Читать книгу Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski - Страница 36
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- Helena -
Helena schwimmt auf dem offenen Meer, rundherum nichts außer minimalem Wellengang, hin und wieder eine einsam vor sich hin dümpelnde Schiffsboje, und die unendliche Weite des Himmels. Sie schwimmt immer weiter hinaus, hat längst die Orientierung verloren. Sie sucht nicht nach einer Insel, nicht nach einem Boot, nicht nach einem rettenden Stück Treibholz, an das sie sich klammern könnte. Helena schwimmt einfach weiter, immer weiter, schon seit Stunden, und spürt noch immer keine Erschöpfung. Plötzlich werden die Wellen stärker, sie schwappen ihr entgegen. Helena verschluckt eine große Menge Meerwasser und muss husten. In weiter Ferne sieht sie etwas auf sich zu schwimmen; erst kleiner, dann immer größer. Als es nicht mehr weit von ihr entfernt ist, kann sie es ganz deutlich erkennen.
Ein Hai, schießt es ihr durch den Kopf. In bedrohlichen Schlangenlinien kommt die Flosse immer näher. Gleichzeitig wird Helenas Atem immer schneller. Sie betet in den wolkenlosen Himmel, dass das Tier sie nicht wahrnimmt und einfach an ihr vorbeischwimmt. In Biologie hat sie einmal eine Dokumentation zum Thema Räuber des Meeres gesehen… Gerade wünscht sie sich, sie hätte in dieser Unterrichtsstunde geschlafen und jetzt keine lebendigen Bilder vor Augen, was ein Hai mit einem Menschen anrichten kann. Plötzlich fallen ihr die Schrammen und Platzwunden ein, die sie von dem Sturz vom Fabrikgebäude davongetragen hat.
Blut.
Helena kann an nichts anderes denken.
Er wird mich schon von Weitem gerochen haben.
Sie ist seine Beute, ist ihm ausgeliefert wie eine Kuh dem Metzger. Plötzlich fühlt sie, wie etwas ihr Bein streift. Helena erstarrt. Die Haifischflosse ist nun genau neben ihr. Sie kann das helle grau in der Morgensonne glitzern sehen. Plötzlich fühlt sie einen Druck am Bein. Das Wasser um sie herum färbt sich rot. Erst als sie die Situation begriffen hat, durchfährt eine Welle von Schmerz ihren Körper.
„Helena! Helena, wach auf!“
Helena fährt zusammen. Sie blinzelt gegen die grelle Sonne. Ist sie noch im Wasser? Sie tastet mit der Hand nach etwas Festem, ihr Körper scheint an Land gespült worden zu sein.
„Leute, sie kommt zu sich!“
Eine aufgeregte Stimme, die Helena schon einmal gehört hat, aber nicht zuordnen kann.
„Wo bin ich?“, nuschelt sie, doch die Worte, die aus ihrem Mund kommen, fühlen sich so fremd an.
„Hier, du hast bestimmt Durst.“
Helena nickt und trinkt gierig ein paar Schlucke aus der Plastikflasche. Wasser läuft an ihrem Kinn hinunter und tropft auf Kissen, Decke, Matratze und ihre Kleidung.
„Wo bin ich?“, fragt sie noch einmal, obwohl langsam die Erinnerung zurückkommt. Eine Antwort ist nicht mehr nötig, doch sie möchte sie trotzdem hören. Oliver schweigt, Julius ebenso. Sabrina ist die erste, die einen anständigen Satz zustande bekommt.
„Du bist wieder hier bei uns. Erinnerst du dich?“
Helena schaut ungläubig um sich und muss feststellen, dass sich nichts geändert hat. Sie nickt. „Natürlich erinnere ich mich. Wie lange war ich weg?“
„Ungefähr fünf Stunden“, antwortet Oliver und setzt sich zu ihr auf die Matratze. „Als du hier ankamst, warst du völlig verstört und überhaupt nicht ansprechbar. In der einen Sekunde hast du wild um dich geschlagen, und in der anderen warst du völlig teilnahmslos und hingst wie ein nasser Sack in meinen Armen.“
Erst jetzt fällt ihr sein blau unterlaufenes Auge auf.
„Entschuldigung“, murmelt sie zerknirscht, doch Oliver winkt sofort ab.
„Das ist halb so wild, ich habe schon schlimmere Verletzungen überstanden.“
Helena grinst schief.
„Jedenfalls haben wir dich dann ins Bett gelegt, da war es gerade kurz nach zwei. Du hast im Schlaf geschrien, aber wir haben dich nicht wach bekommen.“
In Olivers Augen spiegelt sich plötzlich pure Besorgnis. „Helena, was ist in diesen fünf Stunden passiert?“
„Der Hai“, platzt es aus ihr heraus, noch bevor sie sich eine Antwort überlegen kann. Helena wirft die Decke zur Seite und atmet erleichtert auf. Ihr Bein ist übersät von Schrammen und blauen Flecken, aber von einem Haifischbiss keine Spur.
„Ein Hai?“, Oliver runzelt verwirrt die Stirn. „Hast du Schmerzmittel bekommen?“
„Ja! Nein! Ja! Ich meine nein!“
„Ganz ruhig.“
Er legt seine Hand auf ihr Bein und schaut ihr mit seinem durchdringenden Blick in die Augen. „Jetzt noch einmal ganz von vorne. Was ist passiert, nachdem du in den Aufzug gestiegen bist?“
Helena seufzt. Während sie erzählt, durchlebt sie in Gedanken noch einmal all die schlimmen Dinge, die ihr in den letzten zehn Stunden widerfahren sind. Nur der Hai findet keinen Platz. Als Helena fertig ist, blickt sie in drei offenstehende Münder.
„Der Hai war nur ein Traum“, schließt sie ihre Erzählung ab, um die unaushaltbare Stille zu füllen, „aber alles andere könnt ihr mir glauben.“