Читать книгу Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski - Страница 34

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Sonntag, 30.06.2019, 22: 14 Uhr

- Helena -

Es ist dunkel. Diesen Bereich des Geländes erreicht der Baustellenstrahler nicht. Zu viel wildes Gebüsch und Geäst schirmen das Licht ab.

„Mia?“

Sie hört eine Stimme, weit weg. Plötzlich wird es hell. Das grelle Licht einer Taschenlampe leuchtet ihr in die Augen und sie hält ihren Arm schützend über das Gesicht.

„Mia, steh‘ auf!“

Helena antwortet nicht, doch in ihrem Kopf rattern die Gedanken.

„Mist!“

Der erschrockene Ausruf und die schreckgeweiteten Augen des maskierten Unbekannten lassen sie von jetzt auf gleich hellwach werden. Mit dem Schlimmsten rechnend fasst an ihren Kopf, aber es fühlt sich alles ganz normal an. Ihre Haare zu einem Zopf zusammengebunden, nichts klebt, kein Blut, keine Platzwunde.

„Warum bist du nicht noch einen Stock höher gegangen? Du hättest noch eine Etage höher gehen müssen!“

„Damit ich sterbe, oder was?!“

Sie ist mindestens genauso wütend wie froh, noch am Leben zu sein. Vielleicht ist sie im Moment sogar noch ein bisschen mehr wütend, doch der Maskierte geht überhaupt nicht auf sie ein, er scheint gerade in seinem eigenen Film zu leben und fuchtelt mit beiden Armen wild vor ihrem Kopf herum.

„Kein Wunder, dass es nicht funktioniert hat! Wir verschwenden wertvolle Zeit! Ich kann nicht noch auf einen dritten Anlauf warten.“

Auf einen dritten Anlauf?

Gerade möchte Helena ihn auf den Fehler in seinen Zählkünsten hinweisen, als sie aus den Augenwinkeln sieht, woher der Ausdruck des dritten Versuches rührt. Eine zerschlissene und verdreckte Leinenhose, aus der ein brauner Lederschuh hervorschaut. Der andere liegt unweit entfernt neben einem Steinbrocken. Obwohl sie es nicht möchte, wandert ihr Blick weiter zu dem hellen Poloshirt, darüber dunkelbraune Haare, die an einem Fleck zu einem großen schwarzroten Büschel zusammengeklebt sind. Wäre Helenas letzte Mahlzeit nicht schon so lange her gewesen, wäre das nun der Moment, in dem sie sich übergeben müsste. Gnadenlos vor Mannis leblose Füße.

„Manni…“, flüstert sie, nachdem sie den unnatürlich verdrehten Körper mindestens fünf lange Minuten lang nicht aus den Augen gelassen hat, als wollte sie wirklich sicher gehen, dass er tot ist. „Manni, bist du es?“

Ein verächtliches Lachen.

„Der lebt nicht mehr.“

Plötzlich kocht all die Wut in Helena erneut auf, noch heftiger als zuvor.

„Was fällt Ihnen ein, Sie… Sie mieses Schwein!“

Sie drückt sich vom Boden ab und klammert sich an einen umgefallenen Baumstamm. Ein stechender Schmerz, wie ihn Helena erst einmal in ihrem Leben gespürt hat, durchfährt ihr rechtes Bein. Das war in der zweiten Klasse beim Weitsprung, als sie sich beim falschen Aufkommen in der Sandkiste die Bänder gerissen hat.

„Scheiße“, entfährt es ihr. Tränen treten in ihre Augen. Sofort fällt Helena wieder rücklings auf die nasse Erde und wischt sich die Tränen mit dem dreckigen Ärmel aus dem Gesicht. „Was sollte das?“

„Was sollte was?“

„Mein Bein, der Sprung, das alles hier!“

Der Unbekannte hebt die Schultern und zieht eine desinteressierte Grimasse.

„Hätte es wenigstens funktioniert.“

„Was? Was verdammt nochmal hätte funktionieren sollen? Ich habe alles so gemacht wie es im Skript stand! Lassen Sie mich gefälligst gehen!“

„Mit dem Bein?“

„Welch ein Humor.“

Helena spuckt die Worte aus, als seien sie Gift. „Dann rufen Sie einen Krankenwagen, aber fassen Sie mich verdammt nochmal nicht an.“

„Mia, Mia“, er schüttelt den Kopf, als wolle er ihre vulgäre Ausdrucksweise tadeln. „Du bist noch lange nicht fertig.“

Sie schaut ihn fragend an.

