leidenschaft für Basketball ebenfalls. Allerdings erinnert sein Körperbau trotz hartem Training eher an einen Zwölfjährigen als an Michael Jordan und mit seinen dünnen, langen Stelzen könnte er den Models bei Germanys Next Topmodel sicher Konkurrenz machen.
Paradebeispiel, denkt Oliver, doch er hat längst aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wer ein Mann ist, ist ein Mann. Wer sich so fühlt, ist es auch; sei es der muskulöse Trainer aus dem Fitnessstudio, der beinahe die Zweimetermarke knackt, oder die halb so große Tochter vom Bürgermeister, die sich von ihrem nagelneuen Kurzhaarschnitt und dem oversized Kapuzenpullover verspricht, endlich männlicher zu wirken. Oliver ist schon wieder so in seine Gedankenwelt abgedriftet, dass er gar nicht mitbekommt, wie sich das Gespräch der anderen immer weiter hochschaukelt. Mittlerweile sind sie bei den kreativsten Spekulationen angekommen, wie es mit ihnen nun weitergehen könnte, und wenn Oliver ehrlich ist, wäre er am liebsten wieder in seine Gedankenwelt abgetaucht, denn die Wörter, die er innerhalb kürzester Zeit aufgeschnappt hat, laden nicht gerade dazu ein, am Gespräch teilzunehmen und die Horrorszenarien weiter auszuschmücken.
„Wie wär’s, wenn ihr mal einen Gang runterschaltet?“
Julius schaut ihn verständnislos an. Er hat sich so in Rage geredet, dass sein Kopf hoch rot ist und seine Ohrenspitzen glühen.
„Aber-“
„Nix, aber“, fällt Oliver ihm ins Wort und baut sich vor dem sechs Jahre jüngeren Julius auf. Er stemmt die Hände in die Hüften und schaut ihm von oben herab ins Gesicht. „Ich habe langsam genug davon. Ich weiß weder, wo wir hier sind, noch, warum wir hier sind, oder wie wir hierherkamen. Alles, was ich weiß, ist, dass wir jetzt verdammt nochmal zusammenhalten müssen und uns nicht gegenseitig hochschaukeln dürfen! Niemand von uns hat eine Ahnung, wie wir hier rauskommen können, aber solange müssen wir uns eben zusammenreißen und das Beste daraus machen. Mit Panik ist niemandem geholfen. Streng‘ deine grauen Zellen an und denk‘ verdammt nochmal darüber nach, was vor ein paar Tagen war, kurz bevor du hierher verfrachtet wurdest. Wenn du mehr weißt, melde dich; ansonsten ist jetzt erst mal Ruhe im Karton. Basta!“
„Und du?“
„Was, und ich?“
„Wie wär’s, wenn du auch mal darüber nachdenkst?“
Julius hätte nichts sagen müssen; allein sein von Natur aus provozierender Gesichtsausdruck hätte ausgereicht, um auch den letzten Geduldsfaden in Oliver zum Reißen zu bringen.
„Was denkst du, was ich seit Tagen mache?! Ich denke beim Frühstück, ich denke beim Duschen, auf dem Klo und sogar nachts denke ich in meinen Träumen!“
Oliver beendet seinen Satz mit einem verächtlichen Schnauben. „Aber was muss ich dir schon darüber erzählen? Wahrscheinlich bezahlt dein reicher Zahnarzt-Papi sowieso bald dafür, dass sie dich gehen lassen, und du kannst zu Hause in deinem Zimmer ganz in Ruhe weiter deine fünfzehn Golfschläger polieren.“
Julius setzt empört zum Kontern an, doch als Oliver mit einer eindeutigen Geste abwinkt, verstummt er augenblicklich.
Na, geht doch, denkt Oliver und kann sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. Anscheinend hat der Kleine doch ein wenig Respekt vor ihm.