„Hast du das Skript nicht gelesen?“

„Doch.“

Tränen rollen ihre Wangen hinunter. Sie schluchzt. In diesem Moment hätte sie am liebsten ihre Eltern bei sich gehabt. Ihre Mama, die sie tröstet und beruhigt, und ihren Papa, der diesem Psychopathen eine reinhaut – wohin ist ihr egal, Hauptsache es tut richtig weh.

„Kapitel sieben, Seite drei.“

„Die Seiten angeben kann ich nicht, nur den Text.“

Sie schnieft.

„Ich zitiere: Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Setze fort.“

„Sie ist auf der Stelle tot“, flüstert Helena kaum hörbar.

„Applaus.“

Er nickt zufrieden. „Jetzt ist es an der Zeit für dich, die Regieanweisung umzusetzen, aber dieses Mal richtig. Du bist geeignet, Mia, am besten dafür geeignet.“

Woher will er das wissen?

„Es ist eine Überprüfung. Das Skript muss stimmen. Andere sind unbrauchbar, aber du bist geeignet Mia, du bist geeignet!“

Unbrauchbar, in diesem Moment fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.

„Manni“, flüstert sie vorsichtig, mit einem Blick auf den leblosen Körper, der dort halb im Dreck, halb im Gebüsch liegt.

„Manni hat es versucht, nur war er leider unbrauchbar, Mia.“

„Heißt das…“

„Wärst du gleich beim ersten Mal für deine Rolle eingestanden, hätte Manni nicht umsonst sterben müssen.“

Diese Worte treffen Helena wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Wunder, dass sie nicht zurückfedert und mit dem Kopf gegen die kaputte Hauswand kracht. Bum.

„Ich…“

„Du hättest es verhindern können.“

Helenas Gedanken fahren Karussell. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggerannt; egal wohin, einfach weg.

„Ich bin für seinen Tod verantwortlich.“

Mörderin. Das Wort tanzt in roten Buchstaben vor ihrem inneren Auge hin und her. Ich habe ihn umgebracht.

„Nein, habe ich nicht!“

Die Tränen sind mittlerweile zu Sturzbächen geworden. Helena rappelt sich auf und beißt die Zähne zusammen. Das Bein tut höllisch weh, doch die psychischen Schmerzen stellen es in den Hintergrund.

„Bringen wir es hinter uns.“

Ein zufriedenes Grunzen seinerseits – Helena ist sich sicher, dass er vor lauter Triumph und Überlegenheit selig lächelt – Resignation ihrerseits. Das Sprichwort „schlimmer geht immer“ kommt hier an seine Grenze. Helena hat aufgegeben.

Das ist das Ende, aber ich habe es verdient. Ein Tag früher und Manni wäre wenigstens noch am Leben.

Seufzend, weinend und vor Schmerz wimmernd schleppt sie sich noch einmal die Treppenstufen hinauf. Der Weg kommt ihr endlos vor, die Abstände zwischen den Stufen viel breiter und höher als vorhin. Oben angekommen atmet sie noch einmal tief durch. Ihr Bein pocht, ihre Lungen schmerzen. Wie lange hat sie schon nichts mehr getrunken? Helena schleppt sich die letzten Meter bis zur Kante. Was passiert wohl, wenn sie auch diesen Versuch überlebt? Darüber wird sie sich Gedanken machen, wenn es soweit ist. Sie setzt sich selbst ein Ziel: Dieses Mal soll es schnell gehen. Je länger sie zögert, desto schlimmer wird es. Helena denkt über die Worte des Unbekannten nach.

Geeignet.

Sie tritt nach vorne, sieht den Abgrund. Es ist viel höher.

Überprüfung.

Sie schließt die Augen und springt.

Fehlgeschlagen.

Der Aufprall. Gebrochene Knochen, Kribbeln.

Unbrauchbar.

Ein nicht aufhörendes Echo in ihrem Kopf.

Helena schaut an sich hinunter, tippt auf ihre Beine, spürt nichts. Taub, aber immerhin sind die Schmerzen weg.

Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.

